7. November 2013

KEYNOTE LECTURE: FIKTION

Beiratsmitglied Katharina Hacker hielt die Keynote Lecture über Fiktion und die Zukunft des Buches bei E:PUBLISH in Berlin. Der Kongress für neues Publizieren widmete sich den Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung für die Buchbranche. Das Manuskript zum Vortrag:

„Vermutlich wurde ich eingeladen, hierherzukommen, weil Sie ahnen oder fürchten oder hoffen, dass sich das Verhältnis von Autoren zu Verlegern durch das E-publishing ändert, und weil es vielleicht fruchtbar ist, über dieses Verhältnis nachzudenken. Offenkundig gehören Autoren ja zur Buchbranche dazu. Womöglich können wir Autoren aber auch etwas über die gegenwärtige Lage, die gegenwärtigen Sorgen der Buchbranche und deren Gründe sagen und mit Ihnen gemeinsam überlegen, wie sich die Veränderungen fruchtbar machen lassen, wenn man die Perspektiven von Autoren einbezieht.

Fiktion ist ein Versuch und ein Selbst-Versuch.

Für einen begrenzten Zeitraum werden, abseits ökonomischer Notwendigkeiten, Bücher in einem Autorenverlag sorgfältig publiziert und kostenlos digital angeboten.

Eine analoge Veröffentlichung kann danach je nach Wünschen und Möglichkeiten der Autoren und interessierter Verlage erfolgen.

Die Frage, die Fiktion leitet, ist, wie für schwierige, womöglich in diesem Augenblick als nicht marktgängig empfundene Literatur Leser gefunden werden können; dabei geht es zunächst nicht einmal um den ökonomischen Erfolg einer bestimmten Art von Literatur, sondern um die schiere Verbreitung der Texte.

Die Autoren, die Fiktion unterstützen, setzen sich von dem Aufruf „Wir sind die Urheber“ ab. Uns treibt nicht die Sorge, es könnten Inhalte im Netz kostenlos – an uns vorbei – verbreitet werden, sondern die, dass unsere Art des Schreibens und Nachdenkens marginalisiert wird, in Folge sowohl wirtschaftlich als auch kulturell derart abseitig erscheint, dass wir von unserer Arbeit nicht mehr leben können. über die eigenen Interessen hinaus haben wir den Verdacht, dass wir es vorziehen, in einer Gesellschaft zu leben, die behutsame, komplexe Werke und Vorgänge schätzt. In der fröhlichen Annahme, dass Sie, die Sie sich hier versammelt haben, das tun, möchte ich Ihnen ein paar Gedanken vortragen, die vielleicht als Hintergrund für die kommenden zwei Tage fruchtbar werden können. Kostenloser Zugang zu Texten kann als Ausverkauf und Verlust etablierter Strukturen verstanden werden oder als Möglichkeit, eine Leserschaft wiederzugewinnen, vielleicht überhaupt zu gewinnen. Diejenigen, die open access verteidigen, sehen sich oft mit dem Anwurf konfrontiert, sie arbeiteten der Zerstörung von bewährten Strukturen in die Hand, trügen Verantwortung, wenn Auswahl und Lektorat von Texten nicht länger von Verlagen gewährleistet werden könnten.

Nun ist nicht zweifelsfrei zu klären, bislang, wie sich der kostenlose Zugang zu digitalen Text auf dessen Verkauf als analoges Buch auswirkt. Ich plädiere hier für eines: überlegen Sie jeweils, wenn Sie sich äußern, ob das, was Sie äußern, eine Beschreibung ist oder normativ. Viele Diskussionen kranken daran, dass man zwischen Deskription und Desiderat oder Postulat nicht unterscheidet, dass sich Befürchtungen einschleichen im Gewand des Faktischen.

Wo sich Bestehendes auflöst oder aufzulösen scheint, sucht man oft Halt in Oppositionen, die vielleicht in die Irre führen. Erstickt eine digitale Textflut die Buchkultur? Gibt es eine Art Feindschaft zwischen dem Digitalen und dem Analogen? Arbeiten Autoren g e g e n Verlage, wenn sie andere als die üblichen Verträge wünschen, etwa die elektronischen Rechte behalten möchten und dafür plädieren, Texte kostenlos ins Netz zu setzen?

Eines möchte ich sehr klar sagen: Fiktion versteht sich als respektvolle Ergänzung traditioneller Verlage, als ein Projekt, das erlaubt, zu fragen, wie die Zusammenarbeit von Autoren und Verlagen bereichert werden könnte. Als eine Plattform, die Versuche erlaubt, die ökonomisch für herkömmliche Verlage zu riskant scheinen. Sie können sich vorstellen, dass ich als Autorin des S. Fischer Verlages keine Sekunde mich in Opposition zu meinem Verlag sehe, dessen Verlegerin ich über alles schätze, ohne dessen Lektoren mir die Arbeit mühselig würde: vor allem würde sie weniger gut.

Ich bin im Beirat von Fiktion, weil ich glaube, dass der Umgang mit Texten, die Möglichkeiten, die das Netz bietet, fruchtbar sein kann, wenn wir offener, vielleicht mit mehr Zuversicht und Witz darüber nachdenken; und in einem weiteren, nämlich gesellschaftlichen Zusammenhang.

Konventionelle Verlage waren immer ein Ort des Austauschs, des Ansporns, ein Ort, der changierte zwischen Exklusivität und Offenheit. Das Strukturelle daran, nämlich das Changieren, der einladende Gestus, der wiederum konterkariert wurde von strenger Auslese, das ist etwas, das meines Erachtens nicht einfach verzichtbar ist, allerdings vielleicht umgeformt werden muss.

Wir sind aufgewachsen mit einer klaren hierarchischen Ordnung, die uns bestimmen half, was Literatur, was wichtig sei. Nehmen wir als Repräsentanten dieser Struktur Siegfried Unseld und Marcel Reich-Ranicki.

Sie hatten nicht nur Urteilshoheit (natürlich mit anderen) zugeschrieben bekommen, sie verkörperten eine Gesellschaft und Geselligkeit, der anzugehören eine Ehre war. Es gab Zentren, um die sich sammelte (so schien es), wer Bedeutung hatte, wer talentiert war. Ungerecht wird das oft genug gewesen sein, Vorteile hatte es aber auch. Und zwar nicht im Sinne schierer Autorität, die das Leben leichter macht. Sondern als eine Konzentration, die gepaart war mit dem Wunsch, Leute zu versammeln, um sich gegenseitig zu schmücken. Ich meine das nicht polemisch, im Gegenteil. Anders formuliert bedeutet es: wechselseitig schafft man einander den Raum, in dem man geistreich, schön, witzig, komisch, tiefsinnig ist.

Unseld und Reich-Ranicki sind tot, es gibt die Kritiker nicht mehr, die für uns Leser sagen können, was wir lesen sollen. Es gibt den Verleger nicht mehr, der bestimmt, was einen herausragenden Platz nicht nur in der Buchwelt, sondern in der Gesellschaft hat, was diskutiert werden soll. Diese Strukturen der Auswahl und Verbreitung haben sich aufgelöst. Und zu dem Schwund an Hierarchie gehört: das Netz. Zunächst als Zuviel, als Durcheinander und: Gewäsch und Gewimmel, um Brigitte Kronauers jüngsten Titel zu zitieren.

Allerlei hat sich herausgeschält: wer Lyrik liest, kann gar nicht dankbar genug sein für die Möglichkeiten, die das Netz geschaffen hat. Lyrik erwähne ich aus drei Gründen. Erstens ist die Lyrik-Szene nicht nur in Deutschland gerade besonders lebendig, und das Niveau ist wunderbar. Womöglich profitiert die Lyrik von den Veränderungen? Sie scheint eine fruchtbarere Zeit zu haben als die Prosa. Zweitens haben sich im Netz, aber auch durch das Netz Gruppen gebildet, mehr als das, die Autoren tauschen sich untereinander und mit Lesern aus (ich finde es gleichgültig, ob im Netz oder im Café). Drittens steht Lyrik – meist zu Recht – für knapp formulierte und komplexe Texte, anders gesagt, für Konzentration und Komplexität.

Komplexität (oder über-Komplexität) soll – so sagt man – ein Merkmal des Netzes, unserer Gesellschaft, der globalisierten Welt sein.

Wir glauben nicht, dass man Komplexität auflösen oder beschwichtigen kann, zähmen vielleicht durch Reduktion, dadurch, dass man Knoten zerhaut. Wir glauben, dass Komplexität lebbar werden muss, denn es wird schwerlich eine Welt geben (wenn wir von Katastrophen verschont sind), die weniger komplex ist als die, in der wir leben. Wir glauben sogar, dass es eine Aufgabe von Literatur, von Kunst ist – man kann auch sagen: von Intellektuellen – aufzuzeigen, wie Komplexität eben nicht erschreckend und gefährdend, sondern im Gegenteil belebend sein kann.

Dabei nehmen wir an, dass sich auf freundlichem Fuß mit Komplexität (dem Einstürmen von Eindrücken, dem Zuviel an Bildern, dem Wirrwarr) leben lässt, durch Konzentration und Geselligkeit.

Die drei – Komplexität, Konzentration, Geselligkeit – sind die Figuren, die an die Stelle der verschwundenen Hierarchien treten sollten. Wo Formen der Hierarchie eine Struktur geschaffen haben, könnten nun Formen der Geselligkeit auftreten. Wenn nicht einige Wenige sanktionieren, was wir lesen und schreiben, muss sich auf andere Weise herausschälen, worüber Leute sprechen wollen – weil sie ein Interesse an Sprachen, Gedanken, vor allem aneinander haben, weil sie sonst genötigt werden, sich von einer Welt abzuwenden, die unbeherrschbar und beängstigend wirkt.

Vielleicht muss Teil der Geselligkeit sein, dass wir, Autoren, Verleger, Lektoren, Agenten, Buchhändler uns als Zeitgenossen und Intellektuelle und Gastgeber glanzvoll finden.

Zu den Gegensätzen, die ich anzweifeln möchte, gehört der Gegensatz zwischen Künstlichem und Natürlichem, gar zwischen Authentischem und Artifiziellem. Die verständnisvolle, dramatisierte Nachbildung des Lebens, wie es wirklich ist, gilt als vielversprechend auf dem Buchmarkt. Womöglich hat sie, da wir im Allgemeinen sensibel und anpassungsfähig sind, uns Autoren bewogen, andere Entwürfe, vielleicht kühnere, phantasievollere, gar nicht erst zu schreiben.

Ich glaube, wir Literaten setzen auf ein totes Pferd, wenn wir darauf setzen, dass die Literatur das Leben erweisen soll, dass die Literatur sich den Zauberformeln „realitätsgesättigt“, „lebensprall“, „sinnlich“ unterwerfen soll. Die Aufgabe der Literatur, glauben wir, liegt nicht im Leben, sondern in den Gedanken und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Wir wollen nicht ein Zuwenig an Leben durch unsere Literatur kompensieren. Wir glauben nicht an ein Zuwenig an Leben.

Doch beobachten wir, wie es uns selber und anderen zunehmend schwerfällt, auf etwas zu beharren, das uns glücklich macht: nämlich uns zu konzentrieren und uns über das, worauf wir uns konzentriert haben, mitzuteilen.

Ohne Zerstreuung oder das Frivole gering schätzen zu wollen, glauben wir, dass Konzentration glücklich macht. Konzentration ist dabei keinesfalls immateriell – und das Sehen hat zum Lesen immer schon dazugehört.

So wundert es nicht, wenn das Interesse an schönen Büchern zunimmt, an denen, die sorgsam gedruckt, bedachtsam gebunden sind.

Statt unglücklich zu sein darüber, dass Verkaufszahlen geringer werden, dass Marktkonzentration nur vereinzelten Titeln Platz lässt, dass womöglich Stupidität stärker ist als Witz – statt uns zu sorgen (und wir sorgen uns), wollen wir darüber nachdenken, welche Formen von Geselligkeit womöglich zur Literatur dazugehören, wenn die Leuchttürme erloschen sind. Ob nicht Leser sich danach sehnen, dass es, zur Abwechslung, ein anderes Kompliment an einen Roman gibt als „lebensnah“ – etwa „gedankenreich“. Ob es nicht fruchtbar sein könnte, über Formen des Artifiziellen nachzudenken und, entschuldigen Sie, darüber zu lachen, wenn in Literaturkritiken vergessen wird, dass man es in literarischen Texten mit Figuren, mit Chiffren zu tun hat – nicht mit Menschen.

Verlage haben einen privilegierten Zugang zur Form von Büchern. Ein Buch ist kein Accessoire. Wie ich finde, soll es auch das Leben nicht ersetzen. Es soll aber etwas zeigen – nämlich wie mannigfaltig und erstaunlich die Welt ist. Und dass es allemal mehr zu betrachten, zu berühren und zu lesen gibt, als man sich hat denken können, bevor man angefangen hat, zu lesen – sei es auf einem Lesegerät, sei es in einem Buch.“