ALFF

Robin Detje im Gespräch mit Jakob Nolte

Ich habe vor dem Gespräch Verbote gekriegt und Bitten, also zum Beispiel darf ich dich nichts Biografisches fragen, weil, du hast mir gesagt: Ich will nichts über mich wissen. Du hättest auch sagen können: Ich will nichts von mir erzählen. Du hast aber gesagt: Ich will nichts über mich wissen, was ich wirklich sehr genial fand. Ich soll aber sagen, ALFF sei das Feel-good-Buch für den Sommer. Aufgefallen beim Lesen ist mir: Das ist kein Familienroman, da gibt es keine Nazi-Großeltern. Dafür erst einmal danke. Aber auch die Frage, ob es Druck gegeben hat von Fiktion. Also, dass die irgendwann mal gesagt haben: Kannst du nicht doch einen Familienroman daraus machen?

Nein, die waren ganz okay damit. Wobei, eigentlich … Es gibt ja durchaus mehrere Familien, die darin vorkommen.

„Familie“ ist auch eines der letzten wichtigen Wörter im Buch. Und einer der ersten Sätze beschreibt, was Meggy fehlt: „ein funktionierendes Familienband“.

Ja, ich finde es ist schon auf eine Art drin das Thema, also wo wächst man auf, wo wird man groß. Ob das nun in einer Familie oder in einer Schule oder an einem Ort ist. Aber es ist halt kein Familienroman. Eher aus Zufall, glaube ich. Ich verachte den Familienroman nicht.

Dann heißt dein Buch wie eine Fernsehserie, die ins Stottern geraten ist, also eine Fernsehserie mit einem Buchstaben zu viel.

Ja, das ist mir später auch aufgefallen. Ich kannte Alf gar nicht, und dann haben mich alle darauf hingewiesen, dass es auch diese Fernsehserie gibt. Ich wollte den Titel aber nicht mehr ändern, ich dachte, der ist phonetisch stark. Die Fernsehserie hat ja auch extrem gut funktioniert, habe ich dann erfahren. Aber man fragt sich, ob sie nicht noch besser gewesen wäre, wenn sie sich getraut hätten, ein F mehr dranzuhängen.

Die Geschichte spielt in einer Stadt, die heißt Beetaville. Ich habe natürlich gleich gedacht—und wenn ich überinterpretiere, darfst du mich immer gleich mit einem Wassereimer schlagen, so wie das Schlagen mit Wassereimern in deinem Buch eine Hinrichtungsart ist—… Beetaville, New England: halb Beetlejuice, Tim Burton, 1988, halb Alphaville, Godard, 1968.

Genau.

Und dann habe ich über Alphaville in der Wikipedia eine Beschreibung gefunden. Die Wikipedia nennt das einen „bizarren, unordentlichen Film mit einer absichtlich unausgeglichenen Handlung. Der Film ist dunkel, sowohl was die sparsame Ausleuchtung betrifft als auch die elliptisch-philosophischen Dialoge und den zynischen Humor.“ Das fand ich jetzt so einen Moment lang in der Schichtung der Ebenen toll, weil, ich kann eigentlich das, was ich in deinem Buch gesehen und gelesen habe, mit einem Wikipedia-Text über Godard beschreiben. Ist Godard ein Ding für dich oder ist die Frage zu biografisch?

Nein, ist okay. Ich glaube, ich finde schon sehr groß, was der gemacht hat. Ich meine, der dreht immer noch Filme, der war ja sogar dieses Jahr in Cannes mit irgendeinem Unsinn. Das finde ich beeindruckend, auch die Art, wie er Filme gemacht hat, definitiv, und ich meine, Alphaville ist halt ein Film, der tut so, als würde er in New York spielen, spielt aber in Paris, und der so tut, als würde er in der Zukunft spielen, spielt aber in der Gegenwart. Und ich dachte, ich schreibe sozusagen genauso über die Vergangenheit, wie Godard über die Zukunft gedreht hat.

Ich versuche es einfach einmal mit Fakten, damit wir die Geschichte auch verstehen. Es geht erstmal um den Mord an Benjamin McNash, einem Schüler der High and Low High School. Wobei ich fand, dass das den Ton deines Buches beschreibt, High and Low, weil du wirklich gnadenlos wechselst zwischen High und Low. Das heißt, du hast eine Art, das irgendwie in eine Rilke-Maschine zu setzen, ganz hoch, so einen ganz hohen poetischen Ton zu machen, und dann machst du völliges Dada.

Dada finde ich nicht korrekt. Es ist vielleicht eher etwas wie Slapstick. Dada, das klingt nach gaga oder dummdumm, aber es ist ja tatsächlich eine völlig konkrete Beschreibung einer Poetologie mit Regeln und keinen Regeln und einem Anliegen, das ich in meinem Text nicht direkt wiederfinden würde.

Es gibt einen Serienkiller, der wird „der Vollstricker“ genannt, weil er die Menschen in einen Zaun einwebt. Was du ganz zu Ende auch beschreibst—wie Menschen eingewebt werden.

Ja. Die Opfer werden erst betäubt oder getötet und dann mit Gummibändern an dem Zaun festgemacht, dass sie nicht runterfallen, dann webt er die Stich für Stich ein, und dann nimmt er die Gummibänder ab und hofft, dass sie nicht herunterfallen. Und das klappt dann auch.

Das Ganze beginnt im Jahr 1994. Das hat mich erst irritiert, weil, ich habe hier einen Roman mit lauter Fernsehserien- und Filmtitelanspielungen, einen Roman mit einem FBI-Agenten, der in einem Hotel namens Chacal wohnt, was also fast Schakal heißt, und dieser FBI-Agent geht in den Wald, spricht mit weisen Dachsen und fällt darauf in einen 89-minütigen Schlaf. Ich habe hier einen Roman, in dem drei neun- und zehnjährige Jungen verhört werden und sagen: „Wir sind die Eselsohren eines Geschichtsbuchs.“ Und in dem es eine Hündin gibt, die Nadja heißt, also Hoffnungchen, und diese Hündin wird, weil sie schön ist und einen Wettbewerb gewinnt, erschossen, ausgestopft und an den Kleinstadteingang gehängt. Als tote, ausgestopfte Hündin hält sie dann eine Antrittsrede und sagt: „Während Ausstopfen normalerweise Ehrung und Imitat, das Ersetzen und ein Verherrlichen des Lebens in einem ist, möchte ich dem Ausgestopftsein ein Sockel sein und das Imitat nachahmen.“ Das sind ja schon ganz viele gestapelte Unwirklichkeitsebenen, und dann spielt dieser Roman aber ganz hammerhart im Jahr 1994, was ja nun ein reales Erdenjahr ist.

Ja, es geht von 1994 bis zur Jahrtausendwende, sechs Jahre. Ich fand das irgendwie einen guten Zeitraum. Da gab es so eine magische Endzeitstimmung, gleichzeitig ist es aber auch eine Epoche, die ich mag, gerade in den Staaten. Kurt Cobain ist gestorben, Clinton ist Präsident geworden und Buffy läuft an, und alle wissen nicht so genau, was sie mit der Postmoderne machen sollen, die nun gerade beginnt, alt zu werden. Da, dachte ich, lasse ich das einfach spielen. Auch um einen historischen Stoff zu haben, an dem man sich dann abarbeiten kann. Der Roman ist ja knallhart recherchiert. Wenn jemand zum Beispiel Madonna hört, hört er auf jeden Fall das Album, das gerade rausgekommen ist und so. Ich finde es schön, dass ich mich dieses Zeitstrahls bedienen kann und schauen, was so los war, auch um zu merken, wie einiges völlig veraltet ist und andere Dinge eben nicht. Wie in der Aufzählung aller Konflikte, die gerade in der Welt sind. Es ist unglaublich und frustrierend, welche Kriegsschauplätze 1995 schon aktuell waren und es noch heute sind.

Und wie dosierst du beim Schreiben Wirklichkeit und diese Nägel, die du einschlägst in die Wirklichkeit, wie findest du die Balance?

Ich glaube, ich habe eigentlich immer Lust, unwirklich zu sein. Also, ich mag das immer, wenn in Geschichten Dinge passieren, die nicht auch hier passieren können, also nicht in diesem Raum oder nicht in dieser Welt, in dieser Zeit. Es gab beim Lektorat einen Moment … Da stürzt ein Flugzeug in den Rocky Mountains ab und es bildet sich eine Parallelgesellschaft, aber dann werden die alle Kannibalen, und eine Seite später entsteht ein Schwarzes Loch in einem Diner. Und dann meinte Mathias so: „Ja, komm, nimm doch vielleicht die Kannibalen raus.“

Noch etwas, das Mathias gekillt hat?

Nein, ach, vielleicht ein, zwei Sätze, wo er darauf hinwies: „Ja, aber in zehn Jahren soll da dann wirklich noch das und das stehen?” Ich so: „Ja, äh …“ Also manche poetische Überhöhung war ihm irgendwie zu plump oder so.

Du hast mir auch verboten, Sachen zu sagen, die mir an diesem Buch gefallen, weil du es irgendwie doof findest, wenn die Leute immer sagen, was ihnen so gefällt. Ich mache es jetzt trotzdem. Weil du eben Postmoderne gesagt hast: Das gefällt mir an diesem Buch, dass du so total weit über die Postmoderne hinaus bist, dass du also diese ganzen Ebenen nicht einmal mehr übereinander stapelst, sondern miteinander verschmilzt und eigentlich auch nicht zitierst, sondern wirklich eins daraus machst. Ich halte ALFF für einen naturalistischen Roman. Samt Dachs und samt sprechendem, ausgestopftem Hund. Und mit allen Filmbezügen. Weil ich glaube, dass uns unser Medienkonsum und unsere Fernseh- und Kino- und Anime- und Computerspielerfahrung inzwischen so inniglich definieren und ans Herz gewachsen sind, dass wir sie nicht mehr von uns trennen können. Deshalb finde ich deinen Text viel naturalistischer als das meiste, was ich sonst lese.

Ich finde, die Frage nach Naturalismus ist immer wichtig. Das hast du schön beschrieben. Ich sehe das tatsächlich so.

Dann ist es doch auch schön, dass dieses Buch zuerst in einer Maschine erscheint. Wir wollten ja auch ein bisschen über die Art der Veröffentlichung reden. Vorhin hast du gesagt, du magst Sachen, die sich plötzlich ereignen—so magisch. Und du meintest, du findest gut, dass man das magisch plötzlich in Boston schon gleichzeitig übersetzt lesen kann.

Genau, das ist doch eine tolle Vorstellung. Also, bei all dem Schrecken, der in dieser ewigen Informationsverfügbarkeit steckt, ist es genauso auch herrlich, dass jemand in einer U-Bahn sitzt—meinetwegen hat er oder sie einen guten oder schlechten Tag—, und dann wird ihm oder ihr so ein Link zugeschickt, und dann fängt er oder sie einfach an, diesen Roman zu lesen. So eine lange U-Bahn-Fahrt, man hat eine halbe Stunde und fängt einfach an, das zu lesen. Aus dem Nichts heraus. Das finde ich irgendwie toll. Überhaupt die Vorstellung, dass es frei verfügbar ist, finde ich großartig. Jeder kann es sich einfach anschauen, genauso wie ich mir Lieder anhören kann oder Filme oder Serien, das hat mir imponiert. Und wenn einem das Buch nicht gefällt, dann hat man keine 25 Euro für das Hardcover ausgegeben, was auch ein extremer Vorteil ist.

Also einfach Literaturgenuss anpassen an die Vorteile des YouTube-Full-Album-Hörens, jetzt gleich, sofort. Dadurch so eine Heutigkeit der Mediennutzung herstellen.

Genau. Hey, klar, ich mag ja auch Bücher. Also, ich glaube, ALFF würde sich auch als Buch gut machen, von der Dinglichkeit her, aber diese Art der Veröffentlichung ist gar keine Entscheidung dagegen.

Hast du noch Fragen?

Du hast ja mal Sachen übersetzt …

Ja.

Mich würde interessieren, inwiefern der Text für dich Englisch wirkt oder zweisprachig. Weil, er lebt natürlich viel von der anderen Sprache und spielt in einem anderen Land. Oder ist er für dich ein extrem deutscher Text?

Das geht, finde ich, im Deutschen von richtig hohem 19. Jahrhundert bis hin zu Strecken, die klingen wie eine schlecht synchronisierte amerikanische Fernsehserie—die du auch bewusst so geschrieben hast, das merkt man. Du schreibst, jemand bestellt einen „Zucchinibürger“, mit Ü. Das sind natürlich Momente, die für einen Übersetzer ins Englische total schwer zu handeln sind, die aber für mich Deutschen ein totaler Genuss sind. Du hast mich aber noch etwas gefragt vorhin in der Vorbereitung zu diesem völlig durchchoreografierten Gespräch, nämlich, wie man das Buch liest. Du hast mich gefragt, ob ich das in einem weg gelesen habe, ob ich das Gefühl habe, dass ich das musste. Und das war nicht so, ich bin in diesem Buch wirklich rumgesprungen, ohne das Gefühl zu haben, dass mir jetzt etwas vorenthalten wird oder dass ich dadurch völlig draußen bin. Ich habe mich wirklich zum Teil gefühlt wie in den verschiedenen Folgen einer Fernsehserie, wo man auch mal eine Folge verpassen kann und diesen Figuren dann wieder begegnet. Das habe ich eigentlich sehr gern gehabt.

Ja genau, das hat mich umgetrieben. Weil, ich frage mich: Ist das ein Text, den man zehn Minuten liest und dann macht man wieder etwas anderes? Ist das so ein Text, wo man voll abgelenkt immer wieder reinschaut, wie in einen Lyrikband beispielsweise? Oder lese ich den in einem durch, weil ich den Plot verfolgen möchte und endlich wissen will, wer der oder die Mörderin ist?

Das ist ja auch die Frage: Welche Anforderungen habe ich als Autor an meinen Leser, meine Leserin? Verlange ich diese völlig reißerhafte Selbstaufgabe, dass man das in einer Nacht wegliest, oder wie viel Freiheit gebe ich ihm und ihr?

Wahrscheinlich große Freiheit. Aber ich habe verschiedene Reaktionen bekommen—von Leuten, die sagen, dass sie es sehr spannend fanden und wissen wollten, wie es ausgeht, bis hin zu Leuten, die es mehr wie Tausend Plateaus gelesen und irgendwo aufgeschlagen und sich über einen Satz gefreut und es dann wieder zugeschlagen haben. Natürlich ist der Text eigentlich voll streng gemeint, wie ein Actionfilm, aber … Ehrlich gesagt, ich habe mir den E-Reader von Fiktion diese Woche das erste Mal angeschaut, und ich fand es ganz angenehm, darauf zu lesen. Es ist ein ganz spannendes Gefühl, das hat etwas Gebetsmühlenhaftes … also wenn man nicht umblättern muss und gar nichts, es geht einfach immer weiter. Ich habe dann auch gar nicht mehr drum herumsehen können, was los ist, und man liest flussartig dem Ende zu.