2. April 2016

Sich frei publizieren
Francis Nenik

I

„Mein Buch ist frei. Du kannst damit machen, was du willst.“ Das ist alles, was ich zum Publizieren unter freien Lizenzen zu sagen habe.
Das ist auch alles, was ich weiß. Alles, was ich wissen muss.
Der Rest ist Ausprobieren.

II

Du denkst, da kommt jetzt noch was. Das Kleingedruckte. Aber die Schriftgröße hier ändert sich nicht. Klar, ich könnte ein paar Einschränkungen machen, dir zum Beispiel untersagen, das Buch für kommerzielle Zwecke zu nutzen. Oder dir verbieten, seinen Inhalt zu verändern. Aber hee, wer würde sich davon abhalten lassen?! (Die Dialektik eines jeden Stoppschildes: Neigungen wecken, die man vorher vielleicht gar nicht hatte.) Also lass ich das mit dem „Du darfst nichts verändern“ und „Du darfst kein Geld damit verdienen“. Und sage stattdessen: „Mein Buch ist frei. Du kannst damit machen, was du willst!“ (Du machst es ja sowieso. Und komm mir jetzt nicht mit deinem Gewissen. Vergiss das. Oder besser: Heb dir das für wichtige Dinge auf. Und Bücher sind keine wichtigen Dinge, klar?!)

Jedenfalls: Mach mit dem Buch, was du willst. Kopiere es. Verändere es. Verbreite es. Lies es laut vor oder stampfe es ein (versuch das mal mit einem E-Book). Schreib den Text um (wenn du glaubst, dass er dann besser wird) oder nimm dir ein Stück raus (wenn du glaubst, dass es ein gutes Stück ist) und verwende es für deine eigenen Zwecke. Es ist allein deine Sache. Mach es aus Idealismus oder verdien dich dumm und dämlich damit. (Hee, das wird nicht passieren, und falls doch, dann ist es echt dein Verdienst, und ich werde einen Teufel tun und irgendeinen Anteil daran fordern.)

Jedenfalls, was ich sagen will, ist: Das Buch gehört dir. Und falls du’s nicht haben willst, ist das auch okay. Dann lass es einfach im großen digitalen Container und nimm dir ein anderes raus.

Ein Buch unter der freiesten aller möglichen Lizenzen zu veröffentlichen bedeutet sowieso nichts anderes als das Ding in einen Container zu werfen. Und glaub nicht, es ist irgendein besonderer Container, nur weil da irgendwelche großen Namen draufstehen. Vergiss auch das! Es ist ein Container wie jeder andere. Er besteht aus Einsen und Nullen und sonst nichts. Genau wie auch mein Buch aus nichts anderem besteht. Also kann ich es auch in den Container stecken, selbst wenn es noch einen viel besseren Grund gibt, es wegzuwerfen. Ich werfe es weg, weil sein Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Es ist in dem Moment abgelaufen, in dem das Buch veröffentlicht wurde. Also weg damit. Anders gehtʼs auch nicht. Du kannst nämlich sonst nicht containern gehen.

Geschenkt. Ich mache es ja selbst nicht anders. Mache es genauso wie du. Gehe containern. Jede Woche. Aber nicht mit Büchern. Mit wichtigen Dingen. (Sagte ich bereits, dass Bücher nicht dazu gehören?) In dem Fall sind die Dinge sogar lebenswichtig. Heißen deswegen auch Lebensmittel. Ist trotzdem keine große Sache, sie sich aus dem Container zu holen. Sollte zumindest keine sein. Man geht einfach in den Hinterhof vom Supermarkt und nimmt sich, was man braucht. Nimmt sich, was andere weggeschmissen haben. So einfach ist das. Drecksschweinerei!

Allerdings mögen es manche nicht, wenn man sich das, was sie weggeschmissen haben, nimmt. Nennen das Diebstahl. Diese sauberen Schweine! Tagsüber verjagen sie die Leute oder krallen sie sich. Und nachts zäumen sie das Weggeworfene ein. Lassen sich ein hartes DRM zurechtzimmern. Ein Deutsches-Rechte-Management aus Eisen und Stein. Damit niemand kommt und sich etwas von dem nimmt, was sie weggeschmissen haben. Aber hee, wer würde sich davon abhalten lassen?! (Ich weiß, das sagte ich bereits. Die Dialektik eines jeden Stoppschildes: Neigungen wecken, die man vorher vielleicht gar nicht hatte. Nur dass ich in diesem Fall hoffe, dass noch viel mehr Menschen diese Neigung in sich entdecken.) Weil diese Stoppschilder nicht nur lächerlich, sondern auch leicht zu überwinden sind.

Man klettert einfach über eine Mauer oder rollt sich unter einem Tor durch, tanzt ein bisschen Limbo mit einem Stück Maschendrahtzaun – und schon ist man da, wo man hin will. Sperrgebiet. Resterampe. Eine Wundertüte in Form einer Bio-Tonne, bis oben hin voll mit Ansprechpartnern für alle fünf Sinne. Man muss ihnen nur mit der Stirnlampe ins Gesicht leuchten, und schon fangen sie an zu erzählen.

Da kann kein Buch mithalten. Erst recht kein digitales. Das ist leicht zu erkennen. Man muss nicht viel dafür tun. Es genügt, wenn man absieht von dem, was man sieht.

Man hört nichts.
(Eine Hand, die sich durch eine dicke Schicht Gemüse gräbt.)
(Das Geräusch, wenn man nach einer Seite greift, sie umschlägt, blättert.)

Man riecht nichts.
(Obst, das schon zu lange liegt.)
(Der Geruch frisch bedruckten Papiers.)

Man schmeckt nichts.
(Auberginen, Bananen, Chicorée …)
(Dieser Hunger, der sich erst stillt, wenn man mit der Zunge über eine Seite fährt, einen besonders schönen Satz aufzulecken versucht.)

Man spürt nichts.
(Der Zwang, das in der Tonne Liegende zu ertasten, weil man auf dem nächtlichen Streifzug die Stirnlampe vergessen hat.)
(Das rauhe Papier, das an einer Stelle noch feucht ist, weil irgendein Witzbold einen Satz wegzulecken versucht hat.)

Aber das ist alles nicht schlimm. Niemand hat behauptet, dass Bücher lebensnotwendig sind. Zumindest ich nicht. Bücher reichen einfach nicht zum Überleben. Und solche hier schon gar nicht. Erst recht nicht, wenn sie nur digital existieren. Davon wird schlichtweg keiner satt. Weder der, der sie schreibt, noch der, der sie liest. Kriegt man höchstens das eine Siebtel oberhalb des Halses voll. Aber den Bauch nicht. Niemals!

Warum also auf den Resten beharren? Warum ein paar Krümel einzäumen, wenn der Kuchen ganz woanders liegt? Wieso nicht verschenken, was übrig geblieben ist? Und ein Buch ist immer das, was übrig geblieben ist. Ein Abfallprodukt. Eins, aus dem sich was machen lässt. Etwas anderes. Neues.

Warum also die digitale Form eines Buches nicht freigeben? Warum die Tore nicht gleich offen lassen?

Weil dann jeder kommen könnte? Aber genau darum geht es ja! Dass jeder kommt. Dass jeder kommen und sich nehmen kann, was er braucht. Ohne klettern oder kriechen zu müssen. Und Limbo ist auch nicht jedermanns Sache, auch wenn es Typen wie mir vielleicht Spaß macht. Aber Spaß kann ich mir auch anderswo holen. Und wenn ich keinen finde, schreibe ich mir einfach welchen herbei …

III

Auf der Schreibmaschine, auf der ich diesen Text hier tippe, steht „MADE AT ILION“.
Niemand hat ein Recht auf diese Worte.
Tom aber will sie besitzen. Er ist ein Text object model, eine Theorie of mind, Teil eines Schriftwerks, das in Wahrheit uns allen gehört: tom.[us].

MADE AT ILION, sage ich zu Tom. Und dann: Niemand hat ein Recht auf diese Worte. Sie sind nur eine Idee.

Tom aber will die Idee festnageln. (TOM NAIL IDEA)
Damit sie nicht verbreitet, nicht verschickt werden kann. (IDEA NOT MAIL)
Weil, wie Tom sagt, das Ich dominiert. (LA I DOMINATE)
Und weil wir das alte Ich wieder beleben müssen. (ANIMATE OLD I)
Nein, sage ich, was den Alten das Öl ist, ist uns die Daten-Mine. (OIL DATA MINE)
Die Ideen sind die Hauptsache, sie sind unser Bauplatz, unser Schicksal. (IDEA MAIN LOT)
Tom behauptet, wenn die Ideen frei sind, graben sie dem Hauptstrom das Wasser ab. (IDEA MOAT NIL)
Ideen, sagt er, sind wie Worte. Sie sind harte Arbeit für einen Mann. (IDEA MAN TOIL)
Wenn man sie freigibt, werden sie matt, werden sie ein zahnloser Löwe. (IDEA MAT LION)
Deshalb will er sie einhegen, will sie zu Intarsien eines dicken Wälzers machen. (INLAID A TOME)
Das ist der Weg in den Wahn, sage ich. (MANIA LODE IT)
Viele sterben an ihm. (MANIA DIE LOT)
Ich will ein lebendiges Idol sein, sagt Tom. (ANIMATE IDOL)
Ich will immer dasselbe sein, sage ich, ein atonales Ich. (ATONAL IDEM I)
Hilfskräfte kommen Tom gelegen, sagt Tom. (AIDE LAIN TOM)
Und dann: Du bist jetzt der Helfer meines tonalen Ich. (I AID TONAL ME)
Du? Ich? Tom wird dir fremd, denke ich. Hilf ihm! (TOM ALIEN AID)
Er ist eine Erweiterung deines Ich. Er ist die Rückverlängerung von mir selbst. (A DILATION ME)
Also neige ich mich zu ihm rüber, helfe ihm. (I LEAN AID TOM)
Helfe ihm, indem ich ihn an mich binde, ihn festnagle. (AIDE NAIL TOM)
Die Tiere verbinden sich, sage ich. (ANIMAL DO TIE)
Die Tiere werden sterben!, schreit er. (ANIMAL TO DIE)
Seine Worte sind meinen entlehnt. (A LEANT IDIOM)
Er brüllt: Ich bin nicht krank! (I AM NOT AILED)
Ich stehe über ihm, sage: Du hast Schmerzen. (I DEAN TOM AIL)
Er ist ein gefangenes Idol. (A INMATE IDOL)
Wir haben wie verrückt geschuftet!, ruft er. (MANIA TOILED)
Helfen heißt schuften, erwidere ich. (AID MEAN TOIL)
Ich bin in Hochstimmung, bin mittendrin. (AMID ELATION)
Ich zähme ein Idol. (I TAME AN IDOL)
Aber ich ziele nicht aufs Ideal. (IDEAL NOT AIM)
Ich beklage nur ein Detail. (I MOAN DETAIL)
An der Gegend hier liegt mir was. (DOMAIN LIE AT)