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Rene Daalder

Vorwort: Ein Heer von Florence Nightingales

 

Rene Daalder und Rem Koolhaas

Die weiße Sklavin

 

Rene Daalder
VORWORT: EIN HEER VON
FLORENCE
NIGHTINGALES

Jeder in der Filmindustrie weiß, dass Filmprofis es hassen, Drehbücher zu lesen. Selbst in Hollywood, wo das „Script“ als das A und O der Branche gilt, sind die meisten Offiziellen auffällig abgeneigt, ein Drehbuch wirklich zu lesen; lieber flüchten sie sich in die Aufforderung an den Autor, er solle den ersten Akt überarbeiten (das kann man über jede Fassung jedes Drehbuchs seit Vom Winde verweht genauso sagen). Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein Studiomanager Zeit fände, um Anfang, Mitte oder Ende der obligatorischen drei Akte eines Drehbuchs zur Kenntnis zu nehmen, ist es trotzdem tief im Erfahrungswissen der meisten Drehbuchautoren verankert, dass die Vertreter der Branche nur die Dialoge überfliegen und die eher beschreibenden Teile mit ihrer „Langatmigkeit“ überspringen.

Nun werden Sie sich vielleicht fragen: Wenn schon die Leute, die letztendlich Filme machen, eine derart ausgeprägte Abneigung gegen das Drehbuchlesen haben, weshalb sollte man dann das Drehbuch für einen Film lesen –geschweige denn es verlegen –, der 1969 herausgekommen ist, und noch dazu in einem kleinen Land ohne nennenswerte Filmkultur, in dem sich anscheinend auch nie etwas Dramatisches ereignet, außer die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs?

Und noch etwas: Obwohl Die weiße Sklavin damals der teuerste je in den Niederlanden gedrehte Streifen war, war er an den Kinokassen ein Flop. Wahr ist aber auch, dass er quasi Kultstatus erlangt hat, was zum Teil der Nähe seiner jugendlichen Autoren zur Comic-Kultur und den subversiven Ideen des deutschen Philosophen Oswald Spengler geschuldet war. In seinem Buch Der Untergang des Abendlandes hatte er 1918-22 ein Geschichtsmodell postuliert, in dem jeder „Kultur-Organismus“ eine begrenzte und vorhersehbare Lebensdauer (von etwa 1000 Jahren) besaß; uns erschien das damals als ein wichtiges Leitmotiv für den Plot der Weißen Sklavin. Aber wer waren diese jungen Cineasten, die in die Lage versetzt wurden, solche kopflastigen Ideen im ersten vermeintlich kommerziellen Spielfilm ihrer Heimat umzusetzen?

Nun, ich war selbst einer davon, und mein Kompagnon war der zukünftige Architekt Rem Koolhaas – zwei frühreife Schulabbrecher, die ein unheimliches Gespür für den Zeitgeist teilten und dazu den dringenden Wunsch, die Welt entsprechend neu zu erfinden. Unsere erste Begegnung mit der Zukunft hatten Rem und ich dann 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel, die wir ohne uns zu kennen beide als Teenager besuchten. Rem wurde von seinem Großvater begleitet, dem Architekten Dirk Roosenburg, ich selbst reiste mit meinem idealistisch denkenden Vater, dessen Interesse an der Expo utopischen Charakter hatte, in einem Citröen 2 CV an.

Für mich wurden Corbusiers und Iannis Xenakis‘ Philips-Pavillon der Anstoß zu einer lebenslangen Beschäftigung mit digitalen Technologien, elektronischer Musik und virtuellen Wirklichkeiten, während der Einfluss der unmöglich ineinander verschränkten Formen des Gebäudes auf Rem vermutlich bis in den architektonischen Spagat reicht, der in seiner Gestaltung der Zentrale des chinesischen Staatsfernsehens in Peking zu besichtigen ist – nicht zu reden von der nachhaltigen Wirkung des Schweizer Architekten auf Rems kreative Praxis und sein starkes Interesse für Medien und bildende Kunst und in späteren Jahren für die wissenschaftliche Publikationen der Denkfabrik AMO des OMA (Office for Metropolitan Architecture).

Aber es sollten noch ein paar Jahre vergehen, ehe Rem und ich uns als Schüler des weiterführenden Montessori Gymnasiums in Amsterdam begegneten, wo wir enge Freunde wurden und später gemeinsame Drehbücher für verschiedene Filmprojekte in Europa und den Vereinigten Staaten verfassten. Von Anfang an war klar, dass wir beide uns längerfristig eine andere Bühne suchen würden als den spießigen Provinzialismus im Nachkriegsholland. Also hatte unser biederer Griechischlehrer mit seiner abfällig gemeinten Bemerkung recht: Wir wollten wirklich nicht weniger als „zum Mond reisen“. Schließlich hatte Russland gerade seinen Sputnik in den Weltraum geschossen, und das amerikanische Apollo-Programm stand kurz davor, die ersten Menschen auf den Mond bringen. Unser Lehrer konnte allerdings kaum ahnen, dass wir unsere Schulbildung bald ganz an den Nagel hängen und vom Gymnasium abgehen würden, um die wirkliche Welt zu erkunden!

Wenig später setzten wir unsere liberalen Elternhäuser über diesen radikalen Plan in Kenntnis und verkündeten, dass wir Amsterdam, das ja oft das „Venedig des Nordens“ genannt wird, verlassen wollten, um ihr Gegenstück in Italien zu besuchen. Nebenbei beschlossen wir eine vergleichende Studie über die unterschiedlichen Fortbewegungsmittel im Europa der Nachkriegszeit durchzuführen, bei der Rem den Trans-Europ-Express-Zug nehmen würde und ich mich auf die Freundlichkeit von Fremden verlassen und mich per Anhalter durch Hitlers Nachkriegs-Autobahnennetz schlagen sollte, in der Hosentasche Jack Kerouacs On the Road, das den kulturellen Bezug zu einem ähnlichen Schnellstraßennetz in den USA herstellte. Ich meine mich zu erinnern, dass auch Rem eins seiner Lieblingsbücher eingesteckt hatte, den Roman Hadrian the Seventh von dem schwulen britischen Autor Frederick Rolfe alias Baron Corvo, der die fiktive Geschichte einer Wunscherfüllung erzählt: Sein Protagonist, der als Gondoliere in Venedig ein bescheidenes Dasein fristet, erfährt eines Tages, dass er zum nächsten Papst bestimmt wurde.

Wenige Tage auf der Straße und viele Abenteuer später erreichte ich Venedig, drei Stunden vor dem TEE-Zug und gerade rechtzeitig, um Rem, der mit der Eleganz eines europäischen Gesandten in wichtiger Mission dem Zug entstieg, auf dem Bahnsteig zu begrüßen. Die Ankunft am Bahnhof Santa Lucia war spektakulär, denn bei wenigen Erfahrungen in der westlichen Welt stellt sich ein solches Hochgefühl ein wie in dem Moment, in dem der Reisende Terraferma verlässt, um eine Gondel zu besteigen und über den Canal Grande zu gleiten – nicht unähnlich, stelle ich mir vor, dem Gefühl vorübergehender Schwerelosigkeit bei einem Astronauten, der zum ersten Mal den Fuß auf einen anderen Planeten setzt. Ich erinnere mich, dass Rems umfassende Kenntnis der Stadt den Eindruck vermittelte, er sei bereits dort gewesen. Er erteilte mir eine Grand Tour durch die Stadt, die im Schatten des Markusdoms endete, wo der Geist der Gottheit durch die schieren architektonischen Dimensionen der Kathedrale beschworen und durch die theatralen Effekte ihrer überwältigenden Ikonografie und anderer akustischer und visueller Bühneneffekte verstärkt wird.

Zwar sagen viele Architekten, das Kino interessiere sie sehr; aber nur wenige waren mit der zentralen Aussetzung der Ungläubigkeit des Mediums so vertraut wie Rem, ob er nun die Gegenwart Gottes in den großen Kathedralen der Welt bestaunte, den Schauder der Anti-Schwerkraft-Themenparks von Coney Island studierte oder die Gesetze der Baukunst in Filmbüchern wie S,M,L,XL (1995) umschrieb.

Wenn ich zurückdenke, verschwimmen Manhattans hupende gelbe Taxis, die durch die dunklen Straßenschluchten von New York City gleiten, mit dem lärmenden Stoßverkehr der Wassertaxis auf dem Canal Grande, die eine ähnlich berauschende Erfahrung opernhafter Grandezza evozieren. Da ich extensiv an der Schnittstelle von Musik und Film gearbeitet habe, hatte ich oft Gelegenheit, das in Rems Buch Delirious New York enthaltene Kinopotenzial zu bewundern, das eine entsprechende Bearbeitung für den Broadway zur Entfaltung hätte bringen können – besonders in den 1980er-Jahren, als Manhattan am Boden lag und dringend eine effektivere Werbekampagne nötig hatte als die „I Love New York“-Logos, die Tausende T-Shirts und Kaffeetassen schmückten. Schon allein der exzentrische Titel Delirious New York hätte als Slogan viel besser funktioniert und die Stadt im literarischen Handstreich vorangebracht.

Aber greifen wir nicht vor. Seinerzeit in Venedig hätten solche melancholischen Überlegungen über das Kinopotenzial dieser Stadtvisionen Rem allenfalls schmerzlich daran erinnert, dass seine mögliche Karriere als Architekt wegen seines fehlenden Abschlusszeugnisses auf der Kippe stand – Anlass für ihn, nach kurzem Aufenthalt heimzureisen und sich den Folgen seines Schulabbruchs zu stellen. (Damals konnte er ja nicht ahnen, dass Venedig ihn ein paar Jahrzehnte später mit allem Pomp begrüßen würde, von dem Baron Corvo geträumt hatte – als er nämlich für das „päpstliche“ Amt des Leiters der Biennale des Jahres 2014 in Venedig ausgewählt wurde.)

Als Rem nach Holland zurückkehrte, blieb ich noch ein paar Tage länger und schlug mein Zelt auf der Insel Lido auf, um die Filmfestspiele von Venedig zu besuchen. Das Schicksal wollte es, dass Luis Buñuel der Ehrengast war. Er zeigte sein Meisterwerk Belle de jour (1967), dessen Hauptdarstellerin zufällig eine von Rems Lieblingsschauspielerinnen war: Catherine Deneuve, die eine Frau spielt, deren Leben an einen Wendepunkt kommt, als sie ein exklusives Pariser Bordell entdeckt, in dem Hausfrauen der bürgerlichen Mittelschicht wie sie selbst an den Nachmittagen „arbeiten“.

Während ich mich in Venedig aufhielt, hatte Rem eine Volontärstelle im Kulturteil der Wochenzeitschrift Haagsche Post ergattert. In dieser Eigenschaft praktizierte er bald seine eigene Form von „New Journalism“, die von der amerikanischen Berichterstattung in der Ich-Form und von fiktionalen Techniken geprägt war, die Journalisten eine eher literarische, soziologische oder sogar psychoanalytische Herangehensweise erlaubten. Autoren wie Norman Mailer und Tom Wolfe jonglierten äußerst effektiv mit Fakten und Fiktionen, so wie Rem selbst in einem frühen Interview mit Federico Fellini, in dem der italienische Maestro partout nicht mit Rem reden wollte und es dem jungen Journalisten überließ, sich ein eigenes Bild zu machen. Das hieß, dass er Fellini durch die schrulligen Figuren in seiner Entourage porträtierte, ähnlich wie Fellini seine eigenen Zirkusgarderobenszenen schrieb.

Wieder zurück in unserer verregneten Heimat war auch ich gezwungen, mich mit meinem verpassten Abschlusszeugnis auseinanderzusetzen. Ich kam zu dem Ergebnis, dass ich meine Bildungslücke am besten schließen konnte, wenn ich mich an Amsterdams frischgebackener Filmakademie bewarb, die damals auf engstem Raum in mehreren alten Häusern am Ufer der Grachten des Amsterdamer Rotlichtviertels untergebracht war. Mit der Unterstützung von Rems Vater, der Drehbuchschreiben unterrichtete und später zum Direktor der Akademie aufstieg, wurde ich mit offenen Armen aufgenommen. Anton Koolhaas war für sein literarisches Werk bekannt; seine Beziehung zum Film beschränkte sich auf Buch und gelegentlich Regie bei konventionellen Dokumentarfilmen, etwa über Hollands Kampf um Land, das dem Meer abgetrotzt werden musste, oder über die Versuche, die zerbombten Städte am Ende des Zweiten Weltkriegs wiederaufzubauen. Die meisten Filmstudenten von damals versuchten dagegen, die französische „Nouvelle Vague“ zu imitieren, eine Bewegung, die Rem und ich wegen ihres seichten Intellektualismus ablehnten. Ein typisches Beispiel dafür war Jean Luc Godards Film Vivre sa vie mit Anna Karina als Möchtegern-Schauspielerin, die sich prostituiert, indem sie mit den Freiern, die sie in den Kneipen des Viertels abschleppt, um dadurch ihre Schauspielkarriere zu finanzieren, über Philosophie diskutiert; unter den Frauen, die bei der Filmakademie um die Ecke ihre Haut zu Markte trugen, „arbeitete“ keine mit dieser Strategie. (Rems Biographen können übrigens sagen, was sie wollen, er hat nie regulär an der Filmakademie studiert. Soweit ich mich erinnere, hat er das Gebäude kaum je betreten und missbilligte auch in der Regel den Filmgeschmack seines Vaters, aber die Verwaltung der Schule war ziemlich lax und achtete wenig auf das Kommen und Gehen der Studierenden oder auf das technische Equipment, das sie uns benutzen ließ.)

Unnötig zu erwähnen, dass Rem und ich der Versuchung nicht widerstanden, uns mit dem frankophilen Anteil unter den Studenten anzulegen. Dazu verfassten wir ein Anti-Autorenfilm-Manifest und trommelten ein paar Freunde von uns zusammen, um gemeinsam die Gruppe 1,2,3 enz. zu gründen, ein Filmemacherkollektiv, in dem alle irgendwann als Autoren, Regisseure, Kameramänner und Besetzung einer Serie von Kurzfilmen drankamen. Das Ganze gründete sich lose auf den Gedanken, dass klassische Hollywoodkinofilme völlig um die Persönlichkeiten der Stars kreisten, die in vielen Fällen als eigentliche Autoren ihrer Filme gelten konnten, wie Gene Kelly, Greta Garbo, Buster Keaton usw. Entsprechend ließe sich behaupten, dass die Praxis von 1,2,3 enz. ansatzweise an Andy Warhols Factory erinnerte (mit unserer eigenen Riege sogenannter „Andy Warhol Superstars“, die den Hollywoodglamour in Low-Budget- und häufig auch Camp-Versionen erstehen ließen).

Wie der Architekturkritiker und Essayist Bart Lootsma es im Filmmagazin Hunch von 1998 ausdrückte, verspottete „1,2,3 enz. alles, was in den 60er Jahren als ‚in‘ betrachtet wurde – insbesondere alles was persönlich, künstlerisch, idealistisch oder intellektuell daher kam“, wie beispielsweise das Programmkino oder die literarischen Ambitionen des französischen Autorenkinos.[1] Die Vorstellung, ein Film dürfe nur einen Autor haben, um als Kunst gelten zu können, stammte unserer Meinung nach aus dem 19. Jahrhundert. Stattdessen operierten wir wie eine Band und jeder machte jedes – Finanzierung, Casting, Besetzung ebenso wie Produktion und Vertrieb –, und das alles ohne die Subventionen, von denen andere niederländische Filmemacher abhingen. Unsere Filme entsprachen so wenig allem Gewohnten, dass sie bei den staatlichen Kulturausschüssen am laufenden Band durchfielen. In einer Episode, die wir für unsere erste Anthologie The 1,2,3 Rhapsody (1965) drehten, mit Rem in der Hauptrolle des Dieners einer Königin-Elisabeth-Doppelgängerin, überschritt er zum Beispiel die Grenzen seiner Rolle, indem er ein Perlenhalsband, das ihm „aus Versehen“ ins Dekolleté Ihrer Majestät gerutscht war, kurzerhand herausfischte. Anlass genug für die niederländische Zensur, künftige Vorführungen des „obszönen“ Kurzfilms zu verbieten, damit sich die Regierung in dem unwahrscheinlichen Fall, dass das britische Königshaus sich von unseren Jungenstreichen beleidigt fühlte, distanzieren könnte. Nach diesem umstrittenen Streifen folgte ein Kurzfilm, in dem ich eine Krankenschwester spielte, die nach der Arbeit von ihrem „Freund“ (gespielt von Rem) abgeholt wird; in einem weiteren Segment besetzte Jan de Bont die Rolle eines Fotomodells, das im Amsterdamer Vondelpark Herrenunterwäsche vorführt.

Ich arbeitete regelmäßig mit Jan als Kameramann zusammen. Er und ich rückten beide allmählich vom Drehen mit der Handkamera ab und konnten durch die Verwendung von Hollywoods ultramodernem Cinemascopeformat als Erste im Lande im Nu einen Minikassenschlager drehen, mit der von der Schule gestellten Ausrüstung. Unter Verwendung derselben anamorphotischen Projektionsverfahren drehten wir in der Folge mehrere flotte Low-Budget-Kurzfilme, die den Titel Body and Soul 1 & 2 (beide 1966) trugen. Ersterer war eine visuelle Hommage an einen der charismatischsten Bodybuilder von Amsterdam; er lässt darin seine stattlichen Muskeln vor unserer Breitbildkamera spielen, während er zugleich seine Hauptangst eingesteht, sein Körper könnte ihm eines Tages über den Kopf wachsen. Auf diesen Kurzfilm folgte ein längeren Film mit unserer Lieblingsschauspielerin Andrea Domburg in der Hauptrolle, der „Grande Dame“ des niederländischen Staatstheaters, die wir als heimisches Pendant zu Greta Garbo ansahen (und die später die Hauptrolle in Die weiße Sklavin spielte). Aufgrund dieser Filme, die in kurzer Zeit auf verschiedenen Festivals gezeigt wurden und mehrere Auszeichnungen erhielten, konnten wir uns erstmals um eine substanziellere niederländische Förderung bewerben, die uns die Entwicklung eines ersten Langfilms ermöglichte. Doch bald war klar, dass wir zur Verwirklichung unseres Vorhabens Ressourcen benötigten, die in Holland Mangelware waren, wie erfahrene Produzenten und international bekannte Stars sowie ein ausgereiftes Drehbuch in Spielfilmlänge!

Die niederländischen Produzenten, die wir ansprachen, waren leider wegen des Fehlens einer florierenden heimischen Filmindustrie in einer Weise besorgt, die sich in unserem kleinen, unsicheren Land, wo jeder ständig nach Präzedenzfällen und Bestätigung aus dem Ausland sucht, nicht leicht beheben ließ. So erschien uns ein international erfolgreiches Drehbuch, das mit nichts Ähnlichkeit hatte, was in Holland geschrieben wurde, als einziger Ausweg. Auf der Suche nach einem renommierten englischsprachigen Roman war ich auf Vladimir Nabokovs Roman The Real Life of Sebastian Knight (1941) gestoßen, der Rem und mir als Drehbuchneulingen alle Möglichkeiten bot, unsere Fähigkeiten in der „Charakterentwicklung“ zu üben, während wir zugleich Nabokovs Prosa in „pintereske“ Dialoge überführten. Wir bewunderten die bevorzugte Technik des britischen Dramatikers, seine Figuren unter ein Vergrößerungsglas zu legen, um das entstehen zu lassen, was treffend als „Komödien der Bedrohung“ bezeichnet wird.

Es war vorgesehen, dass ich Nabokov zu einem Drink an der Bar des Montreux Palace Hotel in der Schweiz treffen sollte, wo mir nach der langen Anreise von Amsterdam von einem Zwerg, der kaum über den Tresen sah, aber bezogen auf die aristokratische Persönlichkeit des russisch-amerikanischen Autors einen perfekten Diener abgab, Sherry serviert wurde. Den Sebastian Knight betreffend, sagte ich Nabokov, wie sehr ich seinen Einfall bewunderte, den Biografen des Protagonisten als Ausgangspunkt für eine Detektivgeschichte zu gebrauchen. Als ich ihn bat, uns eine Option auf die Drehbuchadaption einzuräumen, war er überraschenderweise sofort einverstanden und ließ durchblicken, dass er es schätzte, dass wir uns für unser niederländisches Drehbuchdebüt den ersten Roman ausgesucht hatten, den er auf Englisch geschrieben hatte. Vielleicht identifizierte er sich mit unserem Problem, seine Prosa zu dramatisieren, denn er hatte erst wenige Jahre zuvor mit dem Regisseur Stanley Kubrick zusammengearbeitet (an der Drehbuchfassung seines berühmtesten Buchs, mit Sue Lyon in der namengebenden Hauptrolle der leichtfertig-lasziven Kindfrau Lolita). Doch zu unserer Überraschung lehnte die niederländische Filmstiftung eine Förderung unserer geplanten filmischen Adaption des Sebastian Knight kurzerhand ab: Das Buch werde aufgrund seiner Internationalität den gesetzlichen Anforderungen an eine „niederländische“ Produktion nicht gerecht, befand sie und führte uns die ganze Engstirnigkeit der Niederlande, die sich damals außerhalb der internationalen Kultur bewegten, vor Augen. Dieses bürokratische Debakel brachte uns dazu, uns ein paar Tricks für unser Projekt bei dem einzigen niederländischen Romanschriftsteller abzuschauen, den wir ernsthaft bewunderten: Willem Frederik Hermans, dessen Werk bis heute noch nie erfolgreich in andere Sprachen oder Kulturen übersetzt wurde. In dem schon erwähnten Hunch-Artikel schrieb Lootsma: „Für Hermans, der als der wichtigste niederländische Autor der Nachkriegszeit gilt, ist die menschliche Existenz durch ein Gefühl der Unsicherheit bestimmt: ein chaotisches, ‚sadistisches Universum‘“, in dem „zwischen Freund und Feind nicht zu unterscheiden“[2]sei; Helden sind hier, wie Lootsma es ausdrückte, „Menschen, die rücksichtslos handelten, ohne bestraft zu werden“, und Idealismus „ein Glücksspiel, bei dem man leicht auf die falsche Karte setzen kann“.[3]

Diese Einschätzung entsprang der niederländischen Nachkriegsrealität; es war die Zeit, als der berühmte Nazijäger Simon Wiesenthal den Nazi-Oberen Adolf Eichmann aufspürte und seine Verhaftung vorbereitete. Wiesenthal und Eichmann repräsentierten in der Wahrnehmung der Niederländer die entgegengesetzten Urprinzipien von Gut und Böse, und wie Hermans 1966 in einem Zeitschrifteninterview mit Rem ausführte, hingen die Niederländer an ihrem Glauben, dass 99 Prozent der Landesbevölkerung im Widerstand gewesen seien. Aber es sei klar, dass die große Mehrheit der Niederländer in Wirklichkeit mit den Deutschen „kollaboriert“ habe und daher das deutsche „Böse“ und das niederländische „Gute“ nicht annähernd so schwarz und weiß seien, wie die meisten Holländer glauben wollten. Rem und ich hatten vor, die damit verbundenen Emotionen in unserem Film aufzurühren, also experimentierten wir mit ein paar Dingen, die absolut tabu waren; wir reizten die Grenzen der politischen Korrektheit aus, während wir uns zugleich mit dem Gedanken anfreundeten, einen Kassenschlager zu produzieren. Der Film, den wir entwickeln wollten, sollte von einem guten Deutschen namens Professor Unrat handeln, eine Hommage an die gleichnamige Figur in dem berühmten deutschen Spielfilm Der blaue Engel, den wir sowohl für seine bahnbrechende Filmmusik als auch für seine pointierte Darstellung des deutschen Wesens bewunderten (und den Rainer Werner Fassbinder in seinem Film Lola von 1981 zitiert hat).

Das war der Hintergrund unserer Log Line für einen Film mit einem reißerischen Titel. Während wir den potenziellen Produzenten verkündeten, wir hätten bereits mit der Arbeit an einen Filmkonzept im Sinne von Hermans „sadistischem Universum“ angefangen, baten wir gleichzeitig um einen Vorschuss, um ein Drehbuch über eine deutsche Figur zu schreiben, einen Deutschen, der – anders als sein Vorbild Simon Wiesenthal – nicht auf der Suche nach Kriegsverbrechern ist, sondern nach „guten“ Deutschen wie er selbst und ein gewisser Kurt Schneider, dessen tragischen Tod als Widerstandsheld Unrat in Amsterdam mithilfe der reichen Loudy aufzuklären versucht.

Fast unmittelbar nach Unrats Ankunft werden er und Loudy von einem Mittelsmann mit dem Spitznamen „der Araber“ eingeladen, an einem Projekt zur Fortsetzung des humanitären Werks von Albert Schweitzer mitzuwirken, den er als leuchtendes Vorbild aller guten Deutschen beschreibt. Wenig später sind Unrat und Loudy bereits in eine anscheinend gemeinnützige Initiative involviert, die Krankenschwestern für ein neues Missionskrankenhaus in Afrika ausbildet. Doch bald droht die idealistische Sache im organisierten Menschenhandel zu versinken – ein Phänomen, das die damalige Boulevardpresse mit reger Aufmerksamkeit beobachtete und das unsere von Rem so genannten „schmutzigen jugendlichen Phantasien“ enorm ansprach. Wenn wir von Filmen wie Belle de jour, Lolita, Vivre sa vie und selbst vom Blauen Engel eines gelernt hatten, dann war es das alte „Sex sells“ - insbesondere wenn der fragliche Film sich auf irgendeine Art von Prostitution bezieht.

Und wenn die Hollywood-Weisheit zutrifft und ein Film immer so gut ist wie sein Bösewicht, hatten wir außerdem das Glück, einen in Amsterdam lebenden Schauspieler zu finden, der mühelos alle Anforderungen an den „Araber“ in unserer Geschichte erfüllte. Was Rem betraf, sollte diese Figur sich ruhig als realistischstes und wichtigstes Mitglied unserer Besetzung herausstellen, vielleicht sogar als sympathischste Figur des Films. Der Darsteller, Izzy Abrahami, entpuppte sich dann ironischerweise auch noch als Jude.

Schließlich gelang Rem ein architektonischer Geniestreich, der alle Figuren und unterschiedlichen Erzählstränge funktional verbinden sollte. Er schlug vor, dass wir das Schloss St. Hubertus (so benannt nach dem Schutzheiligen der Jäger), eines der außergewöhnlichsten Gebäude, die Holland zu bieten hat, als Drehort für ein Ausbildungslager benutzen sollten, in dem die frisch rekrutierten Krankenschwestern – mit Rems Worten „ein Heer von Florence Nightingales auf dem Weg zum schwarzen Kontinent“ - angelernt wurden. In unseren Augen wurde dieses herrliche, aus Backstein erbaute Schloss zum größten Star unseres Films. Der herausragende niederländische Architekt H. P. Berlage hatte es 1914 für die Kröller-Müllers entworfen, die eine der wertvollsten Kunstsammlungen Hollands besaßen. Der Zufall wollte es, dass Rems Mutter hier als kleines Mädchen gespielt hatte, denn ihr Vater, der schon erwähnte Architekt Dirk Roosenburg, arbeitete für Berlage. Bis heute kann ich nicht umhin, zu spekulieren, welche ödipalen Gefühle Rem bei der Vorstellung des jungen Mädchens empfunden haben mag, das im Schatten desselben phallischen Backsteinturms spielte, den ihr Sohn „ein in Stein gehauenes Porträt des Hauptdarstellers in Die weiße Sklavin“ nannte.

Bald wuchs die Besorgnis der Produzenten bezüglich der kommerziellen Aussichten des Projekts. Wir versuchten sie zunächst mit vielen zusätzlichen Anreizen zu beschwichtigen, für die zum Teil die Kostümabteilung sorgte, die die „Lernschwestern“ immer kürzere Röcke und Minikleider tragen ließ, während die Mädchen selber ständig um die kürzeste Rocklänge wetteiferten und sich in den durchsichtigsten „Baby-Doll“-Kleidchen zeigten, die das Drehbuch en detail beschreibt. Rem hatte eine starke Affinität zu den Dresscodes der zeitgenössischen Mode, die die beiden in Paris ausgebildeten Fotomodels, aus denen unser „Heer von Nightingales“ bestand, ausgezeichnet kleideten. In der Filmhandlung werden sie von Unrat allerdings idealisiert und zur „sozialen Nacktheit“ nach Art der historischen Nudistenbewegung in Deutschland ermutigt, die das Individuum mit der Natur verbinden wollte. Den leisen Protest der jungen Frauen gegen öffentliche Nacktheit schmettert Unrat mit dem Argument ab, die einheimische Bevölkerung, die sie in Afrika treffen sollen, werde auch so ausschauen, „wie Gott sie erschaffen hat“.

Die politische Sprengkraft all dieser widersprüchlichen Haltungen bereitete den Produzenten große Sorgen; unser ganzer Plot, der leicht blasphemisch oder politisch inkorrekt aufgefasst werden konnte, machte ihnen zunehmend Angst. Aber wir versicherten immer wieder, dass die reiche architektonische Kulisse des Schlosses jede Assoziation mit billiger Ausbeutung verhindern würde.

Trotzdem wurden wir erneut aufgefordert, ein paar Drehbuchberater aus dem Ausland hinzuzuziehen, und ich bat meinen belgischen Filmemacherfreund Harry Kümel um Unterstützung. Kümel war es, der uns dem großen Drehbuchautor Jean-Claude Carrière vorstellte, der dann den niederländischen Produzenten erzählte, er und Buñuel hätten das Drehbuch für Belle de Jour vor Ort in einem echten Pariser Bordell geschrieben, um sich besser in Catherine Deneuves Rolle versetzen zu können. Unnötig zu erwähnen, dass diese Anekdote die Produzenten am meisten beeindruckte, vor allem im Vergleich zu der Espressobar in Amsterdam, die Rem und ich für unsere täglichen Schreibsitzungen aufsuchten. Andererseits ist das Rotlichtviertel in Amsterdam nie weit, nicht einmal in der Filmakademie, an der ich studierte.

Carrière berichtete erfreulicherweise den Produzenten, dass wir seiner professionellen Meinung nach vertrauenswürdige Drehbuchschreiber waren, die ihre Aufgabe hervorragend meisterten. Er ging sogar so weit uns zu erzählen, der Film, den er gerade mit Buñuel schrieb und aus dem Le charme discret de la bourgeoisie werden sollte, sei maßgeblich durch die „böse Satire und Travestie in Die weiße Sklavin“ beeinflusst. Das war sicherlich eines der schönsten Komplimente, die unser permanent vom Scheitern bedrohtes Projekt je erhalten sollte.

Carrière stellte uns auch mehreren internationalen Talenten aus seinem Bekanntenkreis vor, was unsere Glaubwürdigkeit deutlich steigen ließ und auch die opernhaften Züge der Weißen Sklavin in den Vordergrund rückte. Dank der Empfehlungen des französischen Drehbuchautors enthielt der Soundtrack schließlich eindringliche Wagner-Auszüge, arrangiert und aufgeführt von Carrières Freund Antoine Duhamel, der auch die Musik so prominenter Filme wie Week-end (1967) von Godard oder La mariée était en noir (1968) von François Truffaut komponiert hat.

Um weiteres Prestige zu akkumulieren, wurde der britische Kameramann Oliver Wood ins Team geholt, der mit Martin Scorsese gearbeitet hatte. Er und Jan de Bont arbeiteten dann Seite an Seite. Trotzdem blieb der Film in seinem Kern zutiefst niederländisch. Eine andere Förder- und Subventionsanforderung bestand darin, dass die gesamte Crew Niederländisch sprechen sollte. Als wir mit den Aufnahmen beginnen konnten – mit einer leicht veränderten letzten Fassung des Drehbuchs –, bestand die Besetzung aus unserer Hauptdarstellerin Andrea Domburg, die Loudy spielte, drei Fotomodels mit Ausbildung in Frankreich und einem Strauß anderer Figuren, darunter ein paar „zweifelhafte“ niederländische Komiker und der „einnehmende“ Araber mit dem israelischen Akzent. Mit anderen Worten, es herrschte ein babylonisches Sprachgewirr. Professor Unrat wurde von dem bekannten deutschen Schauspieler Günther Ungeheuer gespielt, der seinen Dialog größtenteils niederländisch mit schwerem deutschem Akzent sprach. Gelernt und geprobt hatte er die Texte mithilfe von Lautschrift. Das führte gelegentlich zu einer gestelzten Lesart und steigerte noch die Camp-Ausstrahlung von Sätzen wie: „Marlene, der Tag ist gekommen. Du fährst nach Afrika. Zieh dir dein Kleid über.“ Ein englischsprachiges Publikum hätte unseren Dialog vielleicht goutiert, aber der nüchterne niederländische Realismus tat sich schwer mit dem hohen Camp-Anteil, den unser Film aufwies. Der amerikanische Filmkritiker Parker Tyler, einer der besten Camp-Kenner New Yorks, sagte mir Jahre später, Die weiße Sklavin sei wohl der teuerste Experimentalfilm, den er je gesehen habe. Das war zwar halb scherzhaft gemeint, hätte aber eine der schlimmsten Befürchtungen der Produzenten bestätigt, nämlich dass die Zielgruppe einfach nie auftauchen würde, ganz wie es 1969 beim schließlichen Erscheinen des Films der Fall sein sollte.

In einem Gespräch(2011) mit Shumon Basar in der Architecture Foundation in London hat sich Rem an die Premierennacht erinnert: „Der Produzent des Films war ein komplett ahnungsloser Typ, der es für seine Hauptaufgabe hielt, ein Riesenevent daraus zu machen. Die erste Aufführung fand um Mitternacht statt. Vom Zoo hatte er ein echtes Kamel gemietet, das er vor dem Kino auf dem Leidseplein, also dem magischen Zentrum von Amsterdam, zur Schau stellte. Es regnete. Im Saal waren Sitzreihen für die Autoren und Regisseure des Films reserviert. Aber wir waren in unseren frühen Zwanzigern, und die Anweiser wollten uns nicht auf unsere Plätze lassen. Sie wollten einfach nicht glauben, dass wir den Film gemacht hatten, und so endete es damit, dass wir zwischen einem zu Eis erstarrten Publikum saßen, in dem die Empörung mit jeder Minute linear anstieg. … Bald war klar, dass wir vor allem den teuersten, aber auch den erfolglosesten Publikumsfilm in Hollands Filmgeschichte gedreht hatten. Also mussten Rene und ich beide ins Exil gehen. Ich war ja durch mein Architekturstudium schon Exilant, aber Rene war gezwungen mir ins Exil zu folgen, weil er in den Niederlanden keine Lebensgrundlage mehr hatte. In dem Sinne war das für uns beide schon eine radikale Erfahrung.“

Aber um die Wahrheit zu sagen, haben Rem und ich unser Exil trotz dieses Durcheinanders nie so richtig wahrgenommen. Es braucht eine gewisse Chuzpe, um nach Amerika auszuwandern und ein neues Leben in Hollywood anzufangen. Damals schloss das für gewöhnlich ein, dass man eigene Arbeiten zeigte, um die Beamten der US-amerikanischen Einwanderungsbehörde davon zu überzeugen, dass der vor ihnen stehende potenzielle Mitbürger möglicherweise etwas kulturell Bedeutendes zu den Vereinigten Staaten beitragen wird. Etliche meiner Freunde schrieben für die Bewerbung Die weiße Sklavin in ihren Lebenslauf oder trugen bei der Einreise sogar eine Kopie des Films unterm Arm, um die Beamten zu überzeugen, dass sie besondere Visa-Rücksichten verdienten. Auf diese Weise bin auch ich erfolgreich in die Vereinigten Staaten eingewandert. Andere waren etwa der Kameramann der Weißen Sklavin Oliver Wood, der danach Face/Off (1997) und die Bourne Identity-Kinoreihe (2002) aufnahm; Jan de Bont, Regisseur von Speed (1994) und Twister (1996), Theo van de Sande, der die Kamera beim Filmspektakel Blade (1998) führte; ein paar Jahre später schlossen sich Paul Verhoeven und andere niederländische Filmemacher an.

Sieht man sich die vielen niederländischen Filmemacher an, die dank der Weißen Sklavin in die Vereinigten Staaten übergesiedelt sind, erweist sich Hollands Verlust als Hollywoods Gewinn, und was die Karriere betraf, war es für uns alle besser so. Doch ich möchte die Gelegenheit ergreifen und einen Dank an alle hinzufügen, die uns mit kreativen Ratschlägen geholfen haben, unseren Weg durch die Entwicklungshölle zu finden, in die wir beim Zusammenstoß mit der Arglosigkeit unserer in Kinodingen so depravierten Heimat gerieten und deren Erfahrung dem hier veröffentlichten Drehbuch zweifellos anzumerken ist.

Wenn Sie nach alldem immer noch Lust haben, unser Drehbuch zu lesen, habe ich eine Bitte: Überfliegen Sie nicht nur den Dialog, um uns dann zu erzählen, der erste Akt müsse überarbeitet werden – denn das müsste er zweifellos!

 

Rene Daalder

Los Angeles, Dezember 2015

 

Übersetzt aus dem Englischen von Annette Wunschel

 

Rene Daalder &
Rem Koolhass
DIE WEISSE SKLAVIN

Übersetzt aus dem Niederländischen von
Annette Wunschel

Das Wagnersche Leitthema, auf arabische Art gespielt.

 

Eine Straße in der Kasbah, Lokalkolorit. Die Kamera kommt vor einer Baracke zum Stehen. Innen hören wir plötzlich Geschrei.

 

Die Kamera bewegt sich auf die Baracke zu und fährt durch den Perlenvorhang ins Innere.

 

In einem schmuddeligen Raum sehen wir einen behäbigen Araber und ein verschleiertes weißes Mädchen. Sie ringen miteinander. Der Mann schimpft in arabischer Sprache, das Mädchen schreit auf Niederländisch:

 

Lass mich los, du Scheusal etc. etc.

 

Er presst seine Hand auf ihren verschleierten Mund und stößt sie auf eine schäbige Pritsche. Sie wehrt sich weiter, doch mit nachlassender Kraft. Der Araber versucht ihr den Schleier vom Gesicht zu reißen, aber sie hält ihn mit beiden Händen und aller Kraft hoch, um ihren Mund zu schützen, den er offensichtlich küssen will. Gierig sucht er jetzt ihren Mund; er beißt sie durch den Schleier in die Unterlippe. Er reißt ihr die Gewänder vom Leib; sie leistet schon keinen Widerstand mehr.

VORSPANN

DIE WEISSE SKLAVIN

 

Ein niederländisch-deutscher Grenzposten.

 

In seinem Auto mit deutschem Nummernschild überfährt Günther Unrat die niederländische Grenze, nachdem der Schlagbaum sich für ihn gehoben hat. Wir fahren mit Unrat durch die holländische Landschaft.

 

Seine Stimme, auf Niederländisch mit deutschem Akzent:

 

Zurück in Holland … zurück zu Loudy. Diese ebene Landschaft, die fast von deutschen Stiefeln zertreten worden wäre. Aber es gab gute Deutsche, auch hier. Ihnen wollte ich ein Buch widmen, ein Standardwerk. Ich durfte es, denn ich war selber einer, ein guter Deutscher. Doch alles kam anders, als ich erwartet hatte.

 

Über einer imposanten Farbaufnahme unserer Hauptstadt erscheint: AMSTERDAM 1968. Gleichzeitig anschwellende Wagnersche Schicksalsmusik.

 

Günthers Wagen kommt vor einem eindrucksvollen Herrenhaus zum Stehen. Mit seinem Koffer geht er hinein. Er wird von Loudy willkommen geheißen.

 

LOUDY:

So so, du hast also Deutschland wieder einmal den Rücken gekehrt …

 

Günther stellt sein Gepäck ab. Er umfasst ihre schmale Hand mit seinen großen Händen. Sie geht vor ihm her zum Wohnzimmer und sieht sich um, als er im Korridor vor einem Porträt von Loudys erschossenem Ehemann stehenbleibt, der im Widerstand eine große Rolle gespielt hat.

 

LOUDY:

Günther …

 

GÜNTHER:

Sein Körper ist tot, sein Geist lebt weiter …

 

Loudy wirkt ziemlich niedergeschlagen. Günther geht auf sie zu und berührt sie tröstend.

 

GÜNTHER:

Ist doch wahr, Loudy.

 

Sie lacht dankbar und gerührt.

 

Sascha, eine anziehende Blondine, geht mit einem kleinen Mädchen im Amsterdamer Zoo Artis spazieren. Sie gehen Hand in Hand, aber sonst deutet nichts auf eine besondere Zuneigung Saschas für das Kind.

 

Ein Chevrolet Impala kommt vor dem Haupteingang zum Stehen; eine Frau steigt aus, sie ist gerade noch mittleren Alters und hat einen leicht ordinären Zug.

Der Fahrer, den wir nicht deutlich sehen, schlägt eine Zeitung auf und beginnt zu lesen. Die Frau geht ins Innere des Zoos.

 

Sascha und das Kind kommen an das Seehundbecken, wo ein Wächter gerade dabei ist, die Tiere zu füttern. Sascha, die dem Schauspiel gebannt folgt, achtet kaum auf das Kind, das schon bald wegläuft und in der Nähe des Abfallkorbs ein schmutziges Butterbrot vom Boden aufhebt.

Als Sascha das Mädchen plötzlich vermisst, läuft sie schnell zu ihm und sieht, dass es kurz davor ist, einen weiteren Bissen zu nehmen. Sie reißt ihm das Brot aus den Händen und kneift es in die Wangen, um zu sehen, ob sich im Mund noch Reste befinden.

 

SASCHA:

Spuck‘s aus. Spuck‘s aus.

 

Das Kind fängt an zu weinen; sie nimmt es auf den Arm, wiegt es tröstend hin und her, als das aber nicht hilft, setzt sie es wieder auf dem Boden ab.

Sie nimmt es an der Hand, und sie gehen weiter.

 

Den beiden auf den Fersen sehen wir jetzt die ältere Frau, die ihnen auf ihren für die Kieswege so ungeeigneten Pfennigabsätzen folgt.

Noch bevor sie in Hörweite zu Sascha und dem Kind ist, fängt die Dame an zu rufen:

Anita, Anitaschatz!

 

Ihr Rufen bleibt jedoch ohne Wirkung; sie stürzt weiter vorwärts, verstaucht sich dabei fast den Knöchel, hält kurz inne, um ihren schmerzenden Fuß zu befühlen, und stürzt rufend weiter, bis die beiden vor ihr sie hören müssen.

 

FRAU (zuckersüß):

Anita, Anitaschätzchen!

 

Das Mädchen an Saschas Hand dreht sich um, sieht die Frau und fängt an zu strahlen.

Ehe Sascha reagieren kann, reißt das Kind sich los und ruft, während es so schnell seine Füße es tragen auf die Frau zu läuft:

Oma, Oma!

 

Die Frau geht in Hocke, um sie mit ausgebreiteten Armen aufzufangen. Sie überschüttet das Kind mit Küssen und bemerkt, dass es geweint hat.

 

FRAU:

Was haben sie mit dir gemacht? Hast du geweint?

 

Sie wirft Sascha, die unterdessen näher gekommen ist, einen vorwurfsvollen Blick zu.

Das Kind fängt wieder an zu weinen und zeigt mit dem Finger auf Sascha.

 

FRAU:

War die Frau nicht nett mit dir? So eine böse, schlechte Frau!

 

SASCHA:

Darf ich fragen, in was Sie sich eigentlich einmischen …

 

FRAU:

Hörst du, Anita, die böse Frau fragt, in was die Oma sich einmischt.

 

ANITA:

Sie hat mich gehauen, Oma.

 

FRAU:

Herrje, wie gemein! Die Oma dachte sich schon, dass Omas großes Mädchen bestimmt nicht ohne Grund weinen wird.

 

Sascha versucht das Kind am Arm zu packen.

 

SASCHA:

Komm, Anita, wollen wir weitergehen?

 

FRAU:

Finger weg!

 

Sie dreht sich mit dem Kind in den Armen um und läuft umknickend, aber zielstrebig weg. Doch nach nur wenigen Schritten setzt sie das Kind wieder auf dem Boden ab und stützt sich auf seiner Schulter ab, um einen Kieselstein aus ihrem Schuh zu entfernen.

 

Sascha geht wieder auf die beiden zu und reißt das Kind unversehens unter der haltsuchenden Großmutter weg, sodass die Frau das Gleichgewicht verliert und sich mit dem bestrumpften Fuß im Kies abstützen muss. Aber die kleine Anita fängt in Saschas Armen schlagartig an zu kreischen und „Oma, Oma“ zu rufen. Mit ihren Fäusten beginnt sie Saschas Gesicht zu bearbeiten.

Schließlich setzt Sascha, am Ende ihres Lateins, das Kind auf dem Boden ab, schiebt es in Richtung der Oma und läuft mit Tränen in den Augen weg.

 

Die Oma eilt mit dem Kind zum Ausgang.

 

Sascha trocknet ihre Tränen und kommt wieder etwas zur Besinnung. Als sie begreift, was sie getan hat, rennt sie auf den Ausgang zu. Aber der Vorsprung ist zu groß; als sie am Gatter angekommen ist, steigt die Frau bereits in den Impala.

Zum ersten Mal sehen wir jetzt den Mann hinter dem Steuer genauer. Er hat ein leicht anrüchiges, exotisch anmutendes Äußeres: Es ist der Araber, den wir gleich besser kennenlernen werden.

Mit quietschenden Reifen verschwindet der riesige Chevrolet.

 

Hinter den Gitterstäben des Zauns steht Sascha und vergießt Tränen der Ohnmacht.

 

Loudy geht die Treppe hinauf.

 

LOUDY:

Günther …

 

Auf ihrem Speicher öffnet sie eine in einem Schrank versteckte Tür, hinter der sich eine enge Kammer verbirgt. Günther liegt auf einem primitiven Feldbett. Eine Sturmlampe qualmt. Günther schwitzt und atmet schwer. Er setzt sich auf die Bettkante, als Loudy hereinkommt.

 

LOUDY:

Warum kannst du‘s nur nicht lassen …

 

GÜNTHER:

Es ist hier so drückend, Loudy.

(Er fasst sich an die Kehle)

Dass ich es hier zwei Jahre aushalten konnte!

 

LOUDY:

Du kennst doch die Wirkung, die es auf dich hat! Komm jetzt besser mit mir.

 

Sie verlässt die Höhle.

 

Im Esszimmer sieht Günther, dass für drei Personen gedeckt ist; ein Dienstmädchen ist gerade mit dem Decken fertig geworden. Günthers Miene verdüstert sich.

 

LOUDY:

Es tut mir leid! Aber ich musste Charles einfach einladen, der arme Kerl … Seine Frau wurde entführt …

 

Das Mädchen bleibt an der Tür stehen.

 

LOUDY:

Sie ist die weiße Sklavin!

 

Es läutet. Das Mädchen geht hinaus, um Charles Dujardin zu öffnen.

 

LOUDY (flüsternd):

Nichts anmerken lassen …

 

Charles steht in der Tür.

 

LOUDY begrüßt ihn überschwänglich:

Ach, Charles! Wie reizend! Charles – Professor Günther Unrat. Und das ist Charles Dujardin. Er war uns im Krieg so eine enorme Hilfe, er war fünfzehn und bediente den Vervielfältigungsapparat für unsere illegale Zeitung, nicht wahr, Charles.

 

Charles scheint sich nicht besonders wohl zu fühlen, er wirkt verstimmt. Das Dienstmädchen kommt mit einem Tablett herein.

Sie serviert.

 

LOUDY (zu Charles):

Professor Unrat leistet eigentlich eine ganz ähnliche Arbeit wie Simon Wiesenthal, der Mann der …

 

CHARLES:

… der Eichmann …?

 

GÜNTHER:

Ja, der.

 

Sie fangen an zu essen. Stille.

 

LOUDY:

Wie kommt es eigentlich, Günther, dass der Wiesenthal so berühmt ist und du nicht?

 

CHARLES (peinlich banal):

Der Wiesenthal hat schon ‘ne ganze Reihe von denen geschnappt. Da werden nicht mehr viel übrig sein für Herrn …

 

GÜNTHER (pikiert):

Loudy, ich glaube nicht, dass dein Freund das wirklich versteht … Ich bin zwar eine Art Wiesenthal, aber nur umgekehrt. Simon spürt das Schlechte auf, ich aber im Gegenteil das Gute, ich suche deutsche Landsleute, die sich im Zweiten Weltkrieg für die richtige Seite entschieden haben … Eine Gruppe, die wenig Beachtung findet.

 

LOUDY:

Charles, während du im Keller mit Drucken beschäftigt warst, war Günther auf dem Speicher untergetaucht.

(stolz)

Wie gut wir unser Geheimnis gewahrt haben!

 

GÜNTHER:

Ich hoffe die Ergebnisse meiner Arbeit in Kürze zu veröffentlichen.

 

CHARLES:

Ach, dann werden Sie also doch noch berühmt.

 

GÜNTHER (nachdenklich):

Wahrscheinlich nicht …

(orakelnd)

So verrückt es klingen mag, das Schlechte steht heute in höherem Ansehen als das Gute. Das Schlechte ist ein Bestseller! Und das Gute ein Ladenhüter!

 

Das Mädchen räumt die Teller ab. Günther folgt ihr mit nachdenklichen Blicken.

 

GÜNTHER:

Nehmen wir die Frau: Ihre Emanzipation wird bejubelt, aber das ist Quatsch[4]

Sie ist nicht von ihrem Podest herabgestiegen, sondern für alle Zeiten der Länge nach auf den Rücken gefallen …

 

Schweigen.

 

Günther steht plötzlich auf und geht rasch auf die Tür zu. Er öffnet sie ruckartig: Das Mädchen sammelt auf den Knien liegend ein paar Dessertgabeln vom Boden auf. Als sie seine Beine vor sich sieht, richtet sie erschrocken den Oberkörper auf.

 

GÜNTHER (streng):

Wie nennt man das auch wieder in den Niederlanden … ‚loisterfinkje speelen‘,[5]richtig?

 

MÄDCHEN:

Ich habe die Gabeln fallen gelassen.

 

Er nimmt sie am Arm und zieht sie nicht allzu grob auf die Beine. Er führt sie mit zum Tisch und setzt sich dann selbst wieder auf seinen Platz. Das Dienstmädchen wirkt verlegen. Günthers Blick ist starr auf ihre Beine gerichtet, die unter dem kurzen Rock hervorschauen. Sie steht verunsichert zwischen Charles auf der einen und Günther auf der anderen Seite.

 

GÜNTHER:

Also das findet man heute schön, so kurz.

 

LOUDY (beunruhigt):

Günther! Lass sie …

 

Mit der Hand zeigt GÜNTHER höher auf den Rock:

Bald ist es dann so …

(zeigt noch höher)

Und dann will man’s auf einmal so.

 

Charles kann sich nicht länger zügeln, er greift mit beiden Händen nach der unteren Rockkante und hebt sie so hoch es geht. Das entblößte Mädchen schaut verdattert.

 

CHARLES schreit:

Und eines schönen Tages laufen sie so rum!

 

Günther gibt dem leicht hysterischen Mann einen Klaps auf den Arm, so dass er loslässt. Das Mädchen streicht seine Röcke glatt; als sei nichts geschehen, fängt sie an, den Tisch abzuräumen.

 

Sie verlässt den Raum, während die anderen betreten schweigen.

 

CHARLES, der am Tisch sitzt, hat verzweifelt den Kopf in den Armen vergraben. Voll Selbstanklage sagt er:

So benimmt man sich, wenn man in der Hölle lebt, wie ich.(Pause) Tanger, Loudy, sie ist in Tanger.

 

LOUDY (entsetzt):

Woher weißt du das, Charles …?

 

CHARLES:

Ihre Mutter hat einen Brief bekommen …

 

Er zieht ein zerknittertes Blatt hervor und liest weinerlich vor:

 

Liebste, liebste Mama,

ich bin weiße Sklavin in Tanger.

Ich habe kein Leben mehr.

Diese Bestien machen mit mir, was sie wollen, ich muss sie …

(Charles stockt)

… und dann muss ich sie oft auch noch …

(wieder verschluckt Charles den Rest)

Und dann, wenn ich gerade glaube, es sei vorbei, fangen sie wieder von vorn an …

Bitte, Mama, erzähl Charles nichts davon.

Tausend Küsse für mein kleines Mädchen.

Wiedersehen Mama, Wiedersehen liebstes Anitaschätzchen …

Mimi.

 

Charles wirft sich mit den Armen über den Tisch.

 

CHARLES:

Mimi … O, Mimi!

 

Loudy führt ihn zu einem Stuhl, auf den Charles sich fallen lässt.

 

LOUDY nimmt Günther kurz beiseite, sie flüstert:

So ein Pech, dass das jetzt so eine Wendung nehmen muss …

 

GÜNTHER:

Ach Loudy, aus mir ist so ein Pessimist geworden. Sowas macht mir kaum noch etwas aus! Ich denke bloß: Na, wer sagt‘s, unsere Kultur ist durch und durch verfault!

 

Ein Taxi hält vor dem Haus. Im Innern sitzt Sascha. Schnell geht sie auf die Eingangstür zu. Das Dienstmädchen öffnet.

 

SASCHA:

Ist Herr Dujardin da?

 

MÄDCHEN (ironisch):

Es sind zwei Herren da … Sie haben die Wahl.

 

Loudy reicht Charles, der fassungslos auf einem Sessel sitzt, ein Aspirin und ein Glas Wasser. Günther steht in der Zimmermitte, ein gefülltes Weinglas in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand; seine Miene ist nachdenklich.

 

Das MÄDCHEN öffnet die Tür:

 

Gnädige Frau, eine junge Dame, die zu einem der Herren will …

 

SASCHA, bildhübsch und frisch, kommt in ihrem modischen Regenmantel herein. Sie sieht erstaunt in die Runde und sagt:

Ich möchte zu Herrn Dujardin.

 

Um das Aspirin hinunterzuspülen, hat Charles angeekelt die Augen geschlossen. Als er seinen Namen hört, verschluckt er sich fast.

 

SASCHA (panisch):

Herr Dujardin, ich glaube, Anita ist entführt worden … Ich war den ganzen Abend auf den Beinen, um sie zu suchen …

 

CHARLES:

Was!!!

 

SASCHA:

Es tut mir so leid, aber eine Frau hat sie mit sich gelockt.

 

CHARLES (schäumend):

Verdammt noch mal, Anita! Dumme Kuh! Dumme Kuh! Anitaschätzchen …

 

Er ist aufgesprungen, hat Sascha am Kragen gepackt und beginnt sie heftig zu schütteln:

Eine feine Babysitterin sind Sie mir!!

 

Günther nimmt Charles an der Schulter und schiebt ihn beiseite.

 

GÜNTHER:

Hören Sie auf, Mensch! Reißen Sie sich zusammen.

 

Er begleitet Sascha zum Sofa und setzt sich neben sie.

 

GÜNTHER (ruhig):

Erzählen Sie mir, was passiert ist?

 

Loudy versucht den überdrehten Charles zu besänftigen.

 

CHARLES schlägt den Kopf an die Wand und ruft abwechselnd nach seiner verschwundenen Frau und dem Kind:

Mimi! Anita! Mimi!

 

Loudy zieht Charles zu einem Stuhl. Völlig entkräftet murmelt er ein letztes Mal „Mimi“, um danach nur noch leer vor sich hin zu starren.

 

SASCHA (zu Günther auf dem Sofa):

O Gott, was hab ich getan …

 

GÜNTHER sieht sie verlegen an:

Man kann es in Ihren Augen sehen … Ich weiß nicht, was … Aber niemand wird Ihnen einen Vorwurf machen …

 

LOUDY setzt sich ihnen gegenüber hin und sagt tödlich erschöpft:

Es tut mir so leid, da bist du endlich da und nun all das Pech …

 

GÜNTHER, während er den Blick auf Sascha und ihr ruhen lässt:

Ich nenne das nicht Pech.

 

Am nächsten Morgen.

Günthers Wagen kommt in einem schäbigen Viertel von Amsterdam zum Stehen. Er steigt aus, sucht an einer Hauswand nach der richtigen Klingel und drückt sie. Die Tür wird mit einem Zugseil geöffnet. Er stolpert im dunklen Treppenhaus die Stufen hoch.

 

Oben steht wartend eine Frau. Sie ist in einen Morgenmantel gekleidet und trägt Lockenwickler im Haar.

 

GÜNTHER:

Der Name Kurt Schneider, sagt der Ihnen was?

 

Die Frau sieht ihn an; statt zu antworten, ruft sie ihren Mann. Wir hören Gepolter, aber bevor der Mann da ist, öffnet sich der Morgenmantel der Frau mehr oder weniger vollständig. Es entgeht Günther nicht.

 

Der Hausherr, in Armee-Shirt und Hose, stellt sich hinter sie in die Türöffnung und legt den rechten Arm um die Schulter seiner Frau, um ihren Morgenmantel zu schließen. Er wendet den Blick nicht von Günther.

 

FRAU:

Ob uns der Name Kurt Schneider was sagt.

 

MANN (tut als überlegte er):

Kurt ja, der Name sagt mir schon was …

 

GÜNTHER:

Mein Name ist Unrat … Ich bin auf der Suche nach guten Deutschen.

 

FRAU:

Hast du gehört, also haben die Scheißdeutschen ‘s ihm immer noch nicht verziehen!

 

MANN:

Herr Schneider ist schon verstorben.

 

GÜNTHER:

Verstehen Sie mich recht, ich war ein Überläufer, genau wie er. Ich schreibe ein Buch über Menschen wie uns.

 

FRAU:

Kommen Sie herein, Herr … Unrat?

 

In der Wohnung sitzen vier Kinder um einen Frühstückstisch; das kleinste, noch keine zwei Jahre alt, sitzt in einem Kinderstuhl. Die Älteste, eine Blondine, ist in den späten Zwanzigern. Auch sie trägt einen Morgenmantel, der über ihren üppigen Brüsten und Gesäßbacken spannt. Ihre Augen weisen noch Reste der Wimperntusche vom Vortag auf.

 

Der Mann zieht sich weiter an.

 

Die Blondheit und der kräftige Körperbau der jungen Frau bilden einen Kontrast zum blassen, schmächtigen Äußeren der anderen Kinder. Sobald Günther sie sieht, bleibt er erschüttert stehen, die Augen starr auf sie gerichtet.

 

FRAU:

Das ist unsere Älteste, Marlene …

 

MANN:

Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss gehen …

(verlegen)

Eines noch. Kurt ist der beste Freund, den ich je hatte, der Allerbeste.

 

Um seine Rührung zu verbergen, nimmt er schnell sein eingepacktes Vesperbrot vom Tisch und verschwindet.

 

FRAU (zu Marlene):

Ich gehe mit Herrn Unrat kurz nach nebenan …

(zu Günther) Da haben wir mehr Ruhe.

 

Günther folgt ihr; sie landen in dem kleinen Schlafzimmer; das Bett ist nicht gemacht und die Gardinen noch halb zugezogen, es herrscht Durcheinander. Die Frau geht zum Kleiderschrank und nimmt einige Kleidungsstücke heraus. Sie wirft sie aufs Bett und sagt:

Kurts Uniform – ist alles noch da, außer seiner Unterwäsche, die hat sich mein Mann kürzlich genommen. Er ist kreuzunglücklich, wenn sie in die Wäsche muss, am liebsten würde er noch drin schlafen. Sie hätten Kurt darin sehen müssen, oben auf dem Speicher…

 

Sie setzt sich aufs Bett, nachdem sie vorher noch Kurts Stiefel hervorgekramt hat. Sie klemmt die Stiefel zwischen ihre Beine.

 

FRAU:

Sie haben‘s doch bestimmt gleich erkannt … an Marlene? Kurts Haar, Kurts Augen. Es fließt sehr viel deutsches Blut in Marlenes Adern … Marlene, komm her!

 

Die junge Frau kommt sofort ins Zimmer, als hätte sie hinter der Tür gelauscht. Die Frau trägt Marlene mit dumpfer Stimme auf, Günther Kurts Versteck zu zeigen.

 

Noch bevor sie aus dem Zimmer sind, sinkt sie mutlos vornüber und lässt die Hände tief in Kurts Stiefeln gleiten.

 

FRAU:

Die hätte Kurt noch mindestens zehn Jahre tragen können … Vielleicht ist es ja Ihre Größe …

 

Die Mansarde.

 

Man bemerkt hier und da Spuren des untergetauchten Kurt. Ein altmodischer Empfänger mit Kopfhörer. Am Boden liegt eine Matratze, übersät mit Feuchtigkeitsflecken. Kerben an einem Balken zeigen die Zahl der Tage an, die Kurt hier zugebracht hat.

 

Günther nimmt den Kopfhörer, setzt ihn auf und dreht an den Knöpfen des Empfängers. Zu seiner Überraschung erweist sich das Gerät noch als mehr oder weniger funktionstüchtig; wir hören leise die Melodie eines bekannten Schlagers.

 

MARLENE:

Ein Freund hat‘s repariert … damit’s hier ein bisschen netter wird. Der setzt dann den Kopfhörer auf, und dann wartet er, bis ich …

 

Sie zieht langsam den Morgenmantel aus. Unter dem winzigen Nachthemd, das sie darunter trägt, quellen ihre Brüste hervor. Sie kommt näher und zieht Günther an den Drähten des Kopfhörers zu sich heran. Er leistet keinen Widerstand. Sie schiebt eine Muschel des Kopfhörers von seinem Kopf, bringt ihr Gesicht ganz nah an seines und steckt ihm die Zunge ins Ohr.

 

MARLENE:

Sei nett mit mir, Deutscher …

 

Er lässt zu, dass sie sich leidenschaftlich an ihn presst und ihm durchs Haar streicht.

 

Dann macht er sich aus ihrer Umarmung los.

 

GÜNTHER:

Ich bin wegen Kurt Schneider hergekommen …

 

MARLENE:

Mein Vater ist tot … ich lebe.

 

Günther schweigt und schaut sie wohlwollend an.

 

GÜNTHER (nachdenklich und bewegt):

Wer weiß, vielleicht hast du recht …

Mit sorgenvoller Miene geht er an ihr vorbei weg.

 

Charles betritt das Schlafzimmer seiner Schwiegermutter, der Frau, die im Zoo sein Kind entführt hat. Er ist aggressiv und angespannt.

 

Mimis Mutter, die sich offenkundig für einen festlichen Abend fertigmacht, macht sich kaum die Mühe, ihn zu begrüßen, sondern dreht ihm gleich den Rücken zu.

 

MIMIS MUTTER:

Charles! Hilf mir mal, mein Reißverschluss …

 

Resolut dreht er sie mit dem Gesicht zu sich. Um den Reißverschluss auf ihrem Rücken zuziehen zu können, drückt er sie grob an sich.

 

MIMIS MUTTER (lasziv, seinem über ihren Rücken gebeugten Kopf sehr nahe kommend):

Früher half mir meine Tochter aus den Kleidern, jetzt hilfst du mir hinein …

 

Bei diesen Worten zögert Charles, ehe er den Reißverschluss weiter hochzieht. Sie befreit sich aus seinen Armen.

 

CHARLES (giftig):

Überleg lieber mal, wer deiner Tochter jetzt aus den Kleidern hilft… Sie hat ja verdammt noch mal nicht mal mehr die Zeit, sie anzuziehen …! (jetzt wutentbrannt) Und noch was …! (mit eisiger Ruhe) Was hast du mit meinem Kind gemacht?

 

MIMIS MUTTER (gehetzt):

Mit Anita? (zuckersüß) Die ist doch in einem Ferienlager… Das war doch fürchterlich für den kleinen Schatz, so ohne Mimi bei dir zuhause.

 

CHARLES:

Ach, und Mimi ist wahrscheinlich auch im Ferienlager… für die war‘s sicher auch fürchterlich bei mir zuhause.

 

MIMIS MUTTER (tief empört):

Charles, wie kannst du … wie kannst du darüber noch scherzen!

 

Stille.

 

MIMIS MUTTER:

Stell dir vor, das arme Kind …

Aber du kannst es dir besser nicht vorstellen, was sie da unten in Tanger mit ihr anstellen …

es ist einfach zu schlimm …

 

Charles hat sich mit geballten Fäusten an den Toilettentisch gesetzt. Er betrachtet im Spiegel sich selbst und hin und wieder seine Schwiegermutter.

 

Sie setzt sich auf die Kante ihres Doppelbetts und zieht einen Seidenstrumpf an. Während sie mit quälender Langsamkeit, fast liebkosend den Strumpf über ihrem Bein entrollt, spricht sie weiter:

Schonungslos, stell dir vor ... was für eine Erniedrigung! Getreten, entehrt, vergewaltigt, benutzt …

 

Sie lässt sich rücklings auf das Bett fallen, noch ehe sie den Strumpf an ihrem Strapshalter befestigt hat:

Mein Kind, ein Spielball der Araber …

 

CHARLES, der verzweifelt die Augen schließt:

Die ganze Fremdenlegion besorgt’s ihr …

 

Stille.

 

Sie befestigt ihren Strumpf am Strapshalter, und es scheint, als wollte sie wieder zur Tagesordnung übergehen.

 

Da springt CHARLES von seinem Sitz auf und schreit:

Du lügst doch, du lügst in einem fort!! Verdammt, du glaubst wohl, ich bin total verblödet …

 

MIMIS MUTTER (zuckersüß und „schockiert“):

Charles …

 

Sie steht auf, Charles macht ein paar schnelle Schritte in ihre Richtung und wirft sie rücklings aufs Bett zurück.

 

MIMIS MUTTER:

Charles!

 

Ein Knie zwischen ihren Beinen, beugt Charles sich auf dem Bett drohend über sie.

 

Im Vorzimmer hört Günther ein dumpfes Stöhnen, das aus der Richtung des Schlafzimmers kommt. Er steht auf und geht alarmiert zur Schlafzimmertür.

 

Noch ehe Günther hereinkommt, sehen wir im Schlafzimmer für den Bruchteil einer Sekunde Charles, der den Hals seiner Stiefmutter mit einem Würgegriff umschließt.

 

Uns bleibt kaum Zeit, das Geschehene zu verstehen, denn kaum hat Günther die Tür aufgeworfen, lässt Charles von seinem Würgegriff ab und die beiden liegen nur noch reglos übereinander; Charles immer noch keuchend, sie um Atem ringend und leise stöhnend.

 

Günther wendet beschämt das Gesicht ab und will sich wieder zurückziehen.

 

Doch CHARLES steigt wie ein gebrochener Mann von seiner Schwiegermutter herunter und bringt eine hilflose Entschuldigung vor:

Tut mir leid …

 

Er sinkt fassungslos auf einen Stuhl.

 

Günther sieht, wie Mimis Mutter, die immer noch keuchend nach Luft schnappt, ihren sichtlich schmerzenden Hals betastet. Er kniet sich an ihr Kopfende und stützt ihren Rücken mit einem Kissen.

 

MIMIS MUTTER:

Sie haben mir das Leben gerettet …

 

GÜNTHER:

Mein Gott, Charles, das ist doch Wahnsinn! Die arme Frau! Sie hätten sie fast ins Jenseits befördert …

Gottseidank hat Loudy mich gebeten, mit Ihnen zu gehen.

 

MIMIS MUTTER:

Lassen Sie mich jetzt bitte allein mit meinem Schmerz …

 

Günther hilft Charles von seinem Stuhl hoch, zusammen gehen sie zur Tür.

 

MIMIS MUTTER richtet sich mühsam auf und stammelt:

Danke … Ich danke Ihnen vielmals …

 

GÜNTHER, an der Türöffnung:

Auf Wiedersehen, gnädige Frau …

 

Sie verschwinden, aber in dem Augenblick, als sie die Tür erreicht haben, hören sie, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wird. Die Tür öffnet sich. Der Araber kommt herein. Der Mann sieht sie befremdet an, geht aber weiter zum Schlafzimmer. Charles bleibt wie angewurzelt stehen. Lebhaft, als ob nichts wäre, kommt Mimis Mutter aus dem Schlafzimmer. Sie schließt die Tür hinter ihrem Freund und geht graziös auf sie zu.

 

MIMIS MUTTER:

Ist schon wieder alles gut …

Charles, wir tun am besten, als sei nichts gewesen, und Ihnen, mein Lieber, (exaltiert) werde ich nie vergessen, was Sie für mich getan haben … (flüsternd zu Charles; deutet auf das Schlafzimmer) Selbst er hat nichts davon bemerkt.

(vor allem zu Günther) Ich habe ihn fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen, er war ein guter Freund von Albert Schweitzer …

 

Ehrfürchtiges Schweigen.

 

MIMIS MUTTER:

Gut, auf Wiedersehen, Charles, und auch Ihnen, mein Lieber, auf Wiedersehen.

 

Halbwegs überrumpelt stehen sie gleich darauf auf der Straße. Aber sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen ist, hält Charles nicht mehr an sich:

 

Was denn, ein guter Freund von Albert Schweitzer? Ein alter Bekannter von Mimi, meint sie wohl!

Verdammt, die glauben doch nicht, ich bin völlig bescheuert!

 

GÜNTHER:

Wenn Sie sich nicht vorsehen, tun sie das durchaus, mein Lieber …

 

Sie verschwinden in Günthers Wagen.

 

Eine Aufnahme von einem Mann, der anscheinend ernstlich verletzt ist. Schweiß perlt auf seiner Stirn, und er krümmt sich, als hätte er die schrecklichsten Schmerzen. Eine klaffende Wunde zeichnet sich in Bauchhöhe auf seinem nackten Körper ab.

 

Eine Hand, die eine rote Tropfflasche hält, wird sichtbar, Blutstropfen rinnen in die Wunde und über den Bauch.

 

Jetzt sehen wir Karl Reich, der in einem Zimmer eines gewöhnlichen Wohnhauses bei der Arbeit ist; er ist dabei, eine Wunde zu modellieren, assistiert von seiner Frau Helga, die in einen weißen Arztkittel gekleidet ist. Karl wischt seine blutigen Hände an einem Tuch ab und begrüßt Günther, der schon gleich nach der Begrüßung unangenehm berührt ist, da Spuren des künstlichen Bluts auch auf seiner Hand zurückgeblieben sind.

 

KARL:

Sie denken vielleicht, dass ich zu dick auftrage, aber auch für Wunden gilt: Die Wirklichkeit übertrifft die Vorstellungskraft.

 

Günther setzt sich irgendwo weiter hinten im Raum hin, während der Mann mit der Wunde von den Kursteilnehmern verbunden wird.

 

Karl geht auf Günther zu, er zeigt auf zwei Männer, die Mund-zu-Mund-Beatmung praktizieren, und auf eine alte Jungfer mit einem geschienten Bein.

 

KARL deutet auf sie und bemerkt:

Ein Beinbruch.

 

Er setzt sich neben Günther und verschnauft einen Moment.

 

GÜNTHER (nachdenklich):

Wenn man die zwei Deutschlands nur auch so einfach schienen könnte …

 

KARL (nachdem er kurz überlegt hat):

Ach, Sie meinen Ost und West ... (er lächelt schwach).

 

Er reibt sich die müden Augen:

Hören Sie, diese Arbeit ist derart deprimierend – im Krieg habe ich Verwundungen geheilt, jetzt mache ich sie … Die meisten meiner Schüler haben noch nie eine echte Wunde gesehen.

 

GÜNTHER:

Ich hoffe, Sie werden mir helfen, Herr Reich … Vielleicht könnten Sie ein Treffen zwischen mir und allen guten Deutschen, die Sie kennen, arrangieren … Ich meine verstanden zu haben, dass Sie öfter solche Begegnungen organisieren.

 

KARL:

Das ist auch so eine deprimierende Sache, denn die Reihen haben sich in all den Jahren entsetzlich gelichtet … Der Krieg ist eine Wunde, die die meisten von uns nicht mehr aufreißen wollen. Wir sind nur noch zu viert, und ich bezweifle, ob meinen Kameraden mit Ihrer Studie so recht gedient ist. Aber ich werde mein Bestes tun.

 

Während des Gesprächs ist auf Karls weißem Kittel, an der Stelle seines Herzens, ein roter Fleck erschienen, der immer größer wird. Günther steht auf und gibt Karl die Hand.

 

GÜNTHER:

Sie laufen aus, Herr Reich.

 

Erschrocken betastet Karl den Blutfleck und zieht verärgert die Tropfflasche aus der Brusttasche seines Kittels. Er blickt mit Abscheu auf seine Hände, die jetzt voll Blut sind.

Nachdem er Helga höflich zugenickt hat, verschwindet Günther.

 

Das Extase.

Musik mit einem afrokubanischen Rhythmus ist nicht allzu aufdringlich hörbar.

 

Günther hilft in der Garderobe Loudy aus ihrem Pelzmantel; sie trägt ein Kleid aus schwarzer Spitze, lange schwarze Handschuhe und um den Hals ein antikes Collier.

 

Charles, im Burberry-Regenmantel, geht in die Richtung des Tanzsaals und späht, halb hinter einem Vorhang versteckt, ins Innere, wo der Araber und seine Schwiegermutter sich als einzige Tanzende cheek to cheek im Rhythmus wiegen.

 

GÜNTHER sieht Charles und ruft in recht strengem Ton:

Charles … kommen Sie mal her, Mensch.

 

Charles streift gereizt, aber trotzdem folgsam seinen Mantel ab, während er zu ihnen geht.

 

LOUDY:

Nur Mut, Charles … und bewahren Sie in Gottes Namen Ruhe.

 

GÜNTHER:

Um Himmels willen keine Szene wie gestern … Jetzt ist Taktgefühl gefragt.

 

Der Araber redet mit dem Orchesterleiter und bittet um eine feurige Rumba; Mimis Mutter macht in Erwartung der Musik schon ein paar Schritte auf dem immer noch leeren Tanzboden (das Extase ist übrigens ruhiger denn je, so früh am Abend).

 

Rumbarasseln geben den Rhythmus vor, das Orchester fällt schmetternd ein.

 

Genau in diesem Augenblick betreten Loudy und Günther, Charles zwischen sich untergehakt, den Saal.

 

Überaus höflich, als dächte keiner von beiden auch nur im Entferntesten daran, sich den beschwingten Rhythmen hinzugeben, gehen Charles‘ Schwiegermutter und ihr Partner den anderen übertrieben lebhaft mit ausgestreckter Hand entgegen.

 

Der Araber führt sie galant zu einem Tisch, auf dem der Champagner schon im Kühler bereitsteht.

 

Der Orchesterleiter bemerkt, dass das erbetene Stück inzwischen nicht mehr so erwünscht ist, denn der Araber signalisiert mit beiden Händen, dass die Musik etwas ruhiger und leiser sein dürfte; das Orchester geht langsam, aber sicher zu einem diskreteren Stück über.

 

GÜNTHER:

Wir sind hierhergekommen … Charles hat ernste Zweifel über Mimis Schicksal …

 

LOUDY:

Ja, ist sie denn überhaupt in Tanger? Na ja, ich meine …

 

GÜNTHER:

Loudy meint: Tanger, das ist doch heutzutage kaum zu glauben.

 

Da schlägt CHARLES wütend die Faust auf den Tisch und schreit unvermittelt:

Wo ist Mimi, verflucht noch mal!!!

 

Alle erschrecken, Stille tritt ein, und wir sehen, wie Mimis Mutter durch melodramatische Gesten andeutet, dass ihr Hals immer noch wehtut.

 

Der ARABER legt schützend den Arm um sie und sagt, indem er sich auf ihren Schal bezieht, zu Charles:

Den Schal trägt sie nicht ohne Grund, wie Sie sicher verstehen werden …

 

MIMIS MUTTER:

Ist ein Bluterguss geworden, Charles.

 

ARABER:

Eines sollte Ihnen klar sein: Ich werde nicht mit Ihnen streiten … was fällt Ihnen überhaupt ein, hierherzukommen, um uns auf den Zahn zu fühlen! Die Frau, um die es geht, die bewusste Mimi, hat ihrer Mutter Briefe geschickt, die, leider, darf man wohl sagen, an Deutlichkeit nichts, aber auch gar nichts zu wünschen übrig lassen …

 

GÜNTHER:

Vielleicht sind sie ein bisschen zu deutlich …

 

LOUDY:

Ein bisschen übertrieben.

 

MIMIS MUTTER:

Ach nein, ich danke! Übertrieben soll das sein? Für einen feuchten Händedruck kann jeder X-Beliebige sie … (sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen)

 

Stille.

 

LOUDY:

Es ist wirklich eine schreckliche Vorstellung

 

LOUDY legt ihre Hand sanft auf die von Mimis Mutter und sagt:

Zweifeln Sie bitte nicht an meinem Mitgefühl …

 

ARABER:

Was ich jetzt sage, mag vielleicht hart klingen, aber es gibt nichts Bequemeres als Mitgefühl, wenn man sicher und behütet hier in Europa lebt … Ich kenne Afrika … Und ich kann Ihnen versichern, dass Mimis Qualen alles übersteigen, was Sie sich vorstellen können. (Pathetisch) Kein noch so dichter Schleier wird den Schmerz auf ihrem Gesicht verhüllen können ...

 

Mimis Mutter bricht in Schluchzen aus, erhebt sich abrupt und geht durch den Saal zu den Toiletten. Als sie auf halbem Weg ist, geht Loudy ihr verstört und erschrocken nach, um sich ihrer anzunehmen.

 

Der Araber schenkt die Gläser voll.

GÜNTHER wendet sich einigermaßen strafend an Charles:

Die Gefühle der Frau sind ohne Zweifel tief empfunden …

 

Unterdessen sind zwei relativ ordinär aussehende Mädchen eingetreten; sie setzen sich an einen nicht allzu weit von der Gruppe entfernten Tisch.

 

Plötzlich hören wir lauthalses „Huhu“: Anscheinend hat eines der Mädchen Charles wiedererkannt. Sie winken, zwinkern ihm zu etc.

 

Etwas betreten steht er auf.

 

CHARLES:

Eine Nichte von mir …

 

Er geht zu dem Mädchen hinüber.

 

In der Toilette stehen Loudy und Charles‘ Schwiegermutter vor dem Spiegel.

 

Loudy tupft der armen Frau mit ihrem Taschentuch die Tränen ab.

 

LOUDY:

Ich verstehe Sie ja so gut, aber bitte hören Sie jetzt auf, mir kommen schon selber die Tränen.

 

Loudy hilft Mimis Mutter zum Stuhl des Toilettenfräuleins hinüber. Es scheint ihr das Beste, wenn sich die wieder zu Atem kommende Frau kurz hinsetzt.

 

Aus einer der Kabinen taucht mit Eimer und Wischlappen das Toilettenfräulein auf. Als sie sich mühsam aufgerichtet hat, registriert sie misslaunig, dass jemand anderes auf ihrem Stuhl sitzt, aber Loudy rettet die Situation, indem sie einen aus ihrem Geldbeutel gefischten Rijksdaalder[6] in die Schüssel unter Mimis Mutters Nase legt.

 

Im Saal ist Charles anscheinend gleich von den ordinär aussehenden Mädchen abgeschleppt worden, die ihn weiter anstacheln und dazu bringen, sich immer hemmungsloser und hitziger zu benehmen.

 

Wie ein Besessener jivet er mit einem der Mädchen übers Parkett, dreht sie so schnell, dass ihre Röcke fliegen; er schleudert sie sogar mit einem Hüftwurf, den er auch noch ganz gut hinbekommt. Das Orchester verausgabt sich wie nie zuvor; sogar der Orchesterleiter selbst lässt sich auf dem Podium zu aufmunternden Rufen wie „swing it out“ etc. hinreißen.

Aber zum Glück für Günther und den Araber wechselt das Orchester schon bald zu einem Slowfox; von da an sieht man Charles nur noch im Hintergrund mit den Mädchen turteln.

 

Günther und der Araber sind in ein angeregtes Gespräch vertieft.

 

GÜNTHER:

In der Tat, Afrika ist wegen der Übeltaten der Weißen ein dunkles Kapitel …

 

ARABER:

Mein Freund Albert Schweitzer war einer der wenigen, die versucht haben, unsere Ehre zu retten … Wie gut er die Seele Afrikas verstand!

 

GÜNTHER:

Auch aus seinen Bach-Aufnahmen spricht die reinste Passion… Eine Wonne war das für mich …

 

ARABER:

Sie hätten diese Orgelklänge mal im Urwald hören sollen …

 

Loudy und Mimis Mutter kommen herein; sie sehen, wie Charles offen mit den Mädchen schäkert. Mimis Mutter stößt Loudy leicht in die Seite und deutet verächtlich auf ihren Schwiegersohn.

 

Sie setzen sich wieder zu Günther und dem Araber.

 

ARABER:

Manchmal saßen wir nach einem anstrengenden Tag auf seiner Veranda …

 

GÜNTHER (zu den zwei Frauen):

Wir sprechen gerade über Schweitzer …

 

MIMIS MUTTER:

O ja, das ist sein Freund und sein großes Vorbild.

 

LOUDY:

Ach, wirklich? Wie faszinierend …

 

Der ARABER fährt fort:

Ich war gerade dabei zu erzählen, wie wir, wenn wir den ganzen Tag Schwerstarbeit für den kranken Neger geleistet hatten, in der Abenddämmerung gemeinsam seinen sublimen Bachinterpretationen lauschten. Und dann mischten sich die Orgelklänge mit fernem Tamtam, dem Kreischen eines Vogels in Todesnöten, dem furchterregenden Heulen einer Hyäne und manchmal auch mit dem anrührenden Geschrei eines gerade in Schweitzers kleiner Geburtsklinik neugeborenen Negerkindes …

Nie hat Musik mich so ergriffen.

 

Günther ist ins Grübeln gekommen, auch die anderen schweigen; eine kleine Atempause, auch für die Musiker, die jetzt in Ruhe etwas trinken.

 

Erst jetzt fängt Charles‘ liederliches Geschäker mit den Mädchen an richtig aufzufallen. Er sitzt auf dem Sofa, hält in jedem Arm ein Mädchen und befingert es.

 

Vor allem Mimis Mutter scheint durch die Schandtaten ihres Schwiegersohns peinlich berührt.

 

Loudy steht auf, geht auf das Trio zu und packt ihn am Ärmel.

 

LOUDY:

Du enttäuschst mich, Charles! Die Damen nehmen es mir hoffentlich nicht übel, aber dieser Herr kommt jetzt mit mir … (aalglatt) Guten Abend, die Damen, vielleicht können Sie sich mit einem andern trösten.

 

Loudy führt Charles ab, die Mädchen bleiben verdutzt zurück. Doch bevor sie bei ihrem eigenen Tisch sind, winkt Charles einen Kellner zu sich und trägt ihm auf, den Mädchen ein Getränk von ihm anzubieten.

Loudy signalisiert dem Kellner, nicht auf ihn zu hören.

 

LOUDY:

Setzen Sie‘ s auf unsere Rechnung.

Sie lässt Charles am eigenen Tisch Platz nehmen.

 

MIMIS MUTTER (höhnisch):

Mimis große Liebe.

 

GÜNTHER:

Was sind Sie für ein ungeschliffener Mensch!

Wie haben wir Ihnen nur glauben können, als Sie den Herrn hier anschwärzten, Sie alberner Tropf!

 

MIMIS MUTTER:

Pah, Mimis große Liebe!

 

LOUDY:

Jetzt benehmen Sie sich genau wie die berüchtigte Schwiegermutter im Witz, wenn ich das sagen darf.

 

MIMIS MUTTER:

Ist ja reizend, besten Dank!

 

CHARLES:

Sei still, Schlampe.

 

GÜNTHER:

Wie ist es möglich, dass wir jetzt nach all den Gesprächen über Schweitzer auf einmal wieder auf diesem Niveau angelangt sind!

 

ARABER:

Das war so göttlich bei Schweitzer, für dergleichen Unsinn war da gar keine Zeit …

 

Lange Stille.

 

ARABER (pathetisch):

Könnte ich nur ein zweites Lambaréné gründen …

Doch die Frage ist: Wo findet man heute noch tüchtige junge Mädchen, um sie hinzuschicken?

 

Stille.

 

Das Orchester setzt wieder ein.

 

GÜNTHER (der einigermaßen erschrocken ist):

Wieso Mädchen? Was meinen Sie?

 

CHARLES (zu den Mädchen hindeutend, mit denen er zuvor geschäkert hat):

Die beiden Schlampen da, die wär‘n doch was für den Herrn.

 

LOUDY fasst Günther am Arm und sagt:

Komm Günther, wir gehen, mir wird schwindlig.

 

Sie steht auf, aber der Araber hält sie zurück.

 

ARABER:

Madame, ich flehe Sie an, beachten Sie diesen Narren gar nicht. Der Mann hat eine so krankhaft schmutzige Phantasie. Afrika braucht keine Mimis, sondern Krankenschwestern. Ich würde sie schulen wollen, sie auf eine großartige Aufgabe vorbereiten. Ein kleines Heer von Florence Nightingales für den schwarzen Kontinent.

 

Er schenkt die Gläser voll und reicht Loudy, die noch immer steht, eines.

 

ARABER:

Ich hoffe, Sie sind so gut und stoßen mit mir an.

 

LOUDY hebt das Glas:

Auf Afrika!

 

CHARLES:

Auf Mimi!

 

Günther stößt mit dem Araber an, die Szene endet mit einem Close-up anstoßender Gläser.

 

Nacht.

 

Loudys Haus.

 

Günther geht im Pyjama und seidenem Hausmantel die Treppe hinunter; die Stufen knarren unter seinem Gewicht. Sonst ist es totenstill. Im nur vom Mondlicht und einer Straßenlaterne erhellten Wohnzimmer geht er zum Plattenspieler. Während Wagnermusik erklingt, legt er sich ausgestreckt aufs Sofa. Er starrt an die Decke.

 

Loudy liegt in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett. Auch sie starrt. Die Musik dringt leise in ihr Bewusstsein. Sie bleibt einen Augenblick liegen, sucht dann ihr Zigarettenpäckchen und ihre Zigarettenspitze und raucht. Als würde sie auf etwas warten, setzt sie sich aufrechter in die Kissen.

 

Ihr Dienstmädchen liegt mit zurückgeschlagenen Decken im Bett. Auch in ihrem Zimmer ist die Musik hörbar. Sie trägt ein durchsichtiges Babydoll, darunter streichelt ihre Hand eine ihrer Brüste.

 

Günther, der noch immer auf dem Sofa liegt und der Musik lauscht, steht plötzlich auf. Er steigt die Treppe hinauf. Wieder hört man die Stufen knarren.

 

Auch im Zimmer des Mädchens ist das Knarren der Stufen hörbar. Sie schlägt das Deckbett jetzt ganz zurück, zögert kurz und stürzt danach auf Zehenspitzen an ihre Zimmertür. Sie öffnet die Tür und trippelt mit wippenden Brüsten zum Treppenabsatz, wo sie über das Geländer Günther die letzten Stufen zum ersten Stock hochsteigen sieht.

 

Es knarrt, Günther hebt den Blick, sieht sie deutlich und geht in sein eigenes Zimmer. Er verharrt hinter der Tür seines Zimmers und lauscht. Dann öffnet er sie behutsam erneut und schleicht den Korridor hinauf.

 

Das Dienstmädchen, das noch nicht wieder verschwunden ist, sieht ihn von oben leise an Loudys Tür klopfen; er sieht sie nicht. LOUDY knipst die Nachttischlampe an, fährt sich flüchtig durchs Haar und flüstert:

 

Günther …?

 

Er kommt ins Zimmer. Loudy trägt einen japanischen Kimono, sie liegt auf ihrem Bett.

 

GÜNTHER tritt an ihr Fußende und sagt:

Ich kann nicht schlafen …

 

LOUDY:

Ich auch nicht, Günther … setz dich, bitte.

 

Er setzt sich neben sie auf die Bettkante.

 

LOUDY:

Seltsam, wie das wohl kommt?

 

GÜNTHER:

Selbst Musik schenkt mir heute Abend keinen Frieden, die Rhythmen dieser Band hämmern weiter in meinem Kopf.

 

Loudy reicht ihm eine Zigarette.

 

GÜNTHER:

Und was dieser Mann sagte, lässt mich auch nicht los …

 

LOUDY (nachdenklich):

Weiße Sklavinnen, Albert Schweitzer, Tanger, Lambaréné …

 

Es ist so eine seltsame Welt, Günter, ein ganzer Kontinent, an den ich nie einen Gedanken verschwendet habe.

 

GÜNTHER:

Der verfluchte Krieg! Hat schon immer unsere ganze Aufmerksamkeit für sich beansprucht! Wir hatten keine Chance, weiter zu blicken, als die eigene Nasenspitze reicht, oder wie sagt man das: unsere Flügel über die Welt auszuspannen! Die Ideen, die der Mann hatte … Krankenschwestern für Afrika … wie gern nähme ich eine solche Aufgabe auf mich …

 

Verdammter Scheißkrieg!

 

LOUDY:

Aber Günther, neben dem erdrückenden Hass und der Not gab es doch auch (sie sucht nach den richtigen Worten) phantastisch viel Nächstenliebe … und Kameradschaft und Idealismus.

 

GÜNTHER (heftig):

Ja, aber was ist davon geblieben, Loudy! Als ich bei diesem Reich war, war‘s zum Kotzen! Der Mann hat mal beim Roten Kreuz gedient, hat Verwundete in ihrer letzten Stunde begleitet, aber jetzt, Loudy, der Mann betreibt da einen widerwärtigen Erste-Hilfe-Kurs, er macht da Sachen mit abscheulichen Wunden, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben!

 

Voll Abscheu, als sei das Blut noch immer nicht abgewaschen, zeigt er heftig gestikulierend seine Handflächen.

 

Stille.

 

GÜNTHER schlägt die Hände vors Gesicht und seufzt dramatisch:

Ach, Loudy!

 

LOUDY streicht ihm besänftigend und gerührt durchs Haar und sagt leise:

Les héros sont fatigues, Günther … ja, die Helden sind müde.

 

So bleiben sie kurz sitzen, dann nimmt Günther Loudys streichelnde Hand und küsst sie hingebungsvoll.

Er steht auf und geht zur Tür.

 

GÜNTHER (wieder ruhig):

Ich bin kein Held, Loudy … (Stille) Weißt du, weshalb wir nicht einschlafen können, Loudy? Weil außer einer Vergangenheit auch noch eine Zukunft auf uns wartet …

 

Er geht; ganz kurz bevor er die Tür hinter sich schließt, ruft sie noch leise:

 

Schlaf gut, Günther …

 

Tag.

 

Helga betritt das Zimmer, in dem Karl auch seinen Unfallrettungskurs hält; sie trägt ein Tablett mit drei Tassen Kaffee.

 

Karl sitzt hinter einem Rattanrauchtisch in einem zerschlissenen Sessel.

 

HELGA (ziemlich säuerlich):

Ach so, der Herr Professor ist noch immer nicht da …

 

KARL:

Der hat natürlich alle Hände voll zu tun mit seinen guten Deutschen.

 

HELGA (zynisch):

Ja, das waren ja auch so viele … da ist man natürlich ‘ne Weile beschäftigt …

 

Karl lacht lauthals.

 

HELGA:

Dass du darüber lachst. Deine Kriegsvergangenheit ist auch nicht gerade makellos … (ätzend) Der erste Rot-Kreuz-Soldat, der jemals desertiert ist.

 

KARL:

Na, reizend! Du weißt so gut wie ich, dass mein Gewissen protestierte ... (geradeaus starrend) Meine Kameraden sind krepiert, während ich die Generäle zusammenflicken musste …

 

Es läutet an der Tür.

 

KARL (erschrocken):

Professor Unrat!

 

Helga geht die Tür öffnen.

GÜNTHER kommt herein. Streng sagt er:

Herr Reich, wo sind Ihre Freunde?

 

KARL:

Schrecklich, schrecklich, sie haben sich nicht blicken lassen! Das Thema Ihrer Studie, das gefällt Ihnen nicht so recht. Ein Buch über die niederländischen Kriegsverbrecher, meinten sie, soll der Unrat doch lieber darüber schreiben …

 

GÜNTHER (stolz darüber hinweggehend) zu Helga:

Der Kaffee ist ausgezeichnet.

 

KARL plappert weiter:

Wissen Sie eigentlich, Herr Unrat, dass hierzulande immer gerade solche Holländer die höchsten Posten bekleiden, die im Krieg kollaboriert haben! Den schlimmsten holländischen Kollaborateuren ist es tausend-, nein millionenmal besser ergangen als dem allerbesten Deutschen … wir sind nur Parias.

 

HELGA:

Wenn sie das gewusst hätten, wären sie der Stimme ihres Gewissens wahrscheinlich nicht gefolgt …

 

KARL:

Gewiss, gewiss, wir hätten uns schon vorgesehen! Das verstehen Sie –

 

GÜNTHER:

Im Gegenteil, werter Landsmann, das verstehe ich ganz und gar nicht.

 

KARL:

Ach nein, entschuldigen Sie, Professor, es ist auch Quatsch …!

 

GÜNTHER:

Nur die Ruhe, Karl.

(dramatisch) Dieser verdammte Krieg, der in unserem Leben so eine wichtige Rolle gespielt hat!

 

KARL (weinerlich):

Die Hauptrolle, Herr Unrat!

 

GÜNTHER:

Ich will Ihnen etwas gestehen. Ich habe eine entsetzliche Nacht hinter mir.

(entflammt) Mir ist klar geworden, dass der Krieg nicht nur damals die Hauptrolle spielte …! Sondern auch jetzt noch. Und das, Herr und Frau Reich, das nenne ich tragisch!

 

Helga und Karl stimmen ihm nickend zu.

 

GÜNTHER:

Nicht nur tragisch, sondern auch… lächerlich!

 

Das Ehepaar schweigt. Karl scheint gekränkt.

 

GÜNTHER:

Und nicht nur Sie und Ihre Freunde sind lächerlich, auch ich, wir alle sind es! Ein Mal, ein einziges Mal in unserem Leben haben wir die richtige Seite gewählt. Und wir dachten, das sei genug … Das ist nun schon ein Vierteljahrhundert her … Höchste Zeit, dass unser Gewissen seine Stimme neuerlich erhebt, dass wir erneut die richtige Seite wählen!

 

Stille.

 

GÜNTHER:

Ich muss jetzt gehen.

 

GÜNTHER steht auf. Vielleicht begegnen wir uns ja noch mal … im Kampf für die gute Sache … Auf den Barrikaden!

Günther geht ab.

 

KARL:

Sehr interessant … guter Rat von Unrat!

 

HELGA:

Die Barrikaden … muss man erst mal finden!

 

KARL:

Bring mir ein Bier, Helga.

(lustlos witzelnd) Im Himmel gibt’s kein Bier, drum trinken wir es hier.

 

Nacht.

 

Günther sitzt in Loudys Wohnzimmer auf dem Sofa; sein Kopf ruht in seinen Händen; er starrt ins Kaminfeuer.

 

Wagner.

 

Aus den Flammen taucht, gespensterhaft, die verhasste Visage Adolf Hitlers auf.

 

Das Kaminfeuer knistert laut, ein brennendes Holzscheit rollt von seinem Platz.

 

Die Flammen schlagen hoch und umkränzen mit leckenden Zungen die Erscheinung Hitlers. Dann verblasst die Erscheinung, um dem noblen Charakterkopf Albert Schweitzers, komplett mit Tropenhelm, Platz zu machen.

 

Günther schlägt die Hände vor die Augen.

 

Als er erneut ins Feuer blickt, ist er wieder ins Diesseits zurückgekehrt. Die Erscheinungen sind verschwunden.

 

Er geht zum Kamin, wirft weitere Scheite ins Feuer und schürt es bösartig lachend mit einem Blasebalg.

 

Das Feuer lodert auf.

 

Ein amerikanischer Schlitten braust, Staubwolken hinter sich lassend, über einen Sandweg, auf dem auch Kamele, Esel und Frauen mit Wasserkrügen auf dem Kopf ihres Weges ziehen.

 

Arabische Musik, nervöse Rhythmen.

 

Schleudernd fährt der Wagen durch ein Auffahrtstor, direkt auf eine rosafarbene, maurisch wirkende Villa zu. Zwischen dem üppigen Grün des Gartens, der von einer Mauer umgeben ist, kommt er zum Stehen.

 

Auf dem Balkon erscheint eine blonde Frau; sie ist ziemlich ordinär, das heißt europäisch gekleidet.

An der Hand hält sie die kleine Anita, an die wir uns noch aus dem Zoo Artis erinnern.

Im Gegensatz zu seiner Mutter ist das Mädchen in ein orientalisches Gewand gekleidet, vielleicht trägt sie sogar einen winzigen Schleier.

 

Sie winken dem Araber zu, der, nachdem er ihnen einen Handkuss zurückgeworfen hat, gutgelaunt ins Haus läuft.

 

Im Wohnzimmer treffen sie zusammen. Er nimmt das Kind in die Arme, schlägt den kleinen Schleier zurück, küsst es und sagt: Grüß dich, meine liebe kleine Anita.

 

Er nimmt die Frau in die Arme; sie ruft Achmed, den Babysitter, der hereinkommt und wortlos die kleine Anita an der Hand nimmt, um mit ihr zu verschwinden.

Sie küssen sich lange; dabei flüstert er mehrfach ihren Namen:

Mimi … O Mimi …!

 

Küssend landen sie in einem Stapel weicher Kissen.

 

Während seine Hände liebkosend über ihren Körper gleiten, findet er doch noch Zeit, sie über die große Neuigkeit in Kenntnis zu setzen.

 

ARABER:

Schatz, ich habe in Holland eine Goldmine angebohrt …

 

Mimi küsst ihn auf den Mund und lässt ihm dadurch keine Chance, den Satz zu Ende zu sprechen.

 

ARABER:

Eine Witwe mit Geld. Und du errätst nie, wie ich sie kennengelernt habe …(er grinst) … durch Charles, hehehe.

 

Mimi kichert. Ihre Liebkosungen werden bei der Erwähnung des Mannes, dem sie so erfolgreich Hörner aufgesetzt hat, noch intensiver.

 

ARABER:

Und ein deutscher Professor, der vor Idealismus nicht weiß, wohin mit sich. Sie sind völlig im Bann meiner Ideen: reichlich Krankenschwestern fürs dunkle Afrika.

 

In Kicherstimmung fangen sie an, sich auszuziehen.

 

ARABER:

Übrigens, noch schöne Grüße von deiner Mutter …

 

Musik: Wagner; neue Weitaufnahmen.

 

Das Jagdschloss St. Hubertus in all seiner Pracht; der Himmel ist von einer purpurfarbenen Glut erfüllt, die Sonne ist kurz davor unterzugehen, um den Turm sammeln sich malerische Wolkenmassen; in der Ferne Eulenrufe.

Umgeben von Natur, erscheint das Schloss wie ein unverkennbarer Höhepunkt einer zweitausendjährigen Zivilisation: das steingewordene Abbild des Menschen Günther Unrat.

 

Die Kamera fährt rückwärts, ins Bild kommt der Rücken von Günther, der den Anblick des Schlosses noch einmal in sich aufnimmt. Er dreht sich zu Loudy um, die auf der anderen Seite des Wagens steht.

 

GÜNTHER (kräftig):

Kauf es, Loudy!

 

LOUDY:

Tut mir leid, Günther, aber es ist nur zu vermieten …

 

Er geht zu ihr und hält den Schlag für sie auf, aber bevor sie einsteigt, drückt er sie ans Herz und sagt bewegt:

 

Miete es, Loudy …

 

Sie steigen ein und fahren die Auffahrt hinunter.

Im Rückfenster wird das Schloss Hubertus immer kleiner.

 

Wir hören einen beliebten Schlager. Die Musik kommt aus einem Transistorradio, das Loudys „shakendes“ Dienstmädchen umklammert.

 

Marlene liegt in Loudys Badewanne.

 

MÄDCHEN:

Kannst du shaken?

 

Ohne Marlenes Antwort abzuwarten, zuckt sie noch stärker mit ihrem Körper; the beat goes on. Abrupt bringt sie das Radio zum Schweigen.

 

MÄDCHEN:

Du, warum willst du eigentlich Krankenschwester in Afrika werden?

 

MARLENE zuckt die Schultern:

Ach …

 

MÄDCHEN:

Na, für mich wär’s nichts, mit all den unheimlichen Negern da unten.

 

Marlene starrt vor sich hin.

 

Das MÄDCHEN, leicht verärgert:

Übrigens, mich haben sie auch gefragt, der Professor sagte, es wär bestimmt was für mich …

 

Marlene starrt.

 

MÄDCHEN:

Ich versteh gar nicht, dass sie einen soweit kriegen können.

 

MARLENE:

Ach, du Dumme, wenn du wüsstest, was ich durchgemacht habe, dann wärst du nicht so gemein zu mir … Niemand hat mich je geliebt, ich war gerade gut genug, die Gänge zu wischen … und meine Mutter hat immer an mir herumgenörgelt. Und hatte ich einmal eine Freundin, war sie gleich eine miese dreckige Scheißhure … Nur geschämt haben sie sich für mich.

 

Stille.

 

MARLENE:

Der Professor und deine Madame waren die Ersten, die an mich geglaubt haben …

Wenn ich nach Afrika gehe, habe ich wenigstens das Gefühl, für irgendwas gut zu sein …

 

Das Dienstmädchen nimmt die Flasche mit Badesalz und verstreut die lila Kristalle mit einer Geste der Zuneigung in der Wanne.

 

MÄDCHEN:

Meine Madame sagte übrigens noch, ich soll gut für dich sorgen.

 

Eine Vorschulklasse.

 

Vier- bis Sechsjährige treiben Unfug; vom herkömmlichen Liebreiz des jungen Völkchens keine Spur. Verschiedene Geschlechter interessieren sich unmissverständlich füreinander.

Der Grund für dieses extravagante Verhalten ist offensichtlich die Abgelenktheit der Kindergärtnerin: SASCHA.

Abwesend, den Rücken den Kindern zugewandt, starrt sie aus dem Fenster. Ohne sich nach ihrer Klasse umzudrehen, sagt sie seufzend:

Jetzt seid ihr aber mal ruhig.

Ihre Worte haben nicht die geringste Wirkung.

 

Ein Wagen nähert sich und parkt vor dem Schulgebäude. Es sind Günther und Loudy. Günther steigt aus. Ohne Sascha zu sehen, stellt er sich zwischen zwei Mütter, die ihre Kinder von der Schule abholen.

 

In Saschas Vorschulklasse hören wir das Läuten der Glocke. Sie dreht sich zu den Kindern um, die mit ohrenbetäubendem Lärm aufspringen und zur Garderobe an der Wand rennen. Sascha geht hinter ihnen her und hilft hier und da einem Kind in seine Jacke. Aus allen Richtungen drängen Kinder herbei; zusammen bilden die zahllosen Kinder einen unaufhaltsamen Strom, der sich zum Ausgang wälzt. (Um diesen Effekt zu erzielen, werden rund 1500 Kinder im Vorschulalter mobilisiert werden müssen.) Sascha steht als einsamer Fels in der Brandung zwischen den wimmelnden Kleinen.

 

Die Kinder tragen in dem Gedränge kleine Gefechte aus. Ein kreischendes Bürschchen mit blutiger Nase flüchtet sich in die Röcke seiner Mutter, die draußen auf ihn wartet.

 

Die Frau wirft einen wissenden Blick zu den anderen Müttern und lacht. Sie bittet Günther:

Ach, hätten Sie vielleicht ein Taschentuch für mich …

 

Günther überlässt ihr widerwillig sein blütenreines Einstecktuch. Die Frau stillt das Blut, das aus der Nase ihres Sohnes quillt.

 

Sascha steht beim Ausgang und bemüht sich, allen Schülern die Hand zu geben. Unterdessen gilt ihre Aufmerksamkeit vor allem Günther, der auf sie zugeht und sich trotz des Andrangs der Kinder ihr gegenüber postiert. Sascha vergisst die Kinder, von denen jetzt die letzten als dünnes Rinnsal das Gebäude verlassen.

Günther schüttelt teilnahmsvoll den Kopf über das junge Volk. Die Frau mit seinem Einstecktuch tippt ihm auf die Schulter. Sascha verabschiedet das letzte Kind. Mit einer Miene reinen Abscheus nimmt Günther das verschmutzte weiße Tuch entgegen und zeigt Sascha die roten Blutflecken, bevor er es voll Ekel in einen Abfallkorb schmeißt.

 

GÜNTHER:

Die blutige Nase eines deiner Schüler.

 

SASCHA:

Früher dachte ich noch, die Kinder wären der reinste und unschuldigste Teil der Menschheit; aber wie haben sie mich enttäuscht …

 

GÜNTHER:

Ist ein besonders bösartiges Völkchen, Sascha. (Pause) Hast du noch darüber nachgedacht?

 

Sie spazieren in die Richtung des Wagens, in dem Loudy wartet.

 

SASCHA:

Ich tu’s.

 

Günther ist stehengeblieben, er greift ihre beiden Hände und sieht ihr schweigend in die Augen.

 

GÜNTHER:

Bis jetzt war der ganze Plan nur eine Idee in meinem Kopf, Sascha, aber jetzt, wo du mitmachst, wird daraus eine Wirklichkeit aus Fleisch und Blut!

 

Loudy sieht vom Wageninnern aus, dass die beiden einig geworden sind.

Aus ihrer Handtasche angelt sie ihr Scheckheft, schraubt die Kappe ihres Füllers auf und setzt auf einen Scheck, auf dem ein Betrag von 100.000 Dollar eingetragen ist, mit schabenden Geräuschen ihre kräftige Unterschrift: Schloss St. Hubertus rückt in Reichweite.

 

Ein Wagen fährt durch die Nacht.

 

Mimis Mutter sitzt hinter dem Steuer, neben ihr Charles. Auf den Rücksitzen das zankende Ehepaar Reich.

 

HELGA (böse):

Ja sicher finde ich es eine Ehre!

 

MIMIS MUTTER:

Ich verstehe Sie nicht, Herr Reich …

Als wäre es keine große Ehre, dass Professor Unrat Ihre Frau gebeten hat, den Mädchen ein paar medizinische Kenntnisse beizubringen…

 

Sie ereifert sich gegen Charles:

Du wirst mir auch nicht ein Mal beistehen, oder Charles?

 

CHARLES:

Es stimmt, Professor Unrat ist nicht der Erstbeste, äh, er, äh…

 

HELGA:

Ach, geben Sie sich keine Mühe, (höhnisch)

... mein Gatte sieht das so - Er hat sich ein Mal im Leben für eine Sache erwärmt, und das passiert ihm kein zweites Mal, nicht wahr, Karl!

 

MIMIS MUTTER:

Frau Reich, wie ist es nur möglich, dass Sie Ihren Mann so gern nach Afrika gehen sehen, wenn er nun mal partout nicht will …

Sie wissen doch, dass wir schon jemanden dort haben, in Tanger.

 

CHARLES:

Ja ja … unser Mann in Tanger ist wirklich eine ausgezeichnete Kraft, Mamma … trotzdem kann ich mir schon irgendwie vorstellen, dass sich Günther in Afrika etwas mehr Rückhalt wünscht.

 

HELGA (zu Karl):

Ach du Depp, nun hilf ihnen schon und finde heraus, wo die Krankenschwestern gebraucht werden …

 

KARL:

Jetzt sei schon still, ich bin ja schon weg.

 

CHARLES (derb spaßhaft):

Dahin, wo die Mädchen gebraucht werden? Zufällig kenne ich jemanden, der gut eine brauchen kann.

 

MIMIS MUTTER (während sie ihren Schwiegersohn in die Rippen stößt):

Wenn sie nur einen Rock trägt, stimmt‘s, Charles?

 

HELGA (grübelnd):

Ja, wenn sie nur einen Rock trägt.

 

CHARLES (lacht plötzlich laut):

Hahaha, wenn sie nur einen Rock trägt …

 

MIMIS MUTTER:

Sag mal, wo ist dieses Schloss St. Hubertus nun eigentlich? Ich sehe schon seit einer Stunde keinen Wegweiser.

 

CHARLES:

Nein … und auch keinen Gegenverkehr.

 

Undeutliche Wagnerklänge sind zu hören.

 

Marlene irrt durch einen Korridor des Schlosses. Sie ist ziemlich elegant gekleidet, sorgfältig geschminkt und trägt einen äußerst kurzen Rock. Ihre Pfennigabsätze klappern auf dem Kachelboden.

 

MARLENE klopft an eine Tür und fragt in gedämpftem Ton:

Sascha?

 

Als keine Antwort kommt, geht sie weiter. Sie kommt der lauter werdenden Musik immer näher. Vor jeder Tür, einmal sogar während sie die Treppe hinuntergeht, ruft sie Saschas Namen.

 

Unten öffnet sie eine Tür, aus der sofort eine Flut von Wagner-Klängen entweicht; Günther, der mit vor Konzentration verzerrtem Gesichtsausdruck im Zimmer steht, ballt zufällig in diesem Moment die Faust, um seinen für Loudy bestimmten Ausführungen Nachdruck zu verleihen. Loudy blickt bewundernd und mit zustimmendem Nicken von ihrem Sessel aus zu ihm auf.

 

Leise schließt Marlene die Tür wieder. Unbemerkt setzt sie ihre Wanderung durch das Schloss fort.

 

Sascha sitzt in ihrem Zimmer auf der Bettkante und lässt den Saum aus ihrem Rock; sie trägt einen Unterrock, durch das Zimmer verstreut liegt der Inhalt ihres Koffers.

 

Vage hört sie ihren Namen rufen, erst so undeutlich, dass sie denkt, sie bilde es sich ein. Aber dann nach einer Weile so durchdringend, dass sie die Rufe nicht länger ignorieren kann.

 

Sie öffnet die Tür und sieht Marlene, die schon ein ganzes Stück an ihrer Tür vorbeigegangen ist.

 

SASCHA:

He … huhu.

 

Marlene blickt sich überrascht um und sieht Sacha, die sie so lange gesucht hat. Sie fliegt ihr entgegen und hält plötzlich inne.

 

MARLENE:

Ach Gott, ich hatte mich verirrt, ich such dich schon ewig …

(Stille)

… sie haben mir ein Zimmer im oberen Stock gegeben, ganz am anderen Ende, ein Speicherzimmer …

 

Eine kurze Stille senkt sich zwischen die beiden.

 

Dann bittet MARLENE zögernd:

Darf ich kurz reinkommen?

 

SASCHA:

Na klar, Marlene.

 

In Saschas Zimmer sieht Marlene sich prüfend um, sie stellt sich ans Fenster, um die Aussicht zu bewundern. Sascha betrachtet schweigend ihren Rücken, sie registriert Marlenes extrem kurzes Röckchen und nimmt dann erneut ihren Rock zur Hand, um den Saum weiter auszulassen.

 

MARLENE:

Gott, ist dein Zimmer aber hübsch, es ist so ganz anders als meins.

 

SASCHA:

Hmm?

 

Erneute Stille. Marlene steht noch immer mit dem Rücken zu Sascha vor dem Fenster. Dann, plötzlich, dreht Marlene sich um. Sie hat Tränen in den Augen.

 

MARLENE:

Ich will hier weg, mir ist es hier so unheimlich …

 

Sie setzt sich neben Sascha auf das Bett und spricht weiter:

 

Es ist so kalt und ich fühl‘ mich da oben so allein.

 

Marlene schaudert am ganzen Körper. Sascha legt mütterlich den Arm um sie.

 

MARLENE:

Heute Nacht werde ich fliehen.

 

Die Türe, die einen Spalt weit offengeblieben war, schwingt jetzt langsam auf. Günther hat sich in voller Größe in der Tür aufgebaut; malt sich Wut in seiner Miene? Marlene erschrickt bei Günthers Erscheinen sichtbar, ja sogar hörbar.

 

GÜNTHER:

Oh, ich sehe, ich komme ungelegen … Ich wollte euch nur auf eine Tasse Tee zu Loudy und mir in den Salon einladen. Schließlich ist es unser erster Abend hier …

 

Er schließt die Tür ohne ein weiteres Wort.

 

MARLENE entspannt sich und seufzt:

Ich weiß nicht, woran es liegt, aber der Mann macht mich nervös.

 

Sascha schweigt und widmet sich weiter ihrem Rock.

 

MARLENE:

Du lässt wohl den Saum aus deinem Rock, ja?

 

SASCHA:

Ja, Loudy hat mich darum gebeten, sie sagte, Günter habe etwas gegen Miniröcke, besonders, wo wir jetzt Krankenschwestern werden, er sagt, dass Neger falsch darauf reagieren.

 

Unterdessen ist Sascha in ihren Rock geschlüpft. Marlene stellt sich neben sie, sie vergleichen vor dem Spiegel die Längen.

 

MARLENE:

Mich hat sie nicht gebeten …

 

SASCHA:

Vielleicht hat sie’s einfach vergessen.

 

MARLENE (sieht nicht ohne Selbstgefälligkeit in den Spiegel):

Die sollen bloß nicht glauben, dass ich meine Röcke auch nur einen Zentimeter verlängere.

 

Günther öffnet die Tür des Salons, in dem Loudy sitzt. Die Musik von Wagner mündet gerade in eine bombastische Schlussklimax. Loudy sitzt hintenüber gelehnt mit geschlossenen Augen in ihrem Stuhl. Sie scheint Günthers Anwesenheit nicht zu bemerken. Kaum setzt er sich, endet die Musik, einen kurzen Moment bleibt es still; Loudy schwebt noch in höheren Sphären. Dann bleibt der Plattenteller mit einem trockenen Geräusch stehen.

Loudy sieht Günther an; ein Lächeln erscheint auf seinem nervösen Gesicht.

 

LOUDY (glücklich seufzend):

Ich war in höheren Sphären …

 

Die Türe schwingt auf. Elegant und im Gleichschritt betreten die beiden Blondinen den Salon; dennoch ist es vor allem Sascha, die die Blicke auf sich zieht.

 

SASCHA:

Da sind wir schon!

 

Ihre Bemerkung trifft auf eisige Leere.

 

Dann springt Günther von seinem Sessel auf und lässt die Mädchen auf zwei Stühlen Platz nehmen. Als Marlene sich setzt, malt sich auf Günthers Gesicht beim Anblick ihres kurzen Rocks, der allzu hoch rutscht, flüchtig vernichtende Ablehnung – was Marlene nicht entgeht. Unter seinem tadelnden Blick zieht sie den Rock etwas nach unten. Loudy rollt das Beistelltischchen zur Sitzecke.

 

LOUDY:

Noch kein Heimweh, ihr Hübschen?

 

(sie zwinkert Marlene zu, die recht niedergeschlagen dreinblickt)

 

SASCHA:

Zum Glück nicht, hätten wir hier schon Heimweh, wie soll‘s dann erst in Afrika gehen …

 

Loudy schenkt Tee ein. Sie rühren, das leise Löffelklirren unterstreicht die gespannte Stille.

 

GÜNTHER (die Mädchen betrachtend):

Ich war nie verheiratet … Leider nicht … Und Nachkommen habe ich auch keine.

 

Stille.

 

Und jetzt … jetzt darf ich es erleben, das Gefühl, eine Art Familie zu haben … Möge es eine glückliche Familie sein.

 

LOUDY:

Nun, ich denke, ich spreche auch im Namen der Mädchen, Günther, wenn ich sage, dass wir Frauen das genauso empfinden.

 

Sascha und Marlene tauschen einen unsicheren Blick; die Andeutung einer Familienbindung zum jetzigen Zeitpunkt geht ihnen etwas zu weit.

Loudy blickt die Mädchen fragend an, sie wartet auf eine Bestätigung ihrer Worte.

Auch Günthers Blick ruht schwer auf den Blondinen.

 

LOUDY:

Nun?

 

Sascha nickt reserviert, auch Marlene sieht sich gezwungen, vage zu bejahen, doch ihr Nicken lässt nicht auf Überzeugung schließen.

 

Der Wagen von Mimis Mutter braust schleudernd die kiesbestreute Auffahrt hoch. Mit einer kräftigen Bremsung kommt sie auf dem Innenhof zum Stehen. Sie beginnt etwas zu stürmisch zu hupen, Charles springt aus dem Wagen und drückt auf die Klingel, die traurig in den fernsten Winkeln des Schlosses nachhallt.

 

CHARLES kommt zum Wagen zurück und sagt:

Keine Menschenseele zu erblicken.

 

Er geht ein wenig um das Schloss, um nachzusehen, ob irgendwo Licht brennt.

 

Dann schreit er mit unkontrollierter Lautstärke:

He, ist jemand da?

 

Durch das Türfenster schaut Charles ins Innere. Am Ende der Eingangshalle öffnet sich eine Tür, in dem Lichtstreifen erscheint umrisshaft Günthers Gestalt. Kurz darauf ist die ganze Halle in gedämpftes Licht getaucht. Günther geht zum Haupteingang und öffnet feierlich die Türschlösser des Jagdhaus St. Hubertus von Berlage.

 

GÜNTHER (kühl):

Ihr habt das Schloss also doch gefunden, wie ich sehe.

 

CHARLES:

Richtig, Professor, da sind wir.

Sie kommen näher, um einzutreten, doch Günthers imponierende Gestalt versperrt weiterhin die Tür.

 

MIMIS MUTTER:

Und wenn wir Sie jahrelang hätten suchen müssen, gefunden hätten wir Sie doch …

(begeistert) Was für ein Schloss, genau was wir gesucht haben, nicht wahr, Professor …

 

GÜNTHER:

Warten Sie noch mit Ihrem Urteil, draußen ist es dunkel, innen ist es hell.

 

Er lässt sie eintreten, die Tür schließt sich.

 

Mehr oder weniger umrisshaft sehen wir durch die Fenster, wie die Gäste den Salon betreten, wo Loudy und die beiden jungen Frauen zu ihrer Begrüßung aufstehen.

 

Mimis Mutter verleiht ihrer Freude über die Einrichtung gestenreich Ausdruck, Charles bleibt in der Nähe der Mädchen, Helga spricht mit Günther. Alle bewegen sich durch den Raum.

 

Karl entfernt sich von der Gesellschaft und geht in Richtung der Kamera zum Fenster, wo er im Vordergrund stehenbleibt und finster hinausblickt.

 

Die Gesellschaft verlässt den Salon.

 

Draußen schwenkt die Kamera am Schloss nach oben, der Schrei einer Eule unterbricht die Stille. Im ersten Stock geht das Licht an. Die Gesellschaft drängt sich an den Fenstern. Jemand öffnet die Balkontüren. Günther und Helga erscheinen auf dem kreuzförmigen Balkon.

 

Aus einiger Entfernung hören wir HELGA:

Ach, Karl ist einfach ein Feigling, Professor Unrat, er traut sich nicht …

 

GÜNTHER:

Überlassen Sie ihn ruhig mir, Frau Reich.

 

Auf dem gegenüberliegenden Balkon taucht Marlene auf, direkt gefolgt von Charles.

 

MARLENE holt tief Luft und seufzt:

Puuh, mir ist so heiß …

 

CHARLES:

Pass auf, du …

 

Er versucht den Arm um ihre Schulter zu legen und flüstert:

 

Heiß, ja, das ist das Wort, das ich gesucht habe …

 

Marlene schüttelt seinen Arm ab.

 

CHARLES:

Sag mal, du bist aber kein solcher Eisschrank wie Sascha?

 

Sascha steht im Mantel draußen. Ihre Miene hat sich verdüstert. Mimis Mutter geht durch die Halle auf sie zu. Sie lacht entschuldigend und fasst Sascha kameradschaftlich am Arm. Saschas Miene ist nichts als Ablehnung zu entnehmen.

 

Aber MIMIS MUTTER ist nicht aus dem Feld zu schlagen. Süßlich sagt sie:

Glaub bloß nicht, dass ich das nicht sehe … du hast was gegen mich, und das völlig zu Recht … aber glaub mir, Kind, dass ich dir Anita im Zoo weggenommen habe, geschah nicht ohne Grund.

 

SASCHA (geringschätzig):

Bitte, ersparen Sie sich die Mühe …

 

MIMIS MUTTER:

Für Anita war es so wirklich am besten … Ich gebe zu, ich hätte es taktvoller anstellen können, aber ich dachte nur an den kleinen Schatz …

 

Da Sascha von ihren Worten völlig unbeeindruckt bleibt, entschließt sich MIMIS MUTTER nach kurzem Schweigen ein Scheit nachzulegen (melodramatisch):

Jetzt ist sie in einem Ferienlager, meine Enkelkind … und meine Tochter, meine Tochter ist eine weiße Sklavin!

 

(weinend) Ich besitze nichts mehr auf dieser Welt!!!

 

Sascha reißt sich aus ihrem Griff los und läuft angewidert weg.

 

Während hinter ihr Günther mit einer brennenden Fackel auftaucht, wiederholt MIMIS MUTTER schreiend:

NICHTS MEHR!!!

(danach leise in sich hinein murmelnd) Miststück.

 

Es ist nicht ganz sicher, ob Günther Letzteres gehört hat.

 

Im Hintergrund flackert jetzt noch eine Fackel, sie gehört Charles, der immer noch schamlos hinter Marlene herläuft. Zwei gefleckte dänische Doggen springen mit trostlosem Gebell am Drahtgeflecht ihres Zwingers hoch.

Dadurch dass Günther mit seiner Fackel auf sie zugeht, werden die Tiere noch unruhiger. Als er zu seinen Hunden spricht, erleuchten die Flammen seiner Fackel seine gequälten Gesichtszüge:

Sei doch ruhig, Wodan … und auch du, Donar!

 

Sascha ist einsam schon ein Stück in den Park hineingegangen. Helga ist ihr scheinbar unbeteiligt auf den Fersen. Nicht einmal als Helga sie aus nächster Nähe anspricht, reagiert Sascha.

 

HELGA:

Romantisch, nicht, so ein Abendspaziergang bei Mondschein.

 

SASCHA:

Hmm …

 

Helga geht sehr langsam, Schritt für Schritt mit ihr weiter.

 

HELGA:

Oder bist du nicht romantisch?

 

SASCHA:

Nur wenn es einen Grund dazu gibt.

 

Sie dreht sich um, die anderen kommen in ihre Richtung.

 

Günther mit seiner Fackel vorneweg.

 

SASCHA:

Und den gibt es nicht.

 

GÜNTHER ruft mit einem exaltierten Gesichtsausdruck nach Sascha:

Sascha, komm, schließt euch uns an, ich erzähle die Geschichte vom Heiligen Hubertus …

 

Sascha und Helga mischen sich unter die anderen, und sie ziehen weiter durch den Park, im Hintergrund das Schloss.

 

GÜNTHER:

Die Geschichte des Schlosses… Hubertus war ein besessener Jäger. Die Jagd, der Wald, das Wild – das war alles, was ihn interessierte ...

 

CHARLES, der eine eigene Fackel trägt, flüstert Marlene, der gegenüber er sich so vertraulich wie möglich gibt, ins Ohr:

Ich bin auch ein besessener Jäger …

(er lacht unterdrückt).

 

Marlene kann nicht anders und kichert mit.

 

GÜNTHER:

Eines Tages stand er Aug‘ in Aug‘ mit einen Hirsch, er legt an und da, in dem Moment, erscheint zwischen den Geweihstangen ein brennendes Kreuz und Hubertus hört eine göttliche Stimme sprechen.

 

MIMIS MUTTER:

Ach tatsächlich, eine göttliche Stimme?

 

GÜNTHER hält plötzlich an, dreht sich mit einem Ruck zu der Gesellschaft hinter ihm und spricht, während die Fackel ihn gespenstisch erleuchtet, mit Donnerstimme:

Entsaget dem wüsten Leben und weihet euch dem Geist!!!

 

Niemand sagt etwas, in der Stille ist nur das Rauschen der Blätter hörbar.

 

Dann fährt GÜNTHER leise fort:

Hubertus fiel auf die Knie und betete zu seinem Herrn.

 

Schweigend gehen sie weiter. Wir sehen sie von hinten verschwinden; nur die flackernden Fackeln bleiben sichtbar.

 

Trotzdem hören wir Günther noch weiter erzählen, von fern zwar, aber deutlich.

 

GÜNTHER:

In dem Kloster, in das er sich zurückzog, stieg sein Geist zu immer größeren Höhen auf …

 

Die dänischen Doggen trippeln in der Enge ihres mondbeschienenen Zwingers ruhelos hin und her. Von Zeit zu Zeit fängt eines der beiden Tiere nervös an zu jaulen.

 

Loudy, Charles und Mimis Mutter besteigen die Treppe. Plötzlich bleibt MIMIS MUTTER bewegt vor einem bleigerahmten Fenster stehen:

O, wen haben wir da, Sankt Hubertus und den Hirsch.

 

Charles beachtet das Fenster kaum.

 

LOUDY:

Jaja, das ganze Schloss ist voll mit dem Hl. Hubertus, eine Grille der Schlossherrin, die es erbauen ließ …

 

MIMIS MUTTER:

Gott, was für eine lustige Grille!

 

Oben stößt Loudy schwungvoll eine Tür auf.

 

LOUDY (zu Mimis Mutter):

Hier schlafen Sie.

 

Sobald Loudy das Licht anmacht, schlägt MIMIS MUTTER, schon bevor sie das Zimmer recht in Augenschein genommen hat, begeistert die Hände zusammen und sagt:

Gott, was für ein entzückendes Zimmer.

 

Sie wirft ihr Schminkköfferchen aufs Bett und schließt Charles theatralisch in die Arme.

 

MIMIS MUTTER:

Schlaf gut, liebster Schwiegersohn.

 

Sie küsst Charles wie selbstverständlich auf den Mund. Danach dreht sie sich zu Loudy, drückt die würdevolle Schlossherrin gnadenlos an die Brust und küsst sie auf beide Wangen.

 

MIMIS MUTTER:

Ein wunderbarer Abend, Loudy.

 

LOUDY lächelt wider Willen und sagt gutmütig:

 

Schlafen Sie gut.

 

Charles und Loudy setzen ihren Weg fort, Mimis Mutter verschwindet in ihrem Zimmer.

 

LOUDY sagt in gedämpftem Ton zu Charles:

Leise, hier schlafen die Reichs … und die Tür daneben, da schläfst du … Sag mal, Charles, täusche ich mich oder bist du schon etwas weniger unglücklich … wegen Mimi …

 

CHARLES:

Ja, die vielen neuen Gesichter hier … die lassen den Kummer schnell etwas in den Hintergrund treten …

 

LOUDY zwickt ihn ermutigend in den Arm, dann flüstert sie:

 

Gute Nacht …

 

Wir sehen Loudy in einem Schlafzimmer verschwinden, Charles schaut um sich, bevor er in seines tritt.

 

Das Jaulen der Doggen dringt bis in Helga und Karl Reichs Schlafzimmer.

Karl trägt einen gestreiften Pyjama, Helga ist noch im Unterrock. Er raucht eine Zigarre.

 

Helga ist dabei, ihre Koffer auszupacken, sie stellt ihre Rot-Kreuz-Blechdose auf ihren Nachttisch und hängt dann weiter ihre Kleider im Schrank auf. Sie ist erkennbar dabei, sich hier fest einzurichten. Beide reden nicht miteinander.

 

Wieder das Heulen der Hunde.

 

Karl springt auf, geht zum Fenster und öffnet es aufgebracht.

 

KARL:

Verdammt noch mal, diese verflixten Hunde.

 

Stille.

 

Er dreht sich zu Helga und sieht sie an, aber sein Blick wird nicht erwidert. Er tigert durchs Zimmer.

 

KARL (halb flehentlich):

Helga …

 

HELGA (ohne die Blickrichtung zu ändern):

Ja?

 

KARL geht auf sie zu. Während er sie von hinten umarmt, flüstert er in ihren Nacken:

Helgaa …

 

Ihre ohnehin schon kühlen Gesichtszüge erstarren, dann macht sie sich mit einer brüsken Bewegung aus seinen Armen los.

 

Er packt sie im Nacken und drückt sie fast würgend aufs Bett. Seine andere Hand schiebt sich unter ihren Unterrock.

 

Im Close-up sehen wir, wie seine fleckige Hand fast aggressiv über die Gänsehaut auf ihren Oberschenkeln hin und her streicht; weiter schwenkend sehen wir, wie er ihre Brüste grob betastet, noch weiter schwenkend sehen wir, wie seine fortschreitende Glatze sich vorbeugt, um ihren Nacken zu küssen. Dann sehen wir Helgas unbewegtes Gesicht, das puren Ekel ausdrückt.

Trotzdem erscheint um ihre Mundwinkel noch etwas, was einem Lächeln gleicht.

 

HELGA:

Reich, du bist kurz davor, wieder eine Heldentat zu vollbringen …

 

Ein Close-up von Günthers finsterem und gequältem Gesicht.

 

Stille.

 

Dann öffnet sich sein Mund:

Marlene …

 

Marlene, die neben Sascha im Salon sitzt, blickt erschrocken zu dem Mann, der da so furchterregend das Wort an sie richtet, lang hingegossen in seinem Stuhl, die Beine hochgelegt auf einem Tisch.

 

GÜNTHER:

Willst du immer noch fliehen?!

 

MARLENE erschrickt und sagt nervös zu Sascha:

Er hat es gehört.

 

GÜNTHER:

Natürlich habe ich es gehört.

 

Stille.

 

Marlene steigen Tränen in die Augen, und sie sieht hilfesuchend zu Sascha, die ihr ermutigend zunickt. Mit der einzigen Folge, dass Marlene nun wirklich zu weinen anfängt.

 

MARLENE:

Aber … ich will schon gar nicht mehr fliehen. Ich will nicht weg … ich will hierbleiben!

 

GÜNTHER:

Das wirst du auch.

 

Müde reibt er sich mit den Händen übers Gesicht.

 

SASCHA:

Leg dich doch schlafen, Marlene, du bist müde …

 

Sie steht auf, legt tröstend den Arm um Marlene und bringt sie zur Tür.

 

SASCHA:

Na komm, geh ruhig ins Bett.

Mit ihrem verweinten Gesicht dreht sich Marlene in der Tür noch kurz um und sagt mit erstickter Stimme zu Günther:

 

Adé alle …

 

Dann dreht sie sich um und rennt die Treppe hoch.

 

SASCHA setzt sich wieder und sagt:

Komisch, ich bin noch gar nicht müde.

 

Günther steht auf und stellt sich vor das Fenster; es wird schon wieder hell. Stille.

 

SASCHA:

Ich gehe aber trotzdem ins Bett …

 

GÜNTHER (ohne sich umzudrehen):

Leiste mir noch einen Moment Gesellschaft, Sascha.

 

Noch immer mit dem Rücken zu ihr geht er hinaus auf den Balkon. Auf das Geländer gestützt, lässt er den Blick über den Weiher gehen. Sascha geht zögernd durch das Zimmer auf den Balkon zu. Auf der Schwelle bringt sein ihr zugewandter Rücken sie fast dazu, den Rückzug anzutreten; sie stellt sich jedoch neben ihn. Mit einem tiefen ruhigen Blick wendet er ihr das Gesicht zu und sieht ihr in die Augen. Sascha lächelt. Dann schweift sein Blick wieder zum Weiher und zieht demonstrativ die frische Luft in die Lungen.

 

SASCHA:

Mmmm.

 

Günther sieht, wie sie nach seinem Beispiel die frische Luft in vollen Zügen einatmet; ihre Brüste wogen dabei sichtbar auf und ab.

 

Karl steht bleich vor dem Spiegel und rasiert sich mit einem Rasierhobel. Sein Haar ist ungekämmt, seine Augen noch verquollen von der vergangenen, traurigen Nacht, in der er wieder nicht gekommen ist. Insgesamt kein anregender Anblick, dieser Mann bei seiner Morgentoilette.

Helga ist schon fertig angezogen, sie trägt eine dunkelblaue Schwesternuniform, darüber einen gestärkten weißen Kragen; an den Füßen schwarze Schnürschuhe.

 

KARL:

Wir sollten Professor Unrat jetzt holen, ich möchte unter vier Augen mit ihm reden …

 

HELGA:

Gut, Karl.

 

Helga betritt den Salon. Die anderen sitzen dort offenbar schon eine Weile bei einem ausgedehnten Frühstück zusammen.

 

Gerade berichtet Mimis Mutter taufrisch, was ihr in der vergangenen Nacht widerfahren ist.

 

MIMIS MUTTER:

Ich sag‘s ja, zu verrückt, kein Auge, die ganze Nacht hab ich kein Auge zugemacht. Es kommt von der Stille, davon krieg ich Kopfschmerzen.

 

Helga ist beim Tisch stehengeblieben.

 

LOUDY:

Setzen Sie sich zu uns, Helga.

 

HELGA:

Nein … ich komme, um Professor Unrat zu bitten, ob er mit Karl etwas besprechen würde, oben auf seinem Zimmer.

 

GÜNTHER:

Muss das jetzt sein?

 

Er löffelt weiter das Eigelb aus seinem weichgekochten Ei.

 

HELGA:

Ja … jetzt ... (ironisch, während sie sich jetzt doch neben Marlene zu den anderen setzt) Freund Reich hat nämlich einen großen Entschluss gefasst.

 

Günther, in seinem weißen Hausmantel, steht auf und wischt sich den Mund mit einer Serviette ab.

 

LOUDY:

Treppe hoch, zweite Tür rechts, Günther.

 

Günther geht, kurzes Schweigen.

 

Sascha, die einen züchtigen Pyjama anhat, steht auf und schenkt Tee ein, Loudy lässt zwei geröstete Brotscheiben aus dem Toaster springen. Helga köpft mit einer treffsicheren Handbewegung ihr Ei.

Charles schlägt mit theatralischer Geste die Hand vors Gesicht und linst verstohlen durch die Finger zu Marlene hinüber.

 

CHARLES:

Wovon hab ich wohl heute Nacht schon wieder geträumt? Es war sehr angenehm, daran erinnere ich mich noch gut, ja, es hatte was mit …

 

Mimis Mutter kichert schon jetzt wissend und gibt sich dadurch als gute Versteherin zu erkennen.

Die anderen hören verständnislos zu, nur Marlene hat so ihre Vermutungen und läuft deshalb schamrot an.

 

CHARLES:

Es war warm, weich und hat sich bewegt …

 

LOUDY (die Charles‘ Erzählung nicht anhören will, zu Sascha, die ihr nur allzu gern statt Charles zuhört):

Ach Gott, Anisstreusel, und immer noch in der gleichen Dose wie als ich klein war.

 

Sie hält die Dose in der Hand.

 

CHARLES:

Und dann die Farbe … eine Art Rosa.

 

HELGA (die verrät, wovon Charles‘ Traum gehandelt hat, indem sie demonstrativ die Hand auf Marlenes legt):

Ich denke, wir haben jetzt alle hinreichend verstanden, wovon du geträumt hast.

 

Günther betritt Karls Zimmer, wortlos.

Karl sitzt bleich und finster auf dem Bett.

Er steht auf.

 

GÜNTHER:

Sie bluten ja, Herr Reich!

Auf Karls Gesicht ist tatsächlich eine Blutspur zu sehen.

 

KARL:

Ist vom Rasieren.

Er nimmt einen Wattebausch aus Helgas Rot-Kreuz-Dose und klebt eine Flocke davon auf die Stelle.

 

KARL:

Professor Unrat, ich will doch nach Afrika.

 

GÜNTHER:

Aha … ich halte Sie nicht auf.

 

KARL:

Ich will keine Komplimente.

 

GÜNTHER:

Selbstverständlich.

 

KARL:

Ich will nur noch weg.

 

GÜNTHER:

Ich werde mich um Ihre Überfahrt kümmern.

 

KARL:

Denken Sie, ich bin stark genug – für die Arbeit in Afrika?

 

GÜNTHER:

Sonst hätte ich Sie nicht eingeladen.

 

KARL streckt Günther die Hand hin und sagt:

Gut, dann werde ich jetzt gehen.

 

GÜNTHER:

Leben Sie wohl, Reich, und wenn Sie ankommen, setzen Sie sich bitte umgehend mit unserem Mann in Tanger in Verbindung. Sie helfen ihm zu klären, wo in Afrika die Krankenschwestern am dringendsten gebraucht werden. Loudy versorgt Sie gleich noch mit Barem.

 

Der Innenhof des Jagdschlosses. Sascha hat einen Mantel über ihren Pyjama gezogen, Marlene lehnt am Drahtgeflecht des Hundezwingers. Um den Wagen von Mimis Mutter, der vor dem Eingangstor parkt, stehen Mimis Mutter, Charles und Loudy.

 

CHARLES:

Loudy, nächste Woche komm ich wieder, verlass dich drauf … Ich hab wirklich das Gefühl, dass ich schon etwas über den Schlag mit Mimi hinweg bin … wegen der Ruhe hier …

 

Loudy nickt teilnehmend.

 

Günther öffnet schwungvoll die Eingangstür, um Karl durchzulassen. Günther bleibt stehen, Karl geht, an Helga vorbei, die an der Schlossmauer lehnt, zum Wagen.

 

Von der Mitte des Innenhofs schallt GÜNTHERS Stimme:

Herr Reich geht doch noch nach Afrika!

 

LOUDY stürzt auf Karl zu, ergreift seine Hand mit beiden Händen und sagt:

Wundervoll … Gratulation zu Ihrer Entscheidung!

 

Sie entfernt sich ins Haus.

Die Miene von Mimis Mutter verdüstert sich, gereizt steigt sie in ihren Wagen, schlägt laut die Tür zu und murmelt vor sich hin:

Herrje … das hat uns gerade noch gefehlt.

 

Aber sie nimmt sich zusammen, beginnt heftig zu hupen, lässt den Motor anspringen, wendet reifenquietschend, bremst und schreit jähzornig aus dem Fahrerfenster:

Wird das heute noch was?

 

Karl, todunglücklich, geht mit ausgestreckter Hand auf Helga zu.

 

KARL:

Mach’s gut, Helga.

 

Helga küsst Karl zum Abschied mit geschlossenen Lippen auf den geschlossenen Mund.

 

Charles und Karl steigen ein.

 

Gerade als Mimis Mutter abfahren will, läuft LOUDY atemlos aus dem Schloss heraus und ruft:

Bitte warten Sie, warten Sie.

 

Mimis Mutter tritt auf die Bremse. Atemlos reicht Loudy Karl durchs offene Wagenfenster ein Bündel Geldscheine herein.

 

Dann fährt der Wagen mit quietschenden Reifen ab.

Loudy sieht dem sich entfernenden Wagen verdattert nach. Marlene und Sascha, die bei Günther stehen, winken verhalten.

 

HELGA geht zu ihnen. Bitter sagt sie:

Das war’s dann mit Karl Reich.

 

Sie starrt vor sich hin.

Günther betrachtet sie. Es entgeht ihm nicht, dass ihr Gesichtsausdruck außer Bitterkeit auch echten Kummer spiegelt. Er legt den Arm um ihre Schulter und sagt:

 

Gehen wir hinein.

 

Loudy findet sich zwischen den angeschlagen wirkenden Mädchen wieder. Während auch sie Anstalten machen hineinzugehen, legt sie beiden einen Arm um die Taille und seufzt:

Ist schon weit weg, dieses Afrika.

 

Eine gellende Dampfpfeife; der Hafen.

Gebückt unter seinen khakifarbenen Seesack, ersteigt Karl die Laufplanke eines großen Küstenschleppers. Der Kapitän empfängt ihn, schüttelt ihm die Hand und verschwindet mit ihm in seine Kajüte.

Sich mühsam ihren Weg durch die Gepäckträger bahnend, eilt Mimis Mutter über den Kai. Suggestive Musik erzeugt einen leichten Hauch von Suspense. Sie eilt die Laufplanke empor.

 

Ein Matrose hält sie auf.

 

MIMIS MUTTER (keuchend):

Ich muss Herrn Reich sprechen, wo ist seine Kabine?!

 

Eingeschüchtert geht der Matrose voraus.

In seiner Kabine wühlt der in eine weiße Tropenjacke gekleidete Karl in seinem Seesack. Er findet einen Tropenhelm, den er aufsetzt, um sich finster im Spiegel zu betrachten.

 

Unsanft wird seine Kabinentür aufgestoßen, in der Türöffnung: Mimis Mutter.

 

MIMIS MUTTER:

Karl, fahren Sie nicht mit!

 

KARL (bestürzt):

Was?!

 

MIMIS MUTTER:

Gehen Sie nicht nach Afrika! Es wird Ihnen dort sicher schlecht ergehen.

 

KARL:

Ach so, Sie haben ein Vorgefühl …

 

MIMIS MUTTER:

Das Schiff legt in zwei Minuten ab!

(weinerlich flehend) Nun kommen Sie in Gottes Namen mihit!

 

Sie fängt an, an ihm zu zerren, aber er schüttelt sie ab.

 

Dann tut sie, als würde sie zur Tür laufen, kramt etwas in ihrer Handtasche, dreht sich plötzlich um und richtet einen kleinen, mit Perlmutt eingelegten Damenrevolver auf den Mann, der ihren Plänen im Weg steht.

 

Karl reagiert nicht. Die Schiffsglocke gellt. Die Pistole bebt in ihrer Hand, während sie den Lauf direkt auf ihn richtet.

 

MIMIS MUTTER (die sich unbeteiligt gibt):

Gut … Das war’s dann mit Karl Reich!

 

Ein tieferer Ton fügt sich zum hohen Gellen der Sirene.

 

KARL:

Sterben für ein Ideal, gibt‘s was Schöneres.

 

Er schließt die Augen und sagt dann drängend:

 

Schieß, Weib!

 

Mimis Mutter ist wütend und ratlos zugleich, sie holt aus und schlägt ihm mit erschreckender Härte mitten ins Gesicht.

Im nächsten Moment läuft sie weg.

 

Sie stürzt auf die Laufplanke zu, die gerade eingeholt werden soll. Die Trossen werden losgemacht, die Frau läuft, ohne sich umzublicken, zu ihrem Wagen.

 

In seiner Kabine sitzt Karl Reich, er legt den Tropenhelm ab und versucht mit der Hand das Blut zu stillen, das aus seiner Nase quillt.

 

Das Schiff legt ab.

Der Austritt über dem Weiher

 

Marlene liegt bäuchlings am Boden, erschöpft und keuchend.

 

Sie ist in eine Art Majorette-Uniform gekleidet – kurzer Rock und Kniestrümpfe; ebenso Sascha, die den Oberkörper ein letztes Mal mit zitternden Armen hochstemmt, um ihn danach todmüde sinken zu lassen.

 

SASCHA seufzend zu Marlene:

 

Wie schafft er …

 

Jetzt sehen wir quer vor ihnen in voller Größe Günther, der dynamisch, vital, mit schwellenden Armmuskeln einen Liegestütz nach dem anderen macht. Er trägt grellfarbige kurze Hosen und ein über der Brust spannendes Hemd. Er denkt nicht ans Aufhören; dass die jungen Frauen aufgegeben haben, merkt er gar nicht.

 

Sie stehen auf und stellen sich direkt neben seinen sich hebenden und senkenden Kopf.

 

Er sieht ihre Turnschuhe, während er den Oberkörper senkt, daraufhin stemmt er sich erneut hoch, dreht das verschwitzte Gesicht angestrengt zu ihnen und sieht sie an.

 

SASCHA:

Wir können echt nicht mehr, Günther …

 

MARLENE:

Wir üben schon eine Stunde.

 

GÜNTHER kommt geschmeidig zum Stand, atmet einmal tief ein und danach ebenso tief aus. Während er sich den Schweiß von der Stirn wischt, sagt er beiläufig:

Meinen Anzug.

 

Die Mädchen reichen ihm seinen Trainingsanzug; die Hose zieht er selber an, in die Jacke hilft ihm Marlene. Sascha legt ihm sein weißes Handtuch um, das er mit beiden Händen straff um den Nacken spannt, während er noch kurz von einem Fuß auf den anderen hüpft; der Mann ist pure Dynamik. In seinem nicht aufzuhaltenden Bewegungsdrang gibt er beiden Mädchen noch einen spielerischen Klaps auf den Po.

 

GÜNTHER:

Ab unter die Dusche, ihr zwei, Helgas Unterricht geht gleich los.

 

Sie gehen ins Haus.

 

LOUDY hält ihn im Salon kurz auf und sagt:

Günther …

 

Sascha sieht sich flüchtig um. Aber Loudy wartet, bis die Mädchen verschwunden sind, und fährt erst dann fort:

Du bist phantastisch, Günther …

 

Er geht geschmeidig in die Richtung der Tür, sieht lachend über die Schulter und singt:

Happy days are here again, sasadap sasa dadujadap

 

Drei Stufen auf einmal nehmend und den Song pfeifend, der von den massiven Wänden des Schlosses zurückgeworfen wird, läuft er die Treppe hinauf.

 

Marlene steht in ihrer Turnuniform vor einem hohen Spiegel. Sascha, in der Dusche, trocknet sich mit einem kleinen Handtuch ab.

 

SASCHA (nachdenklich):

Komisch, dass ein Mann wie er nicht verheiratet ist, findest du nicht?

 

MARLENE zuckt die Schultern und sagt:

Hmm …

 

SASCHA:

Es gab wahrscheinlich eine unglückliche Liebe, über die er nie hinweggekommen ist …

 

MARLENE:

Na hör mal, wir leiden doch alle mal an einer unglücklichen Liebe.

 

SASCHA:

Schon, aber er kommt mir wie einer vor, der sich das schrecklich zu Herzen nimmt, wer weiß, vielleicht hat er seither keine Frau mehr angeschaut.

 

MARLENE:

Na, ich weiß nicht – so wie der dich manchmal anschaut …

 

Günther stößt kraftvoll die Tür auf, über seiner roten Turnhose trägt er jetzt seinen Hausmantel. Er ist nicht im Mindesten überrascht, die Mädchen zu sehen.

 

GÜNTHER:

Jetzt bin ich dran.

 

Sascha kann ihre Blöße hinter dem kleinen Handtuch mehr schlecht als recht verbergen.

GÜNTHER betrachtet sie erstaunt, ohne mit der Wimper zu zucken:

Sag mal, Sascha … du schämst dich doch nicht etwa?!

 

SASCHA:

Tut mir leid … es fällt mir immer noch ein bisschen schwer. Marlene, gibst du mir meine Sachen rüber …

 

Marlene nimmt Saschas Unterrock, knüllt ihn zusammen und wirft.

 

MARLENE:

Fang!

 

Sascha fängt den Unterrock, muss dazu jedoch das Handtuch fallen lassen, sodass sie in ihrer Panik nicht anders kann, als sich mit dem Unterrock zu bedecken.

Sascha zieht den Vorhang vor, um sich weiter anzuziehen. Günther hat sich unterdessen vorgebeugt, um seine Turnschuhe auszuziehen, und richtet sich fluchend wieder auf.

 

GÜNTHER:

Verdammt, immer diese Schnürsenkel …

 

Marlene stürzt herbei, und Günther stellt bereitwillig seinen Fuß auf den Wäschekorb, damit sie den Knoten entwirren kann. Er schält sich währenddessen aus seinem Hausmantel.

 

GÜNTHER:

Es gibt Frauen, die ihrem Schoßhündchen einen Mantel anziehen, und dann lachen die Leute, aber sobald ein Mann bloß die Jacke auszieht …

(er zieht das Hemd über den Kopf aus)

Schamrote Gesichter sind die Folge!

 

Marlene ist inzwischen fertig mit den Schnürsenkeln. Günther schleudert die Turnschuhe von den Füßen und hängt seinen Hausmantel und sein Hemd an einen Haken. Die Mädchen im Rücken, beginnt er seine Turnhose auszuziehen. Sascha – im Unterrock – öffnet den Vorhang und erschrickt sichtlich.

 

Über ihre Schulter sehen wir jetzt, wie der nackte Mann in Rückenansicht jetzt auch seine Unterhose aufhängt.

 

GÜNTHER:

Ihr werdet euch an das Nacktsein gewöhnen müssen, denn was dachtet ihr denn, in Afrika laufen die Neger doch auch herum, wie Gott sie erschaffen hat!

Er geht entspannt zur Dusche hinüber, wo Sascha in der Eile ausrutscht. Er dreht an den Wasserhähnen. Bedrückt und beeindruckt lassen die Mädchen Günther fast überstürzt zurück.

 

Auf dem Flur albern sie ein wenig herum, um sich von dem Schreck zu erholen. Marlene zieht ein unzufriedenes Gesicht und stellt fest:

Blöd, ich hab nicht mal duschen können!

 

Eine Tür öffnet sich.

 

HELGA ruft:

Sagt mal, wird’s heute noch was?

 

Loudy stürzt aufgeregt die Treppe zum Badezimmer hinauf.

 

LOUDY:

Günther, Günther!

 

Sie läuft ins Badezimmer. Günther, im halb geöffneten Hausmantel, trocknet sein Haar mit einem Handtuch.

 

LOUDY (entrüstet):

Du errätst nie, wer angerufen hat, Mimis Mutter!

 

GÜNTHER (besänftigend):

Loudy…

 

LOUDY (unverändert erregt):

Der Mann in Tanger wollte von ihr wissen, wo die Mädchen bleiben. Er meinte, es werde allmählich Zeit.

 

GÜNTHER (seine Miene umwölkt sich unheilvoll):

Waas?!

 

LOUDY:

Jaja, und sie sagte auch, es könne nicht länger warten, Afrika warte schon händeringend auf sie, sagte sie.

 

GÜNTHER (würdevoll, aber verbissen):

Aber das ist doch reiner Irrsinn, Loudy! Wir veranstalten hier doch keinen Schnellkurs! Das muss ein Missverständnis sein.

 

LOUDY:

Jaja, Günther, das sagte ich auch, dass alles gerade so gut läuft und dass wir gar nicht dran denken, na hör mal, die haben wohl den Verstand verloren!

 

GÜNTHER:

Beruhige dich doch, Loudy, denn eines versprech ich dir: Kein Mädchen verlässt das Schloss hier, ehe sie in unseren Augen dazu bereit ist! Ein Irrsinn! Das können die vergessen …

Was essen wir eigentlich heute Abend?

Helga ist in ihre Schwesternuniform gekleidet. In dem Raum, der ihr zugewiesen wurde, steht ein Rumpf mit entnehmbaren Organen. An der Wand hängen medizinische Tafeln und ein Porträt von Albert Schweitzer in Lambaréné. Mit einem Wattebausch desinfiziert sie Sascha an einer fleischigen Stelle am Oberarm. (Sascha ist noch immer in ihrem Unterrock, Marlene trägt noch ihre Majorette-ähnliche Uniform.)

 

HELGA erklärt Marlene:

Ich mach‘s jetzt in den Arm, aber in den Po geht‘s auch.

 

Sie nimmt eine der Injektionsspritzen, die auf einem schneeweißen Tuch bereitliegen. Sie bildet an Saschas Arm eine Hautfalte und jagt die Nadel hinein.

 

SASCHA:

He, das tut ja wirklich nicht weh, so wie du‘s machst.

 

HELGA:

Jetzt bist du zwar geimpft, Sascha, aber gegen nichts.

 

Um das Gesagte zu veranschaulichen, zieht sie die Nadel heraus und demonstriert kurz, dass sie keine Flüssigkeit enthalten hatte. Dann nimmt sie Saschas Platz ein.

 

HELGA:

Das ist mein Arm, Marlene. Und das ist die Nadel …

 

Marlene ergreift zögernd die Injektionsspitze, die Helga ihr hinhält, und umklammert Helgas Arm.

 

Helga wirft trotzig den Kopf in den Nacken.

 

SASCHA:

Ich kann da nicht hinschauen.

 

Marlene überwindet ihre Angst, und mit dem Mut der Verzweiflung jagt sie die Nadel ins Fleisch ihrer Lehrerin.

 

HELGA zuckt vor Schmerz zusammen und ächzt:

Das braucht noch viel Übung, Kindchen!

 

Karl sitzt in seiner Tropenkleidung in einem Schlitten mit abgedunkelten Scheiben, der dem Araber gehört. Karl schwitzt wie ein Schwein und wischt sich mit einem Taschentuch ständig die Stirn. Der Araber hinterm Steuer ist in einen Kaftan gekleidet, auf dem Kopf trägt er einen Fez mit schwarzer Quaste.

 

KARL schnappt nach Luft und keucht:

Ich habe solchen Durst.

 

Der Araber fährt ungerührt weiter.

 

KARL packt ihn an der Schulter und drängt:

He, Achmed oder wie du heißt, ich will trinken … Wasser …

 

Achmed schaut weiter stur geradeaus.

 

Der Wagen braust in einer aufwirbelnden Sandwolke durch die Wüste.

 

Der ARABER geht mit ausgebreiteten Armen den Gang hinauf und hebt überschwänglich an:

Aahh, Mr. Reich, I presume.[7]

(Er bricht in homerisches Gelächter aus.)

 

In der Mitte des Vorraums steht der schwankende Karl. Er ist mehr tot als lebendig. Die Kleiderfetzen kleben ihm am Leib.

 

KARL:

Wasser …

 

ARABER:

Wasser? Bier!(auf Arabisch:) Bring sofort Bier!

 

Er hilft Karl ins Wohnzimmer hinüber.

 

ARABER (während er den tapsenden Karl ins Zimmer lotst):

Ist nicht leicht, nicht wahr, so auf der Schwelle zu einem neuen Leben.

 

Achmed geht mit einem gigantischen schäumenden Bierkrug ins Wohnzimmer. Drinnen angelt sich Karl den Krug vom Tablett, verschüttet dabei etwas auf seine Hose und schnappt gierig nach dem Schaum.

 

ARABER:

Ja, der Unrat, der ist ein Übermensch.

 

Kaum hört er das in Verruf geratene Wort, verschluckt sich KARL an seinem Bier, hustet ausführlich und presst mühsam hervor:

Nehmen Sie’s mir nicht übel, gegen das Wort bin ich allergisch geworden.

 

ARABER:

Ach, natürlich, das hätte ich wissen können. Ich meinte aber Folgendes: Dieser Professor ist meines Erachtens der Letzte der Mohikaner in einem todkranken Europa.

 

Stille.

 

KARL:

Die Hitze, ich frage mich, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde.

 

Der ARABER steht auf. Beschwörend hebt er die Hände und sagt geheimnisvoll:

Moment …

 

Er nimmt eine Flasche aus arabischem Glas, hält sie in die Luft und verkündet:

Die Antwort des Beduinen!

 

Er schenkt ein Gläschen einer klebrigen, giftgrünen Flüssigkeit ein und überreicht es Karl.

 

ARABER:

Wenn sie den ganzen Tag im Sand geschuftet haben, ist den Arabern meistens auch nach einer Erfrischung zumute … und dann greifen sie nach dem hier, kapiert, Karl?

 

(Stille) Manchmal werden auch zwei draus …

 

Karl, der das Gesöff mit einem Zug hinunterkippt, reißt sofort die Augen weit auf und bittet um noch ein Glas.

 

Die dicke, beringte Hand des Arabers legt den Tonarm des Plattenspielers auf die erste Rille einer Platte mit sinnlichen arabischen Klängen, die nichtsdestotrotz von einem westlichen Orchester stammen könnten. Dieselbe Hand fängt jetzt an, zur Musik zu schnipsen.

 

KARL schlägt mit der Faust auf das Tischchen vor ihm und lallt:

Karl Reich will noch so ‘ne Antwort vom Beduinen!

 

Der Araber schenkt sein Glas wieder voll und winkt jemandem. Auf Karls Gesicht malt sich höchstes Erstaunen, sein Kiefer klappt herunter; in der Türöffnung ist Mimi erschienen.

 

Mit Karl sehen wir, wie sie in einem durchsichtigen asiatischen Kleidungsstück mit Schleier am Türpfosten lehnt; dabei nimmt sie eine äußerst laszive Pose ein.

 

Im Takt der Musik fangen erst ihre Hüften an zu kreisen, dann schwingen ihre Arme mit, kurz darauf bietet sie mitten im Zimmer eine amateurhafte Imitation eines Bauchtanzes.

 

Direkt vor Karls Nase lässt sie das Becken kreisen und nötigt ihn dabei quasi neckend mit den Armen zu sich. Ihre Animation würzt sie völlig unpassenderweise mit feurigen Rufen:

 

Olé, olé!

 

Der Araber stimmt mit ein, indem er ohne jede Überzeugung in die Hände klatscht – ab und zu muss er seine Aktivitäten unterbrechen, um sich den gähnenden Rachen zuzuhalten. Karl startet eine unerwartete Attacke auf Mimis Schleier, sie kann das abgerissene Tuch jedoch festhalten. Sie lässt es einige Male um Karls Kopf wirbeln, um sodann den kurzatmig nach Luft schnappenden Deutschen mit dem durchsichtigen Tuch, das sie ihm um den Kopf bindet, zu blenden.

 

Das rhythmische Geklatsche des Arabers geht jetzt über in abgehacktes, forderndes Klatschen. Mimi treibt ihren gewagten Akt weiter und flüstert Karl lockende Worte ins Ohr.

 

Leicht verärgert verlässt der Araber den Raum.

 

MIMI wird plötzlich ernst; nachdem sie das Tuch von Karls Gesicht zurückgeschlagen hat, zischt sie hastig:

Wie geht es meinem Mann, Charles? Ich bin Mimi. Ist er auch nicht allzu unglücklich?

 

KARL (benommen):

Charles? Charles … O ja, Charles …

 

In dem Moment kommt der Araber herein, gefolgt von zwei Kongo-Söldnern, darunter ein Neger.

 

ARABER:

Ihr Taxi, Reich.

 

KARL:

Taxi?

 

ARABER:

Ja, Ihr Taxi. Die Herren hier bringen Sie zurück in Ihr Hotel.

 

Die Söldner packen Karl von zwei Seiten unter den Achseln und manövrieren ihn hinaus. Der Araber folgt ihnen, Mimi verstohlen hinter ihm. Als er die Tür aufhält, fügt er an Karl gewandt noch hinzu:

Sie werden Afrika lieben, Reich, das weiß ich jetzt schon ganz sicher.

 

Im Scheinwerferlicht des Jeeps sehen wir, wie KARL sich noch einmal umdreht und weinerlich ausruft:

Mimi! Auf Wiedersehen! ...

 

Wir hören die Anfahrt des Jeeps, dann das Absterben des Geräusches.

 

ARABER:

Armer Reich, vielleicht wäre er in der Fremdenlegion besser aufgehoben, aber letztlich … die Söldner werden schon auch wissen, wohin mit ihm.

(Um sein Schuldgefühl loszuwerden):

Dieser verrückte Professor aber auch, uns diesen Scheißdeutschen anzuhängen …! Soll lieber Dampf machen mit den Weibern!

 

Im Schlafzimmer von Mimis Mutter: Charles geht ruhelos auf und ab.

Mit gespieltem Schrecken lässt Mimis Mutter sich in einem flatternden Nachthemd durchs Zimmer jagen.

 

CHARLES (schrill):

Erst zieh ich sie an den Haaren vom Bett und dann spuck ich ihnen in die Fresse … und tret sie von einer Zimmerecke in die andere.

 

Er macht einen Scheinangriff in die Richtung von MIMIS MUTTER, die einen spitzen Schrei ausstößt:

Und danach drück ich meine Kippe auf ihren Titten aus.

 

MIMIS MUTTER:

Mein Gott, Charles,

(sie lacht)

was für Männersprüche! Was hast du plötzlich mit den Mädchen?

 

CHARLES plumpst aufs Bett und ruft:

Das machen sie doch mit Mimi auch!! Oder etwa nicht?

(schreiend) Und du hast es doch auch am liebsten so.

 

Sprachlos – streng, aber auch mit einem verhohlenen Lächeln – sieht Mimis Mutter ihren Schwiegersohn an. Sie legt sich aufs Bett und gibt sich äußerst schüchtern.

 

MIMIS MUTTER:

Herrgott, dass du die weibliche Seele auch noch mal so durchschaust … Weißt du, Charles, darin versagen alle Männer; Sie wollen einfach nicht sehen, dass jede Frau sich im Herzen nichts mehr wünscht, als von einem schwitzenden Galeerensträfling entführt zu werden, der sie in eine dunkle Höhle verschleppt und dort erniedrigt, vergewaltigt und in den Staub tritt, einen Wüstling, der sie anbrüllt und ihr wehtut und … sie bricht!

(Sie erschrickt selber vor dem, was sie da sagt.)

 

Stille.

 

MIMIS MUTTER fährt fort:

Bitte sehr: der Schlüssel zum Erfolg – ein Gratisgeschenk von Mimis Mutter.

 

CHARLES (mit zusammengebissenen Kiefern):

Denen werd ich’s zeigen, am Sonntag auf Schloss Hubertus! Wenn ich’s jetzt nicht tue, machen’s später die Neger.

 

MIMIS MUTTER (geschäftsmäßig):

Also lässt du Anitas Besuchstag wieder aus? Mir ist das gleich, ich müsste es nur wissen …

 

Günther tigert unruhig vor den Fenstern des Jagdschlosses St. Hubertus auf und ab; es ist kurz vor Einbruch der Dämmerung.

 

Loudy folgt ihm besorgt mit den Augen.

 

Es ist einer der seltenen Momente, in denen wir Günther rauchen sehen, seine Brauen sind nachdenklich zusammengezogen. Sie haben offenkundig ein Riesenproblem.

 

GÜNTHER:

Ich muss mit ihnen darüber reden. Ich sage ihnen einfach, dass die Zeit bald gekommen ist, wo unser Mann in Tanger sie holen kommt, damit sie mit ihm nach Afrika gehen.

 

LOUDY:

Afrika … das hört sich so unwirklich an.

 

GÜNTHER:

Ich werde sie ins Gesicht fragen, ob sie eigentlich noch Lust haben, am gänzlich anderen Ende der Welt Eingeborene zu pflegen.

 

Die Gefühlsregung, die bei seinen letzten Worten in seiner Stimme anklingt, verrät nur zu deutlich, dass Günther hofft, dass die Mädchen nicht mehr daran denken, das Schloss und ihn noch je zu verlassen.

 

GÜNTHER (nach einem Schweigen):

Also beiße ich eben in den sauren Apfel!

 

LOUDY:

Gewiss, je eher, desto besser, ich hol sie dir.

 

Sie steht auf und geht hastig zur Eingangshalle, in der sie den Gong dreimal schlägt – das Zeichen, zusammenzukommen.

 

Die Gongschläge schallen unheilkündend durch das Schloss.

 

Als die Klänge verebbt sind, fragt sie, um sich selbst zu beruhigen:

Günther, sag, wir haben es hier doch herrlich, oder?

 

Günther sieht sie nur finster an.

Die zwei Mädchen kommen ins Zimmer, gefolgt von Helga.

 

In der Türöffnung schält sich Sascha mit einiger Mühe aus einem Dreieckstuch.

 

HELGA:

Wir waren gerade bei den Armbrüchen.

 

Loudy blickt nervös zu Günther, der reglos aus dem Fenster starrt.

 

LOUDY:

Setzt euch doch, bitte.

 

Tiefes Schweigen senkt sich, das unangenehmste bisher.

 

Dann sagt GÜNTHER, der noch immer aus dem Fenster starrt:

Möchte keiner eine Tasse Tee?

 

HELGA bricht als Erste das Schweigen:

Da sagen wir sicher nicht nein.

 

Loudy beginnt nervös einzuschenken, bei jeder Tasse landet Tee in der Untertasse, bevor sie sie weiterreicht.

 

Als Sascha ihre Tasse nimmt, wirft sie einen flüchtigen Blick auf Günthers dunklen Rücken und beißt sich auf die Lippe.

 

Loudy stellt Günthers Tasse auf den leeren Beistelltisch.

 

Löffelklirren.

 

LOUDY (verzweifelt):

Dein Tee wird kalt, Günther.

 

Günther dreht sich um und setzt sich in seinen Sessel.

 

Er rührt schweigend in seiner Tasse.

 

GÜNTHER (auf Saschas verbundenen Arm und das Dreieckstuch deutend):

Deine Arbeit, Marlene, das Dreieckstuch?

 

Zur Bestätigung zieht Marlene nervös die Brauen hoch.

 

Untergehende Sonne, Außenaufnahme.

 

Vor der Eingangstür des Schlosses steht ein flott aussehender junger Mann im Regenmantel, in der Hand eine Reisetasche.

 

Er führt die Hand zur Klingel und drückt sie.

Im Wohnzimmer hören wir das widerhallende Klingelgeräusch. Die ohnehin steife Gesellschaft erstarrt vor Staunen; wer kann das sein?

Noch einmal ertönt die Klingel.

 

HELGA:

Ist es nicht klüger, wenn wir einmal nachsehen, wer da ist?

 

Sie steht auf, ihre Absätze hallen unangenehm auf den Fliesen wider.

Der junge Mann späht durch die Scheibe ins Innere. Die Tür öffnet sich. Helga sieht ihn nur fragend an.

 

BOB:

Wohnt Sascha hier?

 

HELGA:

Sascha … der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, ja.

 

BOB:

Ich heiße Bob, ich bin Saschas Freund.

 

HELGA:

Ach, dann kommen Sie bitte herein, nicht wahr.

 

Helga öffnet die Wohnzimmertüre.

 

HELGA:

Das ist Bob.

 

Sie setzt sich wieder auf ihren Stuhl, sodass der junge Mann verloren in der Türöffnung zurückbleibt.

 

BOB (bemüht unbeschwert, nach einem kurzen Schweigen):

Guten Abend zusammen!

 

Sein Blick fällt auf Sascha:

Grüß dich, Sas!

(Scherzend) Herrjemine, wie kommst du denn in diesen Harem?

 

Sascha erschrickt.

 

GÜNTHER (aggressiv):

Ich sehe schon, wir haben es mit einem Witzbold zu tun … Komisch, dass Sascha mir nie von dir erzählt hat, Bob …

 

Günther steckt sich eine Zigarette an. Er steht von seinem Stuhl auf und geht bedrohlich auf Bob zu.

 

GÜNTHER:

Professor Unrat, mit Verlaub, Bob.

 

Der Name des jungen Manns knallt wie ein Sektkorken aus seinem Mund.

Er baut sich vor dem Jungen auf und bläst ihm nicht allzu nachdrücklich seinen Zigarettenrauch ins Gesicht.

 

GÜNTHER:

Gibt man sich heute nicht mehr die Hand, Bob.

 

Bob gibt Unrat halbwegs ironisch die Hand.

 

BOB:

Bob … Ich bin Saschas Freund.

 

Er geht an Günther vorbei, stellt sich hinter Saschas Stuhl, beugt sich vornüber und drückt ihr einen etwas unglücklichen Kuss auf die Wange.

 

BOB:

Hallo, Schatz.

 

Sascha schiebt seinen Kopf weg, ihre Miene wird frostig.

 

BOB wendet sich zu Günther und sagt, halb gebrochen, halb gehässig:

Aha, das heißt, Sie haben meinen Platz eingenommen … ich dachte mir schon, dass ein anderer im Spiel sein muss, wenn Sascha nichts mehr von sich hören lässt, so auf einmal.

 

GÜNTHER (eine kleine Spur zu laut und zu nachdrücklich, um freundschaftlich zu sein):

Und Sie gar nichts hat hören lassen, Bob?

 

BOB (burschikos und mit verzweifeltem Humor):

Nein, Mensch, das ist es doch gerade … nicht ein Wort.

 

GÜNTHER:

Du denkst, du hast sie, nicht wahr, Bob, aber dann, hopp!

(er schnipst zornig mit den Fingern)

Dann sind sie wieder weggeflogen!

 

BOB (kühl):

Nicht wahr, Unrat, es ist schon was mit den Mädeln.

 

Bob lässt seinen Blick über die vier Frauen schweifen.

 

GÜNTHER geht energisch auf Bob los, packt ihn fest am Arm und schiebt ihn in Richtung Tür. Kurz sieht es so aus, als würde er Bob kurzerhand hinauswerfen, aber an der Tür dreht er sich um und sagt:

Du auch, Sascha.

 

SASCHA (erschrocken):

Ich?

 

Sie sucht Unterstützung bei den anderen Frauen.

 

HELGA:

Ich denke schon, er meint dich, ja.

 

Grob führt Günther Bob durch das Foyer, hinter ihnen her kommt Sascha. Sie gehen die Treppe hinauf.

 

LOUDY, im Wohnzimmer verdutzt mit den anderen zurückbleibend:

Was meint denn der Bob mit „ein anderer im Spiel“? Er meint doch nicht, dass Günther …

 

MARLENE (vor allem zu Helga):

Ich hatte schon auch manchmal zwei Verehrer zur gleichen Zeit, aber darunter war natürlich kein Günther.

 

HELGA (noch ein Scheit nachlegend):

Ich heiße Bob. Ich bin Saschas Freund.

 

In Günthers Zimmer. Sascha steht mit dem Gesicht zur Wand und weint.

 

SASCHA (mit erstickter Stimme):

Geh weg, Bob.

 

Bob packt sie und dreht sie roh herum, behält sie mit beiden Händen fest im Griff.

 

BOB (verzweifelt):

Weg?!! Und dich soll ich hierlassen, bei so einem Monster!!

 

Du glaubst doch nicht, ich durchschaue nicht, was der mit euch anstellt …

 

Wir sehen, wie Günthers Muskeln sich anspannen, er macht sich unwillkürlich fertig, um diesen Idioten mit einem einzigen gnadenlosen Schlag zu erledigen.

Eins ist klar: Wenn dieser Mann je zuschlägt, dann schlägt er hart zu.

 

Aber Günthers stählerne Faust wird das Urteil über Bob nicht vollstrecken.

 

SASCHA erkennt den Abgrund in Günthers Blick und schreit auf:

Tu’s nicht, Günther!

 

Sie fällt auf die Knie und umklammert schluchzend seine Beine.

 

SASCHA:

Schick ihn fort, schick ihn fort.

 

GÜNTHER (kühl, aber nicht unfreundlich):

Komm mit, Bob, ich lass dich hinaus.

 

Mit stählernem Griff führt er den fassungslosen Bob ab. An der Haustür sagt er:

Tut mir leid für dich, Bob … Sascha ist ein hinreißendes Mädchen.

 

Er stößt den jungen Mann von sich fort und schließt die Tür. Bob geht durch die Nacht die Auffahrtsstraße hinunter; die Hunde jaulen.

 

Nacht.

 

Flackernde Kerzen erleuchten undeutlich das Wohnzimmer. Wagners ewige Musik erfüllt den Raum.

 

Günther liegt im Hausmantel auf dem Sofa; er folgt der Partitur: Er blättert jeweils eine Seite um, sein Gesichtsausdruck wechselt mit der Stimmung der Musik. Er lässt die Partitur sinken und starrt zur Decke, ein Lächeln erscheint auf seinen Lippen.

 

Tag.

 

Helga und Marlene beugen sich über Sascha, die auf dem Behandlungstisch liegt.

 

Über ihre Beine ist ein weißes Laken gebreitet, sie trägt nichts als einen BH.

 

Auf ihrem Bauch hat Helga offenbar in blutiger Reich-Tradition eine grässliche Wunde vorbereitet. Mit einer Tropfflasche legt sie letzte Hand an. Blutstropfen perlen auf Saschas weißer Haut – trotz allem ein ästhetisches Schauspiel.

 

HELGA:

Angenommen, du bekommst einen Neger, der von einem Nashorn so zugerichtet wurde – was würdest du tun?

 

MARLENE:

Also, äh, ein Notverband, eine Bluttransfusion und dann auf dem schnellsten Weg zum nächsten Krankenhaus.

 

HELGA:

Fang einfach mal an.

 

Marlene geht zum Wasserbecken, um ihre Hände zu waschen.

 

HELGA:

Sehr gut, Marlene, als erstes Händewaschen.

 

Marlene nimmt eine Verbandsrolle.

 

SASCHA (zu Marlene):

Du kitzelst mich aber nicht, hörst du!

 

HELGA:

Aber nein, Sas, hab keine Angst.

 

Kaum gesagt, langen ihre kitzelnden Finger schon nach Saschas Rippen. Sascha kichert, die Wunde vibriert auf und ab.

 

Auf dem Gang hört Günther das Gelächter.

Er beschleunigt seine Schritte und öffnet schwungvoll die Tür.

 

Kaum eingetreten, steigt augenblicklich rasende Wut in ihm auf.

Er schiebt Helga und Marlene grob beiseite, reißt mit einem Griff die Wunde von Saschas Bauch und wirft sie in Helgas Richtung.

 

SASCHAs Gesicht verzieht sich vor Schmerz, sie schreit auf:

Auaaaaaa.

 

Sie beginnt heftig zu schluchzen.

 

HELGA (eisig):

So, Ende der medizinischen Schulung, Professor Unrat.

 

Was mich betrifft, können sie nach Afrika.

 

Günther entfernt mit einem Wattebausch sorgfältig die Reste der Wunde auf Saschas Bauch. Noch immer strömen Tränen über Saschas Gesicht.

 

GÜNTHER:

Es ist gut, Helga, du kannst jetzt gehen. Ihr könnt beide gehen.

 

Helga und Marlene gehen – die Erstere stolz, die zweite schuldbewusst.

 

GÜNTHER:

Es tut mir so leid, dass ich dir weh getan habe, Sacha.

 

SASCHA (durch ihre Tränen):

Ich spür’s schon nicht mehr.

 

Auf ihrem Gesicht erscheint jetzt sogar ein seliger Zug.

 

Fade out.

 

Fade in; Tag.

 

Musik.

 

Loudy steht in einem altmodischen Badeanzug vor dem Spiegel.

Durch das Fenster in ihrem Zimmer fällt ein Bündel zitternder Sonnenstrahlen.

Nicht unzufrieden wendet sie sich vom Spiegel ab und geht entspannt aus dem Zimmer.

 

Auf dem Korridor begegnet sie Helga, die eine gefaltete Decke unterm Arm trägt.

 

LOUDY:

Ach, ziehst du dich erst nachher aus?

 

HELGA:

Ja, es ist hier in den Gängen so kalt, ich habe keinen Badeanzug.

 

LOUDY:

Es ist großartig, wie Günther einem die Gewissheit gibt, dass Nacktheit wirklich etwas ganz Normales ist. Jetzt geh ich einfach so

(deutet auf ihren altmodischen Badeanzug)

und schäme mich kein bisschen dabei.

 

HELGA:

Herrlich, diese Sonne! Eine Wohltat …

 

Sascha auf einer offenen Lichtung im Wald, die hier und da mit Gebüsch bestanden ist.

Wir sehen sie von hinten; nackt.

 

Close-up: Sie pustet die Samen eines Löwenzahns in die Luft.

 

Die Kamera fährt etwas zurück, ihre herrlichen Brüste werden sichtbar, und in der Ferne Loudy und Helga, die auf sie zulaufen.

Sascha dreht sich um, ruft „Huhu!“ und läuft ihnen entgegen.

 

LOUDY (zu Helga):

Herrgott, was für eine schöne junge Frau.

 

Loudy breitet Helgas Decke auf dem Gras aus, Helga zieht sich ihr Uniformkleid über den Kopf.

 

HELGA (während ihr Kopf wieder hervorkommt):

Wo steckt eigentlich Günther?

 

Wir sehen Günther an einer entfernten Stelle im Wald, wo er der angezogenen Marlene nackt gegenüber steht.

Seinen Gebärden ist zu entnehmen, dass er sie von etwas zu überzeugen versucht.

 

MARLENE (kurz davor, loszuprusten):

Was kann ich denn tun, wenn ich‘s nun mal verrückt finde.

 

GÜNTHER:

Verrückt?! (er deutet auf seine eigene Blöße) Du findest das verrückt?

 

MARLENE:

Na … nicht jetzt … aber sonst …

 

GÜNTHER:

Wenn ich dir nun versichere, Marlene, dass du dich, wenn du die Kleider ausgezogen hast, dass du dich dann glücklich fühlst! Und frei!

 

MARLENE:

Na, von den Negern find ich‘s schon normal, aber ich mach das nicht einfach so, dass ich mich ausziehe …

 

GÜNTHER (heftig):

Ich verstehe dich nicht, auf einem staubigen Speicher machst du’s im Handumdrehen, aber hier! In der Natur! ... da findest du’s verrückt.

 

MARLENE (plötzlich sentimental und leicht neckend):

Ach ja, der Speicher … wie lang das schon her ist.

Sie knüpft mit herausfordernder Langsamkeit ihre Bluse auf und lässt sie zu Boden fallen.

 

Dann dreht sie sich um und bietet ihm ihren Rücken an.

 

MARLENE:

Ach Günther, dieser verflixte Verschluss.

 

Günther versucht die Ruhe zu bewahren und öffnet den Verschluss ihres BHs – er hilft ihr sogar aus dem BH.

 

GÜNTHER (heiser; mit dem so klein an seiner Hand baumelnden Kleidungsstück fast verlegen):

Verrückte Dinger eigentlich …

 

Er lässt den BH auf den Boden fallen, wendet sich ab und sagt, immer noch um Fassung bemüht:

Aus dem Rest kommst du schon allein, nehme ich an.

 

Sascha, Loudy und Helga auf einer Decke.

 

HELGA:

Also, wir haben uns schon manchmal in die Haare gekriegt.

 

LOUDY:

Egal, liebe Helga, der Mann verdient den Nobelpreis.

 

Gleich neben dem Trio tauchen Günthers Füße auf.

 

Wuchtig vor ihnen stehend, dehnt und streckt er sich wie ein Panther, den Körper zur Sonne gewandt.

 

GÜNTHER:

Roaaa, die Sonne! Ich bin Sonnenanbeter!

 

Die Frauen betrachten bewundernd den Rücken des nackten Mannes.

 

MARLENE kommt rufend angelaufen:

He, Leute! Charles ist da!

 

GÜNTHER presst die Lippen aufeinander, dreht sich um und befiehlt scharf:

Anziehen!

 

HELGA:

Anziehen?

 

GÜNTHER:

Der Kerl würde es doch nicht verstehen!

 

Charles betritt den Innenhof; sein Läuten blieb unbeantwortet. Ungeduldig schaut er durch das Türfenster nach innen.

 

Er hört Schritte. Günther und die Frauen nähern sich. Loudy noch immer im Badeanzug; Helga in kurzen Hosen mit einer Bluse, ihr Kleid hat sie über die Schulter geworfen; die Mädchen provisorisch gekleidet; und, würdevoll wie ein Indianerhäuptling, Günther in der um seinen nackten Körper geschlagenen Decke vorneweg.

 

Die Frauen schlüpfen mit ertappten Gesichtern ins Schlossinnere.

Charles hat sie mit einem munteren „Hallöchen, Leute, da bin ich wieder“ begrüßt. Lauernd mustert er die verschwindenden, halb bekleideten Mädchen.

 

Günther gibt Charles die Hand.

 

CHARLES:

Nun, Häuptling, wie läuft das Geschäft?

 

GÜNTHER:

Gleichzeitig gut und schlecht, Bleichgesicht.

 

Charles hebt verwundert den Blick.

 

GÜNTHER:

Im Ernst, Charles, es macht mir Kummer. Ich habe etwas aufgebaut und ertrage es nicht, dass es zusammenbricht.

 

Sie gehen zur Eingangstür.

 

Auf der Schwelle sagt CHARLES:

Ach, es tut wahrscheinlich kurz weh, aber Sie reißen doch im Nu wieder ein paar neue Mädchen auf.

 

GÜNTHER (pikiert):

Was geht‘s Sie schon an, Sie!

 

Er geht an Charles vorbei hinein. Charles wartet, bis Günther verschwunden ist, geht dann heimlich zum Wohnzimmer und schlüpft hinein. Er geht zum Telefon und dreht die Wählscheibe.

 

Fade out.

 

Eine elegante Kamerafahrt fängt Kandelaber und glitzerndes Kristall ein. Außer gelegentlichem Klappern von Besteck herrscht Stille. Die Tischgesellschaft mag sich gegenseitig kaum in die Augen schauen.

 

Ein Close-up unterm Tisch zeigt Charles‘ Hand, die langsam über Marlenes Schenkel hinauf wandert und ihren Rock hochschiebt. Auf Marlenes Gesicht sehen wir, wie sie zwischen Genuss und Panik hin und her gerissen wird; trotzdem gelingt es Charles und ihr, unbemerkt weiter zu essen.

 

GÜNTHER erhebt das Glas und setzt freudlos an:

Ich trinke auf … (seine Stimme stockt).

 

Alle Augen wenden sich ihm zu, neugierig den Rest zu hören. Aber schon bald ist klar, dass nichts mehr kommt. HELGA unterbricht die Stille und sagt mit etwas zu viel Nachdruck:

Gesundheit!

 

Günther kippt sein Glas hinunter und schenkt sich sofort nach. Auch dieses Glas leert er mit einem Zug. Er knallt es geräuschvoll auf den Tisch, schiebt abrupt seinen Stuhl zurück, geht mit großen Schritten zum Schallplattenspieler und legt eine 45er-Platte auf.

 

Zu unserem Entsetzen erfüllen herzzerreißend banale Klänge den geweihten Raum des Schlosses.

 

GÜNTHER:

Auch das ist Musik! (sein Gesicht drückt puren Ekel aus)

 

CHARLES:

Aaah, hübsche Platte.

 

Günther wirft ihm einen vernichtenden Blick zu und dreht die Lautstärke noch höher. Loudy fällt das Messer aus der Hand, sie fängt laut schluchzend an zu weinen. Sie schlägt die Hände vor die Augen und überlässt sich ganz ihrem Schmerz.

 

SASCHA:

Was hast du, Loudy? Warum weinst du?

 

Sie legt ihren Mädchenarm um die ältere Frau. Marlene schiebt Charles‘ Hand weg.

 

GÜNTHER:

Loudy weint um gar nichts!

 

Stehend schenkt er sich ein weiteres Glas ein, das er wieder mit einem heftigen Zug hinunterkippt. Er tritt zum Plattenteller und nimmt kratzend den Tonarm von dem herzzerreißend banalen Hit.

 

GÜNTHER:

Lösen wir die Versammlung auf.

 

Stille.

 

Er schnappt sich die Flasche vom Tisch und geht geladen zur Tür, die er krachend hinter sich zuwirft.

 

CHARLES (zynisch):

Hm, tja, jetzt muss Onkel Charles es ganz allein richten.

 

Er zwinkert Sascha schlüpfrig zu, doch sie trotzt seinem Wink stolz.

 

Er steht auf und stellt sich hinter Marlene. Knurrend wie ein Tiger vergräbt er seinen Kopf in ihrem Nackenhaar; seine Hände umfassen ungeniert ihre Brüste. Marlene wehrt sich. Die drei anderen Frauen blicken schockiert, Loudy durch ihre Tränen hindurch.

Tückisch, den Kopf auf Marlenes Schultern, betrachtet CHARLES die Frauen. Er schnauzt:

Ein Witz! Ihr werdet ja wohl noch einen Witz aushalten?

 

Marlene stößt ihn von sich weg; Charles lacht boshaft, Loudy beginnt noch heftiger zu schluchzen.

 

Günther steht mit der Weinflasche vor dem Hundezwinger.

 

Die Hunde stehen auf den Hinterbeinen und stemmen die vorderen Läufe gegen das Drahtgeflecht. Kein Laut von ihnen, diesmal.

 

GÜNTHER:

Sei doch ruhig, Wodan … und auch du, Donar.

 

Er hebt die Flasche zum Mund und nimmt einen verzweifelten Schluck.

 

Dann schleudert er die Flasche auf den Steinboden, wo sie zerspringt.

 

Loudy und Sascha im spärlich erleuchteten Wohnzimmer, umgeben von einigen fast heruntergebrannten Kerzen.

 

SASCHA:

Es ist schon fast halb drei, Loudy, leg dich doch schlafen …

 

Loudy fängt wieder an zu weinen.

 

SASCHA:

Geh ins Bett, alle schlafen schon …

 

LOUDY (schluchzend):

Ja, alle, außer Günther.

 

SASCHA:

Ich kann ja auf ihn warten.

 

Günther geht durch den mondhellen Wald.

 

Er betritt das Foyer so geräuschlos wie möglich, geht die Treppe hinauf und schleicht auf Zehenspitzen durch den Korridor.

 

Unter Charles‘ Schlafzimmertür ist ein Lichtstreifen zu sehen. Geflüster und unterdrücktes Kichern. Günther bleibt stehen und legt das Ohr an die Tür.

 

Seine Miene bewölkt sich augenblicklich. Verloren geht er ziellos vor der Tür auf und ab und schlägt ohnmächtig die Faust in seine Handfläche. Dann wendet er sich zornig um, greift nach dem Türknauf und stößt die Tür auf: Der Anblick, der sich ihm in einem Sekundenbruchteil offenbart, hat es in sich: Marlenes Kopf hängt zurückgebogen über die Matratze, Charles liegt auf ihr und küsst sie wollüstig auf den Hals.

 

Aus ihrer Rückenlage sieht Marlene plötzlich den wütenden Günther und erstarrt vor Schreck.

 

GÜNTHER:

Tiere! Hört auf damit!

 

Marlene ist praktisch schon unter Charles hervorgekrochen, der ihren auf und ab gehenden Herrn und Meister böse mustert.

 

Sascha kommt alarmiert die Treppe hoch; sobald sie Günthers Umrisse erkennt, bleibt sie wie angewurzelt stehen.

 

An Günther vorbei schlüpft Marlene, die ihre Blöße mit ihren hastig zusammengesuchten Kleidern so gut es geht verbergen will. Ohne noch einmal den Blick zu heben, läuft sie auf ihr Zimmer.

 

Günther dreht das Licht in Charles‘ Zimmer aus und wirft die Türe zu. Er entfernt sich mit forschen Schritten. Ängstlich und unbemerkt geht Sascha jetzt ins Bett.

 

Halbdunkel; wir sehen vage etwas wie Laken und blondes Haar. Sanftes Atmen.

 

Es wird an die Tür geklopft. Der weibliche Schemen im Bett richtet sich auf.

 

Es dauert einen Augenblick, ehe die Tür aufgeht, ein Schatten steht in der Türöffnung. Der Schatten geht in die Richtung der blonden Frau. Sie greift ängstlich nach der Nachttischlampe und knipst sie an; noch immer haben wir sie nicht erkannt.

 

Neben dem Bett steht Günther. Auf seinem Gesicht liegt nicht die Spur eines Lächelns, aber etwas Verletzliches. Im Bett: Sascha. Sie schweigen. Während er Sascha fixiert, setzt Günther sich vorsichtig auf die Bettkante. Er führt die Hand an Saschas Kopf und streicht ihr angespannt übers blonde Haar. Fast ängstlich, ihn zu berühren, legt Sascha die Hand auf seinen Oberschenkel. Günthers Hand ist hinunter gewandert und folgt bewundernd der sanften Rundung ihrer Brust. Saschas Hand umgreift seinen Hinterkopf, es sieht kurz so aus, als wollte sie ihn zu sich ziehen, aber ihr Arm sinkt zurück: Sie blickt direkt in das Gesicht eines älteren Mannes (sein Alter wird für diesen Augenblick mit Schminke besonders betont).

 

Er beugt sich vor, und plötzlich küsst er sie hart und überrumpelnd auf den Mund, der sich willenlos für ihn öffnet. Auf der Höhe ihrer Taille nimmt er den oberen Saum des Deckbetts und schlägt es mit einer einzigen Bewegung zurück.

 

Verletzlich liegt sie vor ihm, in ihrem Babydoll.

 

Mit einer Art Schluchzen verbirgt Günther sein Gesicht in den Händen und stöhnt:

Es darf nicht sein! Es darf nicht …

 

Er geht aus dem Zimmer, ohne die Tür zu schließen.

 

Die Wüste.

 

Zitternde Luft, eine brennende Sonne. Sand und noch mal Sand.

 

Ein Mann in einer Söldneruniform erklettert eine Sanddüne, wobei er immer wieder zurückrutscht. Seine Stiefel finden im lockeren Sand keinen Halt. Unter der Uniformmütze und einem Taschentuch, das ihn vor einem Sonnenstich schützt: das verschwitzte Gesicht des Söldners Karl. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappt er nach Luft.

 

Erschöpft fällt er auf die Knie und landet mit dem Gesicht im Sand.

 

Unter Anspannung aller Kräfte kommt er wieder halbwegs auf die Beine.

 

Mehr stolpernd als gehend setzt er einen Fuß vor den anderen.

 

Aus den tiefsten Tiefen seines ausgetrockneten Körpers steigt es in ihm auf:

Wasser …

Wasser …

 

Mühsam macht er einen Schritt vorwärts.

 

Der Araber fährt entspannt und mit hoher Geschwindigkeit durch die holländische Landschaft. Sein linker Arm hängt aus dem Fenster des Chevrolet Impala, seine beringte rechte Hand behält den amerikanischen Schlitten locker unter Kontrolle. Sein Autoradio spielt Edmundo Ros.

 

Die Straße wird schmaler, der Wagen nähert sich einer waldreichen Gegend. Die zahlreichen Kurven nimmt der Araber auf einmal heftig lenkend und mit quietschenden Reifen, um seine Fahrt danach wieder entspannt fortzusetzen.

 

Vier Paukenschläge: in der Ferne vor ihm erhebt sich das Jagdschloss St. Hubertus. Aufmerksam folgt er der kurvigen Straße. Das Schloss verschwindet hinter den Bäumen; als es wieder auftaucht, hören wir erneut die Paukenschläge.

 

Mit bewundernswerter Beherrschung nimmt er schleudernd die letzte Kurve und fährt die Auffahrt zum Schloss hinauf. Mitten auf dem Innenhof kommt er mit quietschenden Reifen zum Stehen; Edmundo Ros ergießt sich über das sonnenüberflutete Schloss.

 

Der Araber steigt aus, zieht seine Shantunghose hoch, nimmt seine Jacke (ebenfalls aus Shantungseide) vom Rücksitz und zieht sie über sein durchgeschwitztes Hemd.

 

Das Radio spielt weiter, der Araber macht sich nicht die Mühe, die Tür des Impala zu schließen. Er atmet kurz durch.

 

Der aschfahle Günther, immer noch in seinem Hausmantel, steht am Wohnzimmerfenster und sieht hinaus. Auf dem Balkon gießt Sascha in ihrer Majorette-Uniform bedrückt die Blumen. Etwas weiter entfernt liegt Marlene im Bikini auf der Balustrade und sonnt sich. Günther schraubt ein Alka Seltzer-Röhrchen auf und lässt eine Tablette in ein Wasserglas fallen. Durch das frische Brausen im Glas betrachtet er Sascha. Es läutet an der Tür, er leert das Glas mit großen Schlucken und geht öffnen.

 

Der Araber, der mit dem Rücken zur Tür dasteht und sich leicht in Ros‘ afrokubanischen Rhythmen wiegt, dreht sich um, als Günther öffnet.

 

Ehe Günther den Schock des Wiedersehens verdauen kann, wird er ausführlich in die Arme des parfümierten Freundes von Schweitzer geschlossen.

 

Jovial ruft der Besucher:

 

Amigo!!

 

Er küsst Günther südländisch auf beide Wangen. Der ohnehin schon schwergeplagte Deutsche erstarrt völlig, kann kein Wort herausbringen und schließt die Augen. Edmundo Ros‘ Bläsersektion schmettert die letzten Takte einer unter den gegebenen Umständen herzzerreißenden Nummer.

 

GÜNTHER stammelt mit Mühe:

Kommen Sie rein.

 

Sie gehen hinein.

Der ARABER ist vom Anblick der in der Sonne badenden Marlene unmittelbar erschüttert:

Hübsche Figur hat das Mädel.

 

Er stößt Günther auf verständnisheischende Männerart in die Seite. Günther beißt sich auf die Lippe. Sein ungebetener Gast steuert direkt den Balkon an und gibt Sascha umstandslos einen Klaps auf den Po; Sascha lässt die Gießkanne fallen.

Als ob nichts wäre, lehnt sich der ARABER schwer auf die Balustrade und sagt:

Göttliche Aussicht hier!

 

Genießerisch verharrt er noch einen Augenblick und dreht sich dann plötzlich zu Günther um:

 

Sagen Sie, Unrat, die Mädchen sind doch reisefertig, nicht wahr?!

 

Er packt Sascha zu ihrem Entsetzen am Ohr und fährt fort:

 

Verdammt, Unrat, Afrika wartet händeringend auf sie.

 

Er schüttelt Saschas Kopf an dem Ohr leicht hin und her, lässt los und zwinkert ihr zu. Sascha wendet sich wütend ab.

 

Dann fasst er den überrumpelten Günther am Arm und führt ihn mit ins Schlossinnere.

 

ARABER (vertraulich):

Hübsche Mädchen, Unrat! Hübsche Mädchen … Du hast Geschmack, Mensch … Wenn du wüsstest, was für Manschetten ich hatte, du wolltest mich vielleicht mit so‘n paar brillentragenden Blaustrümpfen abspeisen … Aber die ...

(er deutet mit dem Kopf zum Balkon)

Die fallen nicht von den Bäumen! Bravo, bravo.

 

LOUDY kommt ins Zimmer. Sie sieht den Araber und stürzt auf ihn zu:

Welche Überraschung! Sie hier!

 

Der ARABER ergreift die ausgestreckte Hand der begeisterten Frau, beugt sich vor und küsst sie:

 

Madame …

 

LOUDY (kokett lachend):

O, ach, Sie machen mich ja verlegen …

 

GÜNTHER (hält Loudy fest und sagt tonlos):

Komm mit.

 

Er schiebt sie aus dem Zimmer.

Aufatmend streift der Araber seine Jacke ab. Mit seinen dicklichen Fingern trommelt er auf seinem Bauch herum.

 

GÜNTHER drängt Loudy in sein Zimmer. Er zwingt sie, sich auf sein Bett zu setzen, und sagt:

Sie landen in der Gosse!

 

Schnell und zornig streift er den Pyjama ab und schlüpft unter dem Hausmantel in seine Hose.

 

Dann bricht es aus ihm heraus:

Ach, Loudy! Ich habe sie ins Unglück gestürzt!!

 

Er schlägt sich mit beiden Fäusten an die Stirn. Hysterisch wimmernd fällt er auf die Knie, um seine unbändige Selbstgeißelung fortzusetzen. Auf Knien vor ihr liegend, ergreift er Loudys Handgelenke und fängt an, sich mit ihren Händen zu ohrfeigen. Loudy sträubt sich, aber gegen die Macht seines Selbsthasses ist sie wehrlos. Da Günther nicht von seinem schockierenden Verhalten ablässt, gibt sie verzweifelt allen Widerstand auf.

 

Dann lässt er den Kopf in ihren Schoß sinken und kommt zur Ruhe. Er richtet sich auf; sein Gesicht spiegelt wieder pure Entschlossenheit. Er blickt der schreckgelähmten Loudy fest in die Augen und sagt mit unnatürlicher Ruhe:

Der Mann ist ein Teufel … und ich bin offenen Auges einen Pakt mit ihm eingegangen … wir beide sind zu gemeinen Handlangern geworden, Loudy.

 

Er konstatiert es wie eine feststehende Tatsache.

 

Sascha kommt mit einem Tablett voll bunter Limonadengläser in den Salon.

Helga und der Araber sitzen einander auf zwei Stühlen gegenüber.

Der ARABER nimmt einen Zug von seiner Havanna und sagt zu Helga:

 

Ach, wissen Sie, woran es auch liegt, Frau Reich, in der Gegend, wo Ihr Mann sich aufhält, steckt die Post noch in den Kinderschuhen … übrigens … wo ist Charles eigentlich?

 

HELGA:

Der ist heute früh bei Nacht und Nebel aufgebrochen. Warum weiß ich auch nicht.

 

Während sie spricht, geht Günther schweigend durchs Zimmer zum Balkon. Helga schaut verdutzt.

 

Die attraktive Marlene liegt noch immer in der Sonne. Günther stellt sich dicht neben sie; sie bemerkt ihn nicht.

 

GÜNTHER (mit warmer Stimme):

Marlene …

 

Etwas scheu schaut sie auf.

 

GÜNTHER (sentimental):

Marlene, der Tag ist gekommen … Du fährst nach Afrika … (einigermaßen drohend) Zieh dir dein Kleid über …

 

Er hält es ihr hin. Ängstlich streift sie es über.

 

Loudy kommt mit einem Koffer in der Hand ins Zimmer. Sie wagt weder Sascha noch Helga oder den Araber anzusehen und eilt auf den Austritt. Sascha und Helga folgen ihr mit dem Blick, der Araber zieht an seiner Zigarre. Ohne Marlene anzusehen, setzt Loudy den Koffer auf dem Balkon vor ihr ab.

 

LOUDY (ängstlich):

Hier, dein Koffer …

 

Marlene steht nur willenlos da.

 

LOUDY:

Es ist auch alles drin …

 

Sie machen Anstalten, in den Salon zu gehen.

 

Der ARABER drückt die Zigarre aus, während er sie betrachtet. Er wirft Sascha einen fragenden Blick zu:

Auch bereit?

 

Sascha reagiert nicht; sie folgt gespannt dem Schauspiel, das sich auf dem Balkon bietet.

 

Dann kommt das Trio herein. Marlene geht mit ihrem Koffer wie ein Lamm zur Schlachtbank neben dem eisigen Günther her. Loudy kommt ihnen nervös nach. Sie halten an.

 

GÜNTHER wirft dem Araber einen vernichtenden Blick zu und schnauzt ihn an:

 

Du da!!

 

Er beißt die Kiefer zusammen, dreht sich um und wendet sich von der Gesellschaft ab, die jetzt seinen Rücken sieht. Günther geht ein paar Schritte vorwärts, jede Faser angespannt. Ohne sich umzudrehen, brüllt er:

Verschwinde!! Verschwinde!!

 

Er schlägt die Hände vor seine Augen.

 

Der Araber steht auf, packt Sascha roh am Arm und zerrt auch die willenlose Marlene mit. Loudy bricht in Schluchzen aus.

 

In der Türöffnung ruft die verzweifelte SASCHA, die nichts mehr versteht, ein letztes Mal:

Günther!

 

Günther fährt beim Hören von Saschas Stimme wie von der Viper gebissen herum.

 

Er läuft zum Innenhof.

 

Dort sieht er, wie der Araber Marlene auf den Rücksitz drückt und sich selber hinters Steuer schwingt, während Sascha sich verzweifelt anschickt, einzusteigen.

 

Der Motor wird angelassen. Günther wirft sich auf Sascha, die schon halb eingestiegen ist. Während der Wagen losfährt, fallen sie gemeinsam auf die Kiesel im Innenhof.

 

Helga und Loudy stürzen herbei.

 

Sie beobachten, wie der Araber zögernd über den Forstweg davonfährt; einmal leuchten seine Bremslichter noch auf.

 

HELGA:

Schuft! Sie sind ein Schuft!!

 

Ihre Worte sind für GÜNTHER bestimmt, der jetzt ratlos schreit:

Hinein! Verschwindet hier!

 

Er bleibt allein im Innenhof zurück.

 

Der Araber redet am Steuer wütend vor sich hin, wobei er die fassungslose Marlene kaum bemerkt.

 

ARABER:

Was glaubt dieser Unrat eigentlich?! Denkt wohl, ich warte händeringend auf seine blöden Weibstücke, diese Gänse!

 

Dann richtet er sich plötzlich gegen Marlene, die vor Schreck die Augen aufreißt:

Du auch, zieh Leine! Gans!

(Voll Abscheu) Ich will dich schon nicht mal mehr.

 

Er bremst, stößt die Türe auf Marlenes Seite auf, schreit:

Mach, dass du wegkommst!

 

Er stößt sie roh aus dem Wagen. Das Mädchen landet in der Böschung, er gibt Gas und verschwindet.

 

Günther sieht das alles von weitem geschehen und läuft los. Er rennt aus voller Kraft; sein Gesicht drückt Schmerz und Hoffnung zugleich aus. Er rennt immer schneller und ruft jetzt auch ihren Namen.

 

GÜNTHER:

Marlene!! Marleen!

Ich komme!!

 

Keuchend kommt er zum Stehen.

 

Zu seinen Füßen die schluchzende Marlene, die kopfüber und am ganzen Körper zuckend im Graben liegt. Erschüttert kniet Günther sich zu ihr; streichelnd versucht er sie zu beruhigen. Sie kann nicht aufhören zu schluchzen. Er dreht sie um und küsst sie tröstend auf ihre verweinte Wange. Er flüstert ihren Namen.

Das Mädchen weint immer weiter; außer sich beginnt er sie leidenschaftlich zu küssen und fleht:

Nicht weinen! Nicht weinen …

 

Dann presst er sie an sich und bedeckt sie mit harten Küssen …

 

Ein finsterer Trieb gewinnt Macht über ihn. Seine Hände suchen ihre Brüste und verschwinden unter ihrem Kleid. Beide verlieren sich in einer schaurigen Ekstase.

 

In tollkühner Fahrt rast der Wagen des Arabers rückwärts über den Forstweg. Als er fast bei ihnen angekommen ist, hält er an und der Araber steigt aus. Günther und Marlene bemerken davon nichts. Er stellt sich, immer noch unbemerkt, neben sie.

 

Dann packt er Günther mit beiden Händen an den Schultern und reißt ihn von Marlene weg. Kaum hat er Günther schwankend auf die Beine gebracht, holt er aus: Seine Faust trifft Günther wie ein Hammerschlag mitten ins Gesicht. Wieder und wieder schlägt er zu.

 

Vergeblich versucht Günther sein Gesicht mit erhobenen Armen zu schützen. Nach einem gnadenlosen Boxhieb in die Magengegend klappt er zusammen. Marlene ist von oben bis unten schmutzig, aber heil auf die Beine gekommen. Sie weint. Wie besessen fängt sie plötzlich an, gegen Günthers Beine zu treten. Ohnmächtig schluchzend trommelt sie mit ihren kleinen Fäusten auf seinen Rücken.

 

Ein letzter Schlag des Arabers, und Günther stürzt zu Boden. Der Araber nimmt Marlene in seinem Wagen mit. Noch einmal sieht sie sich nach dem bewegungslos am Boden liegenden Günther um; Tränen strömen über ihre Wangen.

 

Die beiden verschwinden.

 

Endgültig.

 

Mit wildem Gekläff springen die Doggen gegen das Drahtgeflecht ihres Zwingers, um schließlich daraus auszubrechen. Bellend jagen sie den Weg hinunter in die Richtung, wo ihr Herr immer noch bewusstlos am Wegrand liegt. Sie beschnüffeln ihn leise jaulend.

 

Krächzende Raben kreisen um den Turm des Jagdschlosses.

 

Günther richtet sich mit Mühe halbwegs auf, er hat Blut im Gesicht.

 

Einer Ohnmacht nahe, schleppt er sich auf allen Vieren kriechend zum Schloss zurück.

 

Die Hunde lecken das Blut ihres im Staub kriechenden Herrn.

 

Wagner.

 

In einem hellblauen Pyjama liegt der ramponierte Günther im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sascha tupft seine Wunden mit feuchten Wattebäuschen ab. Loudy reicht ihr einen Bausch nach dem anderen.

 

Die Tür fliegt auf. Auf flachen Absätzen, in einem grauen Regenmantel und auf dem Kopf einen moosgrünen Hut steht HELGA in der Türöffnung, neben sich einen großen Koffer, den sie unsanft auf den Boden geknallt hat.

Nach einem Schweigen sagt sie knapp:

Ich gehe fort.

 

Niemand reagiert.

 

Sascha betupft weiter Günthers Verletzungen.

 

HELGA:

O, ich habe noch etwas für euch.

 

Sie öffnet ihren Koffer. Obenauf liegt die weiße Blechdose mit dem roten Kreuz; der Verbandskasten.

 

Sie nimmt ihn, geht damit zu den anderen. Kühl hält sie ihn kopfüber, der Inhalt fällt klirrend zu Boden – Jodfläschchen, Thermometer, Salben in Dosen, alles zerbricht und durchtränkt die Wattestreifen und Streckverbände.

 

Stolz dreht sie sich um und geht zur Tür; sie nimmt ihren Koffer vom Boden.

 

Dann dreht sie sich zurück und fügt hinzu:

Glaubt bloß nicht, ich lass das auf sich beruhen … Ich zeige es bei der Polizei an!

 

Sie verschwindet.

 

LOUDY gerät in Panik:

Herrgott, Günther! Sind wir strafbar?

 

GÜNTHER:

Jeder ist strafbar.

 

Loudy und Sascha schleppen mit Mühe eine Chaiselongue nach draußen. Sie stellen sie am Ufer des Weihers ins Gras.

 

Günther liegt mit Decken zugedeckt auf dem Wohnzimmersofa.

 

Die zwei Frauen kommen herein.

 

LOUDY:

Es ist so schön draußen, Günther.

 

SASCHA:

Die Sonne scheint so herrlich …

 

Mit einem Lächeln, das vor Glück zerbrechlich ist, helfen sie dem Mann im Hausmantel aufzustehen. Ein Pflaster und ein paar kaum verheilte Wunden erinnern noch an das große Drama. Günther langt sich an den Kopf und taumelt leicht.

 

GÜNTHER:

Ich bin noch etwas benommen.

 

Übertrieben hinfällig stützt er sich auf Sascha ab.

 

Loudy faltet die Decke zusammen und eilt hinter Günther und Sascha her, um Günther mit zu stützen – er lässt es sich nur allzu gern gefallen.

 

Zwischen beiden Frauen gehend, tritt Günther ins Freie hinaus. Selig zieht er die Luft ein und wendet sein ramponiertes Antlitz zur Sonne.

 

Musik – zum ersten Mal wirklich idyllisch.

 

Mit kleinen Schritten gehen sie durch die herrliche Natur in Richtung Chaiselongue. Sie kommen an einem Rosenstrauch vorbei.

 

GÜNTHER:

Pflück mir eine Rose, Sascha.

 

Sascha bückt sich vor, sodass er kurz ohne ihren Halt zurechtkommen muss. Sie schenkt ihm eine rote Rose. Günther bringt die Blume ganz nah an seine Nase und atmet den Duft ein; danach bietet er sie höflich Loudy an.

 

GÜNTHER:

Eine Rose für die Frau, die dies alles ermöglicht hat.

 

Günther streckt mühsam seine Glieder auf der Chaiselongue aus. Sascha und Loudy breiten die Decke über ihn. Loudy lässt sich im Gras nieder, sie riecht an der Rose. Genießerisch nimmt Günther die poetische Erscheinung der blonden Sascha in sich auf: Sie steht am Ufer des Weihers und füttert die schneeweißen Schwäne.

 

GÜNTHER:

Dieser Tag ist der Lohn für alles, was uns angetan wurde.

 

In der Ferne läutet das Telefon. Sie sehen sich an.

 

LOUDY:

Lass nur, lass … wir tun einfach so, als wären wir nicht da.

 

Das Telefon klingelt weiter.

Gespannt warten sie darauf, dass derjenige, der anruft, sich geschlagen gibt; aber das Klingeln nimmt kein Ende.

 

GÜNTHER (plötzlich wieder laut):

Geh ans Telefon, Sascha!

 

Sascha läuft ins Haus.

 

Charles liegt telefonierend auf dem Bett von Mimis Mutter.

 

CHARLES, nachdem der Hörer endlich abgenommen wird:

Ja, wer da?

Ach, du bist’s, Sas …

(gleichzeitig schleimig und boshaft) Du, Sas, glaub bloß nicht, dass der Kelch an dir vorübergeht, bestimmt nicht … Afrika braucht dich genauso dringend wie Marlene, hörst du, vielleicht sogar noch dringender, hahahaha.

Wiedersehen, Sas, bis bald.

 

Abenddämmerung hat sich über das Schloss gesenkt; Paukenschläge.

Günther liegt angekleidet auf dem Sofa; Sascha und Loudy sitzen etwas aufgedonnert und unruhig auf ihren Stühlen.

 

GÜNTHER, der nachdenklich die Fingerspitzen aneinanderlegt:

Ich verstehe nicht, dass der Herr nicht längst eine zweite Sintflut über die Menschheit gebracht hat. Wenn ich er wäre …

 

Er starrt an die Decke. Es ist totenstill.

LOUDY richtet sich halb aus ihrem Stuhl auf:

Ich sage euch, ich höre Stimmen … die ganze Zeit schon. Sie sind um das Schloss herum, es kommt jedes Mal aus einer anderen Richtung.

 

SASCHA stellt sich vor das Fenster und fragt:

Wo denn, Loudy?

 

LOUDY:

Gerade schweigen sie.

 

Sie stellt sich ebenfalls ans Fenster und ächzt dann plötzlich:

 

Seht die Schatten, sie bewegen sich … lauter Gespenster.

 

SASCHA, würdevoll wie Jeanne d‘Arc auf dem Scheiterhaufen:

Hab keine Angst, Loudy, wenn sie kommen, kommen sie doch nur meinetwegen.

 

GÜNTHER springt auf:

Ich lasse die Hunde los.

 

Die Hunde drängen sich kläffend hinter dem Drahtgeflecht.

 

Als Günther sie freilässt, verschwinden sie pfeilschnell und bellend in den Wäldern. Vögel fliegen kreischend auf. Die Hunde laufen keuchend durchs Dickicht; undefinierbare Schatten. Eine Eule ruft. Knackende Zweige. Man hört, wie etwas in den Weiher platscht. Die Natur ist in Panik.

 

Als Günther hereinkommt, stehen die Frauen beide neben dem läutenden Telefon; beide zögern, den Anruf anzunehmen.

 

Günther schiebt sie beiseite, hebt den Hörer ab und horcht.

 

Er legt den Hörer wieder auf. Sofort klingelt es erneut.

 

Da reißt er den Apparat samt Kabel und allem aus der Wand.

 

GÜNTHER:

Setzt euch in Ruhe hin … Wodan und Donar wachen über uns.

 

Sie haben sich noch nicht gesetzt, als ein krachendes Unwetter anhebt, ein Blitzschlag spaltet den Himmel. Loudy verbirgt ihr Gesicht vor Verzweiflung in den Händen.

 

Plötzlich springt eine der Doggen winselnd ans Fenster und schabt mit den Krallen an der Glasscheibe. Bellend verschwindet sie wieder im Dunkeln.

 

Platzregen trommelt gegen die Scheiben.

 

GÜNTHER ist zum Plattenspieler gegangen; kurz bevor er die Nadel in die Rille setzt, sagt er:

Richard Wagner steh‘ uns bei!

 

Beschützend legt er die Hände auf die Köpfe der Frauen, als die ersten Takte durch die tosende Naturgewalt erklingen. Zum ersten Mal im Film lacht Günther Unrat. Ein entspanntes Lachen steigt aus seinem tiefsten Innern auf.

 

GÜNTHER:

Morgen fahren wir drei nach Hamburg, die Stadt, in der ich geboren bin. Dort werden wir sicher sein.

 

Fünf Uhr morgens.

Das Unwetter ist vorbei; die Natur atmet auf.

Loudys Limousine steht mit geöffnetem Kofferraum im Innenhof. Günther kommt mit zwei großen Koffern aus dem Schloss; Loudy folgt ihm mit einem kleineren, der aber offenbar doch zu schwer für sie ist. Sie stellen das Gepäck in den Kofferraum.

 

LOUDY (mit Blick auf ihre Limousine):

Hol du doch Sascha, dann lasse ich schon den Motor an … Der Wagen ist ein wenig kompliziert zu bedienen.

 

Günther geht hinein, während sie die mindestens zwanzig Jahre alte Mechanik mühelos in Gang setzt. Um den Motor warm werden zu lassen, tritt sie nervös aufs Gas. Günther reckt den Kopf aus der Tür, um das Terrain zu sondieren, wobei er hinter sich Sascha mit ausgestrecktem Arm zurückhält. Dann nimmt er sie an der Hand und führt sie über den Innenhof zum Auto. Loudy hat die hintere Türe schon für sie geöffnet, Sascha steigt ein. Die stolze Autobesitzerin rutscht auf den Beifahrersitz, sodass Günther hinter dem Steuer Platz nehmen kann.

 

Sie fahren weg.

 

In einer gewissen Entfernung halten sie und betrachten zum letzten Mal das Schloss.

 

GÜNTHER:

Fünfzig Jahre ist das Schloss jetzt alt ...

 

das letzte, das je gebaut wurde.

 

LOUDY:

Und auch das schönste …

 

Sie fahren weg; für immer.

 

Charles lehnt missmutig an einem Baum und raucht eine Zigarette. Hinter ihm steht verdeckt der Wagen von Mimis Mutter.

 

Durch die Bäume sieht er plötzlich Loudys Limousine heranbrausen.

 

Er wirft die Zigarette weg und steigt ruhig ein. Als Loudys Wagen vorbeigefahren ist, lässt er den Motor an und fährt auf die Straße.

 

Mit reichlich Abstand fahren die beiden Autos durch die holländische Landschaft.

 

Die Musik tendiert zum Suspense.

 

Schlagbäume; der deutsche Zoll.

 

Die Limousine kommt zum Stehen.

 

Ein ZOLLBEAMTER beugt sich vor und fragt durch das geöffnete Fenster auf Loudys Seite:

Haben Sie etwas zu verzollen?

 

LOUDY (nervös, während der Blick des mürrischen Zollbeamten zu Sascha wandert):

Nein, wir haben alles hinter uns gelassen.

 

Der Wagen fährt an und beschleunigt zügig.

SASCHA schaut durch das Rückfenster zurück in ihre den Blicken entschwindende Heimat, erschrickt plötzlich furchtbar und schreit:

Charles!

 

Das Auto rast weiter.

 

Die Autos verfolgen sich jetzt offen durch eine verlassene Landschaft.

 

Charles drückt die Hupe, fährt neben ihnen, gestikuliert, dass sie anhalten sollen, versucht sie schleudernd zu schneiden, alles in allem eine gefährliche Situation. Schließlich gelingt es Charles, die Limousine auf die Böschung zu drängen.

 

Charles steigt aus und fischt etwas aus einer Aktentasche. Er wedelt es in der Luft, während er in respektvollem Abstand zu Loudys Auto darauf wartet, dass Günther aussteigen möge. Aber Günther bleibt sitzen.

 

Misstrauisch kommt Charles näher, er wedelt mit einem Foto.

 

Günther öffnet das Wagenfenster.

 

GÜNTHER:

Drängt man sich heutzutage von der Straße ab, wenn man sich etwas mitzuteilen hat?

 

CHARLES (anklagend):

Warum misstrauen Sie mir denn so? Marlene ist wirklich Krankenschwester. Was sie dort leistet, unter Beduinen, ist phantastisch. Sehen Sie doch selbst!

 

Er reicht ein Foto durch das Wagenfenster.

 

Günther betrachtet es: Auf dem Farbfoto steht Marlene in schneeweißer Uniform zwischen in Lumpen gehüllten und mit Geschwüren bedeckten Nordafrikanern; sie hält den Arm eines der Männer fest und hebt selbst schon den Arm, um ihm eine Injektion ins Fleisch zu jagen – die Szene hat etwas komplett Gestelltes, das dick aufgetragene Lokalkolorit springt ins Auge.

 

GÜNTHER gibt das Foto unbewegt zurück und fragt:

 

Und?

 

CHARLES:

Nun, Sascha ist jetzt doch auch Krankenschwester …

Warum darf sie dann nicht nach Afrika? Die armen Schlucker warten händeringend auf sie …

 

Günther sagt nichts.

 

CHARLES (plötzlich hoffnungsvoll):

Kann ich sie mitnehmen?

 

Scheu betrachtet er den unergründlichen Günther.

 

Der öffnet mit eisiger Ruhe den Schlag. Er steigt aus, stellt sich direkt vor den ängstlichen Charles. Günther sieht ihm sekundenlang fest in die Augen. Dann streckt er den Unglücklichen mit einem einzigen Fausthieb zu Boden, in dem so viel Kraft steckt, dass das Opfer besinnungslos liegenbleibt.

 

Mit diesem einen Schlag hat er mit allem Bösen, das es für ihn gibt, abgerechnet. Er nimmt wieder hinter dem Steuer Platz, setzt ruhig zurück und setzt die Fahrt nach Hamburg fort.

 

Stoßzeit in Hamburg. Dieselqualm, Hupen.

 

Für einen Menschen, der monatelang auf Schloss Hubertus gelebt hat, scheint in dieser finsteren Weltstadt eine Depression unvermeidlich.

 

Abgase schwerer Lkws verdrecken Loudys Limousine, die mit einem finster blickenden Günther hinter dem Steuer in einer Autoschlange langsam vorwärtskriecht.

 

Im Wagen herrscht peinliches Schweigen, bis GÜNTHER ausspricht, was alle denken:

Es tut mir leid, es ist schmutzig hier …

 

SASCHA legt den einen Arm um Loudy, den anderen um Günther; sie legt den Kopf auf die vordere Lehne und sagt, tief niedergeschlagen:

Ich fühle mich so allein … und doch seid ihr bei mir

 

(ängstlich) Wie kann das sein?

 

GÜNTHER (während er die düstere Stadt in sich aufnimmt):

Wir gehören zusammen … und in der Liebe fühlt man sich oft allein …

 

Tödliches Schweigen.

 

Vor dem Hotel Germania kommt die Limousine zum Stehen; das graue Fin de siècle-Gebäude ist ganz mühsam instandgehaltene Pracht aus besseren Zeiten. Ein Chasseur stürzt herbei.

 

Günther steht an der Rezeption. Die zwei Frauen stehen etwas im Hintergrund.

 

Der REZEPTIONIST fragt:

Zwei Zimmer …

 

Er dreht sich um und nimmt zwei Schlüssel von der Wand, die er vor Günther ablegt.

 

GÜNTHER:

Drei Zimmer, bitte.

 

GÜNTHER geht an den Frauen vorbei zu einer Telefonkabine und sagt, ohne sie anzusehen:

Jetzt gehe ich Mutti anrufen.

 

Loudy und Sascha schauen verblüfft, weil er so plötzlich in seine Muttersprache gewechselt hat.

 

LOUDY (einigermaßen besorgt):

Er ist halt wieder ganz daheim.

 

Sie setzen sich derweil ins Foyer. Schon sehr bald kommt Günther wieder zurück. Voller Elan schreitet er durch die luxuriöse Umgebung zu den Frauen. Günther, der seine Niedergeschlagenheit im Gegensatz zu den Frauen offenkundig wieder überwunden hat, sagt lebhaft:

Ich bringe euch zu euren Zimmern … danach muss ich zu Mutter, sie wartet auf mich …

 

Mit großer Geste führt er sie durch die geräumige Eingangshalle zum Lift.

Im Aufzug sieht er auf seine Uhr und verkündet:

 

Und danach essen wir um halb zehn zu dritt zu Abend! Ihr kommt doch solange alleine zurecht?

 

Die Frauen nicken.

 

SASCHA (müde):

Ich nehme gleich ein Bad, Günther …

 

Sie sieht ihn liebevoll an. Als wäre es das Normalste von der Welt, streicht er der jungen Frau kurz durchs blonde Haar.

 

GÜNTHER:

Weißt du, wem du jetzt genau ähnelst?

Grace Kelly.

 

Sascha lacht müde. Der Aufzug hält. Vom Pagen, der ihre Tür öffnet, geführt, gehen sie durch den Flur zu Saschas Zimmer. SASCHA geht hinein und sagt:

Also, bis nachher …

 

Bei Loudy geht Günther noch kurz mit aufs Zimmer.

 

Sie schleudert ihre Schuhe von den Füßen und massiert, auf der Bettkante sitzend, ihre müden Füße.

 

GÜNTHER:

Loudy.

 

Sie blickt auf, er baut sich so vorteilhaft wie möglich vor ihr auf.

 

GÜNTHER:

Findest du mich alt?

 

LOUDY (erstaunt):

Überhaupt nicht.

 

GÜNTHER:

Findest du mich geistig normal?

 

LOUDY:

Aber ja, Günther, ganz bestimmt.

 

GÜNTHER:

Könntest du mich lieben?

 

Loudy schaut misstrauisch.

 

GÜNTHER:

Ich liebe Sascha. Du bis die Erste, die es erfährt.

 

Loudy schweigt.

 

GÜNTHER (dringlich):

Sag, dass es nicht verrückt ist.

 

LOUDY schweigt; dann sagt sie gebrochen:

Sie wird glücklich sein mit dir.

 

GÜNTHER, als würde er mit sich selber reden:

Nein, weißt du, es ist – ich liebe sie so schrecklich …

 

Günther steht wartend vor der Tür seines Elternhauses. Seine Schwester öffnet.

 

GÜNTHER (enthusiastisch):

Lena …

 

Er küsst sie. Seine Wärme steht im Kontrast zu ihrer Reserviertheit.

 

LENA:

Mutti ist noch nicht da, Günther

 

Sie gehen hinein.

Im Wohnzimmer, das nicht ohne Geschmack, aber doch sehr deutsch eingerichtet ist, sagt GÜNTHER:

Lena, ich komme, weil ich Mutter etwas erzählen will …[8]

 

LENA, die im Wohnzimmer unbewegt weiter einen Rock bügelt, reagiert kaum:

Mhm …

 

GÜNTHER:

Große Neuigkeiten!

 

Eine Stille senkt sich.

 

GÜNTHER:

Ich kann nicht länger darüber schweigen … Ich werde heiraten, ein holländisches Mädchen.

 

LENA (betreten):

Ach, eine Holländerin … Unser Günther will also häuslich werden.

 

GÜNTHER:

Sie heißt Sascha.

 

LENA (noch immer mit ihrem Bügeleisen hantierend):

Sascha Unrat … Zeit war’s.

 

Sascha, die erstmals wieder ihre eigene modische Kleidung trägt, verlässt frisch und sehr anziehend den Aufzug und geht in die Lounge. Sie setzt sich behaglich in einen Sessel. Auf einem Hocker an der Bar sitzt ein ebenfalls sehr attraktiver und gut gekleideter sympathischer junger Mann.

 

Er dreht sich nach Sascha um. Sie sehen sich direkt in die Augen. Der Mann lächelt, Sascha ebenfalls.

 

Günther sieht auf seine Uhr.

 

GÜNTHER:

Ich kann sie nicht warten lassen …

Zu dumm, dass ich Mutter jetzt nicht gesehen habe …

 

LENA hört auf zu bügeln, hilft ihm in den Mantel und sagt:

Bis bald.

 

Auf der Türschwelle küsst er sie.

 

LENA lächelt vage; sie sieht ihrem Bruder jetzt zum ersten Mal kurz in die Augen.

 

Sie lacht kurz auf und sagt:

Der Günther will also häuslich werden …

Da wird die Mutti aber Augen machen …

 

Günther betritt das Hotel, gibt seinen Mantel ab und geht hastig zum Speisesaal.

 

An einem der Tische sitzt LOUDY, die sich schön gemacht hat. Als Günther neben ihr steht, sagt sie:

Günther … ich finde es so wunderbar für euch … Sascha ist noch oben, sie ist natürlich noch nicht fertig mit ihrer Toilette …

 

GÜNTHER:

Ich gehe sie schnell holen.

 

Für einen Augenblick berührt er freundschaftlich Loudys nackte Schulter. Er geht zum Aufzug. Die Türen schließen sich, der Aufzug setzt sich aufwärts in Bewegung – Musik, die, wie nur Musik es kann, Glück und Melancholie zugleich ausdrückt. Der Aufzug hält, ebenso die Musik.

 

GÜNTHER zögert, bevor er vor Saschas Zimmer die Hand auf den Türknauf legt. Innig flüstert er:

 

Sascha …

 

Dann drückt er die Tür auf. Sascha liegt im Bett, sie lacht - über ihr kniet: der junge Mann. Günther nimmt die Szenerie mit unbewegtem Gesicht in sich auf. Der junge Mann sieht ihn, Sascha ebenfalls.

 

DER JUNGE MANN (ruhig zu Günther):

Ich verstehe.

 

Er springt in seine Kleider. Günthers Gesicht zeigt keinerlei Regung, er sieht nur zu, wie der junge Mann sich anzieht. Der junge Mann läuft an Günther vorbei und sagt Sascha freundlich „Wiedersehen“, bevor er verschwindet.

 

GÜNTHER (gleichzeitig liebevoll und tadelnd):

Sascha …

 

Fast weinend beißt sich SASCHA auf die Lippen und flüstert:

Günther.

 

Sie traut sich nicht ihn anzusehen.

 

Ohne zu ihm hinzusehen, steigt sie aus dem Bett und fängt an, sich anzuziehen. Günther sieht ihr dabei zu.

 

Sie geht zur Tür, die Tränen fließen ihr jetzt über die Wangen. Sie legt den Kopf an seine Brust. Günther steht da wie gelähmt.

 

Wie ein Besessener fängt er plötzlich an, Sascha zu küssen. Seine Hände betasten sie mit furchterregender Inbrunst am ganzen Körper.

 

SASCHA flüstert:

Nicht, Günther …

 

SASCHA, noch einmal, jetzt schluchzend und flehend:

Nicht, Günther!

 

Sie befreit sich und läuft den Gang hinauf.

 

GÜNTHER lehnt sich schwer atmend an die Wand. Seine Brust hebt und senkt sich. Eine Träne rollt über seine Wange, seine Lippen öffnen sich, lautlos sagt er:

Ich liebe dich, Sascha.

 

Sascha verlässt das Hotel – sie weint.

Charles sieht sie, steigt aus seinem Wagen und geht auf sie zu. Er nimmt ihren Arm und führt sie zum Auto. Sie setzt sich auf die Rückbank. Er selbst setzt sich hinters Steuer. Der Wagen fährt los.

 

SASCHA, jetzt wieder einigermaßen ruhig:

Bring mich nach Holland.

 

Stille.

 

Dann, entschlossen:

 

Ich werde ihn immer lieben …

 

CHARLES (lautstark):

Wen? Unrat? Hahahahaha.

Sein Gelächter nimmt hysterische Formen an.

 

Loudy, angezogen und adrett, zieht in ihrem Hotelzimmer die Vorhänge auf. Sie verschwindet aus dem Zimmer hinaus auf den Flur. Sie klopft an Günthers Tür.

 

LOUDY:

Günther … Ich störe doch nicht.

 

Sie hört nichts.

 

LOUDY:

Oder schlaft ihr noch?

 

Von innen kommt jetzt GÜNTHERs dunkle Stimme:

Herein!

 

Die Frau öffnet die Tür, weicht aber erschreckt zurück.

 

Erschrocken ruft sie:

Günther!!!

 

Günther steht in der Mitte des Zimmers. Düster sagt er:

Ja, Loudy, ich bin über Nacht ergraut.

 

Da steht er vor ihr, unser Held; um Jahre gealtert.

 

Loudy läuft auf ihn zu, wirft sich an seine Brust und umarmt ihn innig.

 

ENDE

 

Amsterdam,

Nov. ’67–April ’68.

 

1Vgl. Bart Lootsma, DISKO 1-4: 1) Koolhaas, Constant und die niederländische Kultur der 60er, hrsg. von der Akademie der Künste in Nürnberg 2007, übersetzt von Silvan Linden, S. 18.

2Het sadistische Universum ist der Titel einer Essaysammlung von Hermans.

3Vgl. Lootsma, a.a.O., S. 25.

4Deutsche und englische Passagen im Originaldrehbuch, auch einzelne Worte, werden kursiv gesetzt.

5„luisterfinkje spelen“ = heimlich lauschen. Die Schreibweise mit „oi“ deutet Unrats deutschen Akzent im Niederländischen an.

6Alte niederländische Münze („Reichstaler“); ab 1840 Bezeichnung für die niederländische Zweieinhalbgulden-Münze, die zwischen 1936 und 1988 die Münze mit dem höchsten Wert in den Niederlanden war und bis 2002 in Gebrauch blieb.

7Historischer Ausspruch. Als [Henry Morton] Stanley [David] Livingstone in Afrika fand, soll er ihn mit den Worten „Mr. Livingstone, I presume“ [Mr. Livingstone, nehme ich an] begrüßt haben.

8Im Original folgt hier die Szenenanweisung: Der Dialog wird selbstverständlich auf Deutsch geführt.

Impressum

 

Erstveröffentlichung

Fiktion, Berlin 2016

www.fiktion.cc

ISBN 978 3 95988 033 6

 

Projektleitung

Mathias Gatza, Ingo Niermann (Programm)

Henriette Gallus (Kommunikation)

Julia Stoff (Organisation)

 

Titel der Originalausgabe

De blanke Slavin

 

Übersetzung aus dem Niederländischen

Annette Wunschel

 

Lektorat

Mathias Gatza

 

Korrektorat

Rainer Wieland

 

Lektorat der englischen Fassung

Carel Struycken

Alexander Scrimgeour

 

Design Identity

Vela Arbutina

 

Programmierung

Maxwell Simmer (Version House)

 

Das Copyright für den Text liegt bei den Autoren.

 

Fiktion wird getragen von Fiktion e.V., entwickelt in

Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt und

gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

 

Fiktion e.V., c/o Mathias Gatza, Sredzkistrasse 57,

D-10405 Berlin

 

Vorstand

Mathias Gatza, Ingo Niermann

 

Vereinsregisternr. VR 32615 B beim Amtsgericht

Charlottenburg (Berlin)

 

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