30.9.2016

Interview mit Rem Koolhaas

Anlässlich des Erscheinens von Die weiße Sklavin interviewte Ingo Niermann Rem Koolhaas am 31. Januar 2016 in Amsterdam.

Wie bist du zum Film gekommen?

1952 begann ich mich fürs Kino zu interessieren. Damals war ich acht Jahre alt, und unsere Familie zog nach Indonesien, wo mein Vater das niederländische Kulturinstitut leitete. Weil das Haus meiner Eltern zu klein war und auch im Sinne meiner Unabhängigkeit, hatte ich ein Zimmer, das nicht zum Haus selbst gehörte, und von dort aus konnte ich auf die Leinwand in der Aula sehen. Mit elf hatte ich dann bereits alle Filme der europäischen Filmgeschichte gesehen – allerdings aus verzerrter Perspektive. Alles komplett zusammengepresst.

Später wurden aus meinem Oberschulfreund Rene Daalder und mir Filmfreaks, wie man das damals in den Niederlanden zu nennen pflegte. Kein Filmfestival, das wir nicht besuchten. Wir fuhren auf kleinen Fahrrädern mit Hilfsmotor hin, und wir lernten Polanski und Fassbinder kennen. Jeder war ansprechbar. Interesse war alles, was zählte. Und dann wollte Rene seinen ersten Film drehen. Ich hatte mich gerade dafür entschieden, Architekt zu werden, und den Journalismus aufgegeben. Deshalb hatte ich ein ganzes Jahr frei, und wir verbrachten jeden Tag dieses Jahres, um am Drehbuch zu schreiben.

Ich bin nicht Renes Ansicht, dass der Plot von Die weiße Sklavin surreal ist. Was einer Figur klar sein sollte, ist es manchmal nicht. Doch so etwas passiert häufig – und jede Komödie fußt auf diesem Prinzip.

Ich denke, es hat mehr damit zu tun, dass die Figuren so wenig wissen was sie tun, dass sie andauernd überrascht sind. Der Effekt, der sich einstellt, ist möglicherweise surreal, aber auf keinen Fall absichtlich surreal.

Es gibt eine beeindruckende Häufung von Klischees, wie etwa den virilen, sittenlosen Araber oder den Holländer mit seinem zwielichtigen Pragmatismus –

Exekutionismus.

… und auch die Umkehrung dieser Klischees. Zum Beispiel den guten Deutschen, der junge Frauen und Afrikaner verehrt und beide als unschuldige Kreaturen betrachtet.

Es war ein Ideen-Film, der sich jedoch als banales Melodram präsentierte. Unser wichtigster Einfluss war Fassbinder. Wir haben seine Fähigkeit geliebt, sich ernsten Themen in melodramatischer Form zu stellen und mit der Idee des Bösen und des Deutschseins zu spielen. Wir waren davon überzeugt, einen Fassbinder-artigen Film zu machen.

[Als dieses Interview redaktionell bearbeitet wurde, prüfte Fiktion, zu welchem Zeitpunkt Fassbinder überhaupt begann, Filme zu machen. Sein erster Spielfilm wurde 1969 fertiggestellt, im selben Jahr also wie Die weiße Sklavin und zwei Jahre nachdem Daalder und Koolhaas mit ihrem Drehbuch begannen. Niermann schrieb Koolhaas und schlug vor:

Vielleicht ist es ja anders herum: Ihr habt Fassbinder beeinflusst …

Koolhaas antwortete:

Das ist wirklich merkwürdig! Ich denke, du hast recht …]

Die weiße Sklavin hat auch etwas von einem B-Movie mit viel nackter Haut.

Wir wollten ein B-Movie machen, genau das war unsere Absicht. In Holland war das super gewagt, da es sehr calvinistisch und moralistisch war. Wir hatten die moralistischsten Hippies, die moralistischste Gegenkultur.

Ich habe Holland immer als in jeder Hinsicht ziemlich offen wahrgenommen: wie es mit Sexualität umging, mit dem Tod, mit allem.

Es wäre zu einfach, darauf zu antworten, das sei unverdient, aber ich denke, dass die Holländer anfingen, an diesen Mythos selbst zu glauben, und sich selbst gegenüber völlig unkritisch wurden. Das hat zu der recht heiklen Situation geführt, dass es einfach keine Selbstkritik mehr gibt. Selbstkritik gibt es vielleicht seit über dreißig Jahren nicht mehr.

Kürzlich kam ans Licht, dass Erik Hazelhoff Roelfzema, der legendäre Soldat von Oranien, möglicherweise in einen gescheiterten Staatsstreich verwickelt war, der zum Ziel hatte, Indonesien als Kolonie zu erhalten.

Ja, das war eine ernste Sache. Die Holländer waren schon immer von dem Selbstbild geblendet, sie seien zutiefst pragmatisch und vernünftig, aber auch ehrlich zu sich selbst. Ich denke, die Holländer waren sich selbst gegenüber extrem unehrlich, und dass es hier um zwei Traumata geht. Erstens das Trauma, sich im Zweiten Weltkrieg nicht besonders heldenhaft verhalten und mit den Deutschen gemeinsame Sache gemacht zu haben, als es um die Beseitigung der Juden ging. Und das zweite Trauma begann nach dem Zweiten Weltkrieg in Indonesien, wo sie auf erbärmliche Weise auf der falschen Seite standen, als die Amerikaner wollten, dass sie abzogen, sie aber zu militärischen Mitteln griffen. Selbstverständlich fanden da Kriegsverbrechen statt, viele Kriegsverbrechen, und erst heute – nach drei oder vier Anläufen, der Sache auf den Grund zu gehen –, erst jetzt, da die Beweislast erdrückend ist, fängt man an, darüber zu diskutieren, dass man Untersuchungen einleiten sollte. Länger hat wahrscheinlich noch kein schlechtes Gewissen in ganz Europa gebraucht, um geweckt zu werden. Und all das in Verbindung mit unserem Moralismus, wenn es um andere Staaten geht, und unseren Lektionen, die wir anderen so gerne erteilen.

Günther Unrat, der gute Deutsche, mit seinem selbstgefälligen Ehrgeiz, ein neuer Albert Schweitzer zu werden, wird auch nicht besonders vorteilhaft dargestellt.

Es war schon faszinierend, dass man einen Film mit so polemischem und übertriebenem Inhalt machen konnte. Das war wahrscheinlich nur möglich, weil es in den Niederlanden keine Filmindustrie gab.

Damals war dein Vater, Anton Koolhaas, der Leiter der Filmhochschule in Amsterdam. Spielte er eine Rolle dabei, den Film möglich zu machen?

Mein Vater war Schriftsteller, Theaterkritiker und Filmkritiker. Und auf diesen verschiedenen Gebieten hatte er jeweils einen völlig anderen Geschmack. Was das Theater betraf, hatte er einen sehr guten Geschmack und wirklich gutes Urteilsvermögen. Was den Film anlangte, war sein Geschmack schrecklich, genauso sein Urteilsvermögen. Mein Vater war eng mit den neuen Filmemachern und half Jacques Tati dabei, ein Filmprojekt auf die Beine zu stellen, das in den Niederlanden finanziert werden sollte. 1950 drehte er aber auch selbst einen Film, der sich einer Kriegskatastrophe im Südwesten Hollands im Jahr 1943 widmete: ein Melodrama mit dem Titel De Dijk is Dicht (Der Deich ist dicht), der ein Film aus dem Jahr 1944 hätte sein können. Es war komisch oder seltsam, so viel der Nachkriegskultur war immer noch zutiefst von der deutschen Mentalität oder Sichtweise geprägt. Oder vielleicht ist es Heroismus an sich, der zu solcher Propaganda führt. In einem anderen Film von ihm ging es darum, Tiere so zu betrachten, als wären sie Menschen. (lacht) Dass mein Vater Rektor der Filmhochschule war, war der Grund, dass ich sie nicht besuchte. Sein Unterricht war fürchterlich. Er zwang jeden neuen Filmstudenten dazu, ein kurzes Drehbuch über die immergleiche Begebenheit zu verfassen – da ging es um einen Kerl mit Fahrrad und eine Windmühle. Mein Vater war auf unvorstellbare Weise in das Leben vieler seiner Studenten involviert, er schützte sie, stieß sie an oder half ihnen. Mit mir hat er das nie versucht.

Machte er dir Vorhaltungen, weil Die weiße Sklavin kein Erfolg wurde?

Jeder machte uns Vorhaltungen. Wir hatten den teuersten und zugleich unpopulärsten Film in der Geschichte Hollands gedreht.

Was wurde kritisiert?

Es gab ein oder zwei Leute, die den intellektuellen Inhalt begriffen, die meisten Kritiker jedoch sahen nur ein schonungsloses Stück Scheiße. Es gab wirklich starke persönliche Reaktionen auf den Film. Während der Premiere begannen Menschen im Publikum zu weinen. Zu der Zeit lebte ich schon als Architekturstudent in London und war deshalb von dem ganzen Nachspiel nicht betroffen. Aber Rene machte sich so unbeliebt, dass er mir ins Exil folgen musste.

Ich glaube, dass sich da bis heute etwas fortsetzt, wie du mit deinen Absichten als Architekt irritierst.

Ja. Aber hast du irgendeine Theorie, warum das so ist?

Weil sie nicht einfach zu entschlüsseln sind. Selbst ein völlig widerliches Narrativ kann als im Grunde menschlich verstanden werden – weil es sich um eine Satire handelt oder weil ihr Autor, ihre Autorin solch hohe moralische Ansprüche hatte, dass er oder sie darüber komplett enttäuscht und zynisch geworden ist. Es ist nicht schwer, sich jemanden wie Michel Houellebecq als grundsätzlich guten Menschen vorzustellen. Oder als schlechten, der letztlich aber doch einen guten Zweck verfolgt, weil er das Böse auf so vielsagende Weise darstellt.

Genau. Aber du weißt, es gibt einen sehr wichtigen spanischen Architekturkritiker, Luis Fernández-Galiano, der mich systematisch mit Houellebecq verglichen und uns beide als giftige Talente beschrieben hat. (lacht)

Deine Arbeit hat zu viele Wendungen.

Ich denke, dass es die Welt ist, die sehr kompliziert ist, und deshalb ist es nicht angebracht, einfältige und eindeutige Aussagen zu machen. Es geht darum, sich der Mehrdeutigkeit beinahe jeder Situation bewusst zu sein. Als wir Die weiße Sklavin schrieben, setzte gerade die Globalisierung ein und das Verschwimmen der verschiedenen Kulturen. Das wurde von einer gewissen Unsicherheit begleitet, wer nun gut und wer böse war, und wir wollten zu dieser Unsicherheit in großem Stil beitragen. Deshalb ist der Araber eine schreckliche Figur, er ist aber zugleich die lebendigste und letzten Endes vielleicht auch die sympathischste. Wir wollten auf dem Niveau der Seifenoper verwirklichen, was Nietzsche versuchte, als er von der „Umwertung aller Werte“ sprach. Daraus lässt sich eine sehr moderne Lektüre ableiten.

Ja, man braucht nur daran zu denken, wie die Zwischenfälle der Silvesternacht in Köln aufgenommen wurden: lüsterne Araber attackieren blauäugige europäische Frauen …

Im Zentrum stand für uns der massive Zweifel an guten Taten. Nach wie vor reagiere ich völlig allergisch, wenn ich einen TED-Talk darüber höre, wie wir die Welt verbessern können.

Aber dann wieder lieferst du fesselnde Szenarien. Wie das Drehbuch zur Weißen Sklavin: Wenn es doch einfach nur komplex wäre. Es ist aber auch ein schlüpfriges B-Movie mit Musik von Wagner.

Es gibt eine Geschichte in der Geschichte über das 1920 erbaute Jagdschloss St. Hubertus. Das war eine Art versteckter Schatz, denn es wurde von der Regierung als Ferien- oder Wochenenddomizil genutzt und war für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Doch die Familie meiner Mutter war mit der ursprünglichen Eigentümerin befreundet, mit der erstaunlichen Helene Kröller-Müller. Aus dem Grund hatte meine Mutter dort auch übernachtet und kannte es aus der Zeit vor dem Krieg.

Wer war Helene Kröller-Müller?

Kröller-Müller war die Frau eines Industriellen aus dem Schifffahrtswesen, der später in einige Betrügereien verwickelt war. Sie hatte einen Kunstberater, der sie davon überzeugte, eine gewaltige Anzahl von Van Goghs und Mondrians zu kaufen. Sie war beinahe eine Karikatur guter Absichten. Sehr nüchtern, sehr streng und sehr idealistisch. Für St. Hubertus zog sie unterschiedliche, interessante Architekten in Betracht und entschied sich letztendlich für Hendrik Petrus Berlage, der so etwas wie das holländische Gegenstück zu Peter Behrens ist. Das Haus gleicht einem Drehbuch. Jeder Raum hat eine völlig andere Bedeutung. Es ist eine Art von Vignette über Architektur und Idealismus in das ganze Ding eingelassen. Das Interesse daran, wohin Idealismus führt, ist ein sehr wichtiger Teil des Films – und für mich persönlich wurde daraus eine fortgesetzte Befragung jedweder Architektur. Das hat dort angefangen.

Dieses Gebäude hat dich bereits von klein auf fasziniert?

Ja. Ich kannte es sehr gut, weil meine Mutter alle Geschichten darüber erzählen konnte. Warum zum Beispiel der Alkoven für die sehr kleine Frau in solchen Abmessungen gebaut wurde, dass ihr Mann dort niemals hineinpassen würde.

Warum?

Es implizierte, dass der Idealismus das Ende der Sexualität sei. Oder dass man, lebt man auf einer wahrhaft erhabenen spirituellen Ebene, keinen Sex mehr hat. Solche Geschichten waren Teil meiner Indoktrination.

Gleichzeitig hat die Burg aber einen extrem phallischen Turm.

Mit einer Teestube ganz oben. Die Aussicht ist unglaublich.

Rene denkt, dass deine Obsession mit diesem Gebäude eine ödipale Bedeutung hat.

(lacht)

Übersetzt von Andreas L. Hofbauer.