herausgegeben von Ingo Niermann
Ein Sammlung von Texten zur Gegenwart und Zukunft persönlicher, sozialer, technologischer und literarischer Konzentration von Dirk Baecker, Nina Bußmann, Charis Conn, Kenneth Goldsmith, Boris Groys, Ingeborg Harms, Arthur M. Jacobs / Raoul Schrott, Sophie Jung, Quinn Latimer, Ingo Niermann, Amy Patton, Emily Segal, Jenna Sutela / Elvia Wilk, Alexander Tarakhovsky, Johannes Thumfart, Ronnie Vuine, und Jacob Wren
Ingo Niermann
Einleitung
Emily Segal
Konzentration
Nina Bußmann
Ruhe und Empfindlichkeit
Quinn Latimer
Kongress, ihr
Jacob Wren
Jede tiefe Zerstreutheit
Dirk Baecker
Nachlassende Konzentration
Charis Conn
Der Chefsessel
Johannes Thumfart
Vom Rhizom zum Heavy Tail
Boris Groys
Entfiktionalisierte Fiktion
Kenneth Goldsmith
Jawohl, #Tweeten ist echtes #Schreiben!
Ingeborg Harms
Brombeeren
Alexander Tarakhovsky
Konzentrationszeichen
Jenna Sutela / Elvia Wilk
Wann du dich bewegt hast
Arthur M. Jacobs / Raoul Schrott
Gefesselt im Kopfkino
Ronnie Vuine
Lesesysteme für die Zukunft
Ingo Niermann
Sieg der Literatur
Sophie Jung
X-Verhört
Amy Patton
Auszüge aus einem Entwurf für eine Denkschrift, im Ausland verfasst
Menschliche Arbeit wird zunehmend von Maschinen ersetzt. Auch bei besondere Präzision erfordernden Akten des Rechnens, Beobachtens und Erinnerns sind Computer Menschen maßlos überlegen. Was Menschen indes mehr abverlangt wird denn je, ist ihre Konzentration, um das Erfahrene zu glauben, zu wählen, zu kaufen, zu lieben oder zu gestalten. Jeder soziale Akt wird in einer humanistischen Gesellschaft zertifiziert, indem Menschen ihm Aufmerksamkeit schenken. Oder, systemtheoretisch gesprochen: Symbiotische Mechanismen sozialer Kommunikation müssen erlebt werden, um Gültigkeit zu erlangen. Taktiken etwa in der Werbung oder der Liebe, die zu unbewussten Entscheidungen verleiten, gelten als unlauter.
Da sich die Konzentration durch Übung und Medikamente insgesamt nur bedingt steigern lässt, ist sie zu einem hart umkämpften Gut geworden, um das mit immer neuen Medien und Strategien geworben wird. Es reicht nicht, eine nützliche oder anregende Idee zu haben und auf deren Basis ein praktisches, preiswertes und gefälliges Produkt zu entwickeln. Soziale Bedeutung erlangt nur, auf was sich Menschen wenigstens einen Augenblick lang zu konzentrieren vermögen.
Eine Tätigkeit, die ganz besonders viel Konzentration erfordert, ist das Lesen nicht-trivialer Texte. Das die digitale Verbreitung anspruchsvoller Literatur erkundende Modellprojekt Fiktion stellt sich deshalb zuvorderst die Frage, wie ein solches Lesen künftig überhaupt möglich sein kann. Nachdem Fiktion zu diesem Zweck einen eigenen E-Reader entwickelt hat, widmen sich im vorliegenden Sammelband neunzehn deutsch- und englischsprachige Schriftsteller und Wissenschaftler in erstmals erscheinenden Essays, Geschichten und Gedichten dem Thema Konzentration.
Ingeborg Harms, Quinn Latimer, Arthur Jacobs und Raoul Schrott schreiben über die Umstände, unter denen uns eine Lektüre oder Tätigkeit ganz in ihren Bann zieht, Dirk Baecker und Amy Patton über eine sich verschiebende, Jenna Sutela und Elvia Wilk über eine ins Sphärische entrückende und Charis Conn über eine gewaltsam herbeigeführte Konzentration; Nina Bußmann schreibt über die Ungewissheit darüber, ob sie sich gerade konzentriert oder ablenkt; Sophie Jung, Emily Segal und Alexander Tarakhovsky thematisieren das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom; für Kenneth Goldsmith resultiert die künstlerische und literarische Avantgarde gerade aus Zerstreuung; Jacob Wren fragt sich, ob eine alles Übrige aussparende Konzentration nicht genau der Grund dafür ist, dass es um unsere Welt so schlecht steht; Johannes Thumfart untersucht den Zusammenhang zwischen der geistigen Konzentration und der auf dem digitalen Markt; Boris Groys beobachtet eine Defiktionalisierung der Literatur durch das Internet, während Ronny Vuine und ich spekulative Literatur – also dezidierte Fiktion – als das fortdauernde oder wiederkehrende Leitmedium eines gesellschaftlichen Wandels ausmachen.
Ingo Niermann
Wenn ich versuche, über Konzentration nachzudenken, dann denke ich daran, mich nicht zu konzentrieren. Es ist gerade so wie bei dem Spiel, dessen einziges Ziel darin besteht, nicht ans Spiel zu denken. Gewiss kann man aber über Konzentration nachdenken, nachdem man sich konzentriert hat. Es war erstaunlich, ich war so fokussiert. Das Buch hat sich von ganz allein geschrieben. Die Sonne schien. Die Konzentration stellte sich auf ganz natürliche Weise ein. Bei derartigen Formulierungen gleiten wir in die Vergangenheitsform, uns ereilt eine Art von Staunen und nachträglicher Selbstüberraschung, eine Spezifizierung des Objekts, dem die Konzentration galt (der Aufgabe); eine Andeutung auch, dass sich die Konzentration seither verflüchtigt hat oder unnatürlich geworden ist.
Wenn Konzentration überhaupt aufkommt, dann ist sie immer schon ein Problem. Niemand stellt sich hin und beschreibt sich als jemand, der sich „immer konzentrieren“ kann. Mit so etwas lässt sich nicht angeben – in Ermangelung eines Objekts entleert sich die Aussage. Ebenso wenig lässt sich eine atmosphärische Konzentration beschreiben, die sich etwa wie ein warmer Nebel über den Raum legt. Ein Anflug von Konzentration breitete sich über der Bibliothek aus? Sicherlich möglich, aber etwas Zwanghaftes haftet derlei an, eine Herausforderung hinter den Kulissen. Die Menschen schätzen es nicht, sich ohne Grund in einer Gruppe zu konzentrieren. Es geht hier nicht um irgendeine Art von „Stimmung“. Deshalb ist es auch weit wahrscheinlicher, dass eine Gruppe von Menschen ganz unerwartet zu singen anfängt, anstatt sich gemeinsam zu konzentrieren.
Natürlich kann man zumindest damit angeben, dass man „keine Schwierigkeiten hat“, sich zu konzentrieren; doch dann ist man höchstwahrscheinlich bereits high.
WAS HAT ES MIT DER ENERGIE IN DEINEM ENERGY-DRINK AUF SICH?
Amphetamine sind historisch gesehen etwas sehr Männliches. Kampfflieger, Mörder, Science-Fiction-Schreiber, Hitler. Es hängt hierbei davon ab, wie der Speed vermarktet wird. Männer nehmen chemische Amphetamine. Künstler schießen Speed. Schwuchteln schnupfen Meth, Abschaum und Bauernschädel rauchen es. Die Jungs und Mädels auf der High-School hacken ihr Ritalin und ziehen es sich rein. Verzweifelte wie ich bunkern ihr Sudafed. Die Kids am College kaufen sich Adderall. Chirurgen, Piloten und Risikokapitalanleger sind auf Provigil. Brainhacker und Lebensverlängerer greifen zu Nootropika. Damen knabbern Diätpillen. Ich nahm Vyvanse, ein Mittel, dessen Name nur ein paar Silben neben dem Partizip Präsens Aktiv des lateinischen Verbs leben liegt, lebendig sein.
SPEED
Für mich bedeutet Konzentration pharmazeutisches Speed auf Krankenschein. Im Grunde gab es überhaupt keine echte Konzentration, ehe es Adderall gab – das Wort selbst beschrieb nicht mehr als Verlust oder Flüchtigkeit. Mit Adderall betrat das echte Ding die Bühne, das Wort bekam Gewicht. Schmeiß dir diese Pille rein und du kannst dich konzentrieren. Um die Verschreibung zu bekommen, musst du dich präzise als jemand beschreiben, der Probleme hat, sich zu konzentrieren. Und an diesem Punkt fängst du vielleicht selbst an, zu glauben, dass dem so ist.
Zurzeit erlebt die USA gerade den kulturellen Aufruhr zum Thema, welche Auswirkungen die ärztliche Verschreibung von Speed und anderen Smartdrogen besonders auf junge Menschen hat. Man hat irgendwie das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis wir die Quittung für diese Verfahrensweise präsentiert bekommen. Timothy Ferriss, Experte für Hypereffizienz, der aussieht, als sei er einem Cartoon entsprungen, und Autor von Die 4-Stunden-Woche: Mehr Zeit, mehr Geld, mehr Leben, ist ein erfahrener Nutzer von Stimulantien und intelligenten Drogen. Doch glaubt nicht, dass er sich wohlfühlt dabei! Auf einem erst kürzlich veröffentlichten Podcast beschreibt er die „Theorie ausgleichender und gegenteiliger Wirkungen“, was schlussendlich auf ein Nullsummenspielkonzept der Drogennutzung hinausläuft: Du wirst später dafür bezahlen müssen! Oder du zahlst schon jetzt, ohne zu wissen auf welche Weise.
Das geht Hand in Hand mit den herkömmlichen Geschichten vom Doping und dem anschließenden tiefen Fall. Lance Armstrong bezahlte für seine Einzigartigkeit, indem er in Ungnade fiel. Daniel Keyesʼ Blumen für Algernon ist die gruseligste Drogengeschichte, die beweist, dass es nichts für umsonst gibt. Pharmazeutisches Tuning macht den Protagonisten außerordentlich clever – was ihn zuallererst allen entfremdet, die er kennt; und als dann plötzlich sein Verfall einsetzt, begreift er mit erschreckender Deutlichkeit seinen eigenen Niedergang. Er kehrt geradewegs dahin zurück, wo er angefangen hat.
Noch grundsätzlicher fällt die Angelegenheit im Film Empire Records aus, als die von Liv Tyler gespielte schöne und neurotische Figur zusammenbricht. Ihre „Diätpillen“ kollern über den Fußboden und verraten auf diese Weise das Geheimnis ihres Erfolgs. Daraufhin hört sie auf, Drogen zu nehmen, und sucht sich einen Freund. Auch hier kommt die Wahrheit ans Licht und die Sache löst sich auf. Wer Drogen nimmt, kann manchmal ein wenig zu besonders werden.
Das erklärt uns auch Cat Marnell, Journalistin für Schönheitsfragen und Autorin der kurzlebigen Kolumne „Amphetamine Logic“ in Vice: „Ich kriegte mehr Aufmerksamkeit als andere Menschen ab. Man kann das beschreiben, wie man narzisstisch veranlagte Menschen beschreibt, das sind ,Existenzen, die nicht zu übersehen sind‘ und auf Speed ist es genauso. Man fällt auf. Seit damals war ich dauernd auf Speed. Wenn man von irgendetwas abhängig wird, dann genau davon: Man wird irgendwie spezieller als die anderen. Ich war immer schon etwas Besonderes, verfügte über eine gesteigerte Version eines menschlichen Wesens; meines eigenen Selbst. Davon bin ich abhängig. Als ich davon runterkam, weißt du was passiert ist? Ich wurde normal. Ich sah normal aus und hatte ganz normale Ideen.“
KEIN NULLSUMMENSPIEL
Es gibt selbstverständlich auch die Möglichkeit, dass es sich beim Gehirndoping um kein Nullsummenspiel handelt. Ist man schlauer, dann macht einen das auch schlauer.
Ich liebe die Momente in den Geschichten der Superhelden, wenn sich die jugendlichen Kräfte ganz unerwartet zum ersten Mal manifestieren. Harry Potter hört im Terrarium eine Schlange sprechen; Magneto verbiegt im ersten X-Men-Film einen Zaun. In William Gibsons Mustererkennung geraten die Fähigkeiten der Protagonistin Cayce Pollard als Trendjägerin außer Kontrolle – sie wird durch ihre Fähigkeit, augenblicklich und äußerst genau auf das Branding der Firmen reagieren zu können, reich, auch wenn sie „nicht wissen kann, warum sie es weiß“.
SMART GROK
Junge Gehirne werden neu verdrahtet. Im Diskurs über die Digital Natives dreht sich alles um Neuronen, die sich immer schneller durch die nahtlosen Übertragungsnetzwerke bewegen. Douglas Rushkoff hat bei einem Gespräch über sein Buch Present Shock: Wenn alles jetzt passiert ein seltsames Beispiel eines Jugendlichen geliefert, der Hamlet scheinbar sehr rasch rezipiert hat.
Der andere gravierende Unterschied liegt darin, dass Jugendliche, die dem Modus einer Geschichte nicht länger folgen wollen, versuchen, das „Wesentliche“ zu erfassen, indem sie diese anschauen, anstatt sich auf sie einzulassen. Sie werfen auf Sparknotes (eine Internetseite, die Kurzzusammenfassungen anbietet) einen „Blick“ auf Hamlet, wobei sie gerade ein paar Absätze und Zitate durchsehen. In manchen Fällen bin ich beinahe peinlich erstaunt darüber, dass sie es tatsächlich hinkriegen. Ich sprach mit einem Jungen, der offenbar auf diese Weise das Wesentliche an Hamlet verstanden hatte und der, neben anderen Dingen, in der Lage war, zu erklären, warum im Satz „Sein oder Nichtsein“ die Essenz des gesamten Stücks beschlossen lag – es ginge demnach um einen Mann, der sich nicht sicher war, ob er handeln oder nicht handeln sollte. Diese Generation ist tatsächlich gut bei der Sache, wenn es darum geht, Dinge zu betrachten, sie erkennen den Sinn, ohne sich jemals Schritt für Schritt durch eine Geschichte hindurchbewegt zu haben. Die Herausforderung besteht dann darin, sie dafür zu begeistern, sich tatsächlich auf etwas einzulassen. Man muss ihnen dabei helfen, den Wert zu begreifen, den eine vertiefte Einlassung darstellt. Und sie dabei unterstützen, dass die Erfahrung des Einlassens nicht um jeden Preis vermieden werden muss.
Zuerst kam mir der Gedanke, dass es, journalistisch betrachtet, doch recht dümmlich sei, die Aussage dieses Jugendlichen glaubhaft zu finden, oder sich überhaupt darum zu kümmern, dass es ein Teenager geschafft hat, zu büffeln und dabei gerade so viel zu begreifen, um sich damit durchzumogeln – Teenager und andere Gehandikapte haben das immer schon so gemacht. Bei all dem gibt es aber einen Aspekt, der im Grunde gar nicht so dümmlich ist; er wird deutlich, wenn wir die Frage beantworten können, ob Rushkoff eine neue Form der Intelligenz entdeckt hat oder bloß seinen neu erwachten Respekt für eine alte Form dieser Intelligenz. Entweder kommt der Bullshit wieder in Mode – und ich meine den Bullshit Ferris Buellers1und nicht den von Tim Ferriss –, oder wir haben es mit einer neuen Welle von Mutanten zu tun.
X-MEN
Hier kommen nun also die X-Men ins Spiel. In X-Men: Der letzte Widerstand hat eine führende Firma der Pharmaindustrie ein Verfahren entwickelt, das die X-Gene der Mutanten dauerhaft unterdrücken kann und deshalb die X-Men in gewöhnliche Menschen verwandelt. Storm, die von Halle Barry gespielt wird, bringt es dann auf den Punkt: „Es gibt nichts zu heilen. Weder mit dir noch mit irgendeinem von uns stimmt etwas nicht!“
Doch was geschähe, wenn Halle Barry es nicht schaffen würde, die Produktion der Anti-Mutanten-Pille aufzuhalten, diese hergestellt und an alle verteilt wird – und also fiele das Ergebnis anders aus als erwartet; nicht die Mutanten werden ausgelöscht, sondern wir alle werden in gewaltigem Maße schlauer und entwickeln mächtige Fähigkeiten?
Das ist mein Traum, wenn es um den Effekt ärztlich verschriebenen Speeds geht: Eine Droge, die dazu bestimmt war, junge Leute zu „normalisieren“, hat unbeabsichtigterweise eine neue, sich selbst verstärkende Intelligenzform hervorgebracht – eine Art Adderall-Singularität.
Und vielleicht geschieht dies gerade deshalb, weil sie sich weniger konzentrieren.
AUFMERKSAMKEITSDEREGULIERUNG
Die Aufmerksamkeitsderegulierung (AD) demontiert figurative Phänomene im Feld der Wahrnehmung und verwandelt sie in einen einheitlichen Hintergrund. Als Kind habe ich das in meinem Schlafzimmer geübt und die Wand so lange abflachend betrachtet, bis sie mit der Decke des Zimmers verschwamm und ich einschlief. Wie sich herausgestellt hat, war das zufällige Beckenbodengymnastik für mein Hirn.
Aufmerksamkeit wird dereguliert, wenn man sie auf die Peripherie lenkt. Das bedarf einer gewissen Anstrengung, denn dein Gehirn geht davon aus, dass du nur betrachten sollst, was in deinem Gesichtsfeld unmittelbar vor dir liegt. Eine Methode der Aufmerksamkeitsderegulierung besteht darin, alles auf einen imaginären Schirm zu bringen. Das fordert dann die gleichmäßige Verteilung der Aufmerksamkeit auf das gesamte Wahrnehmungsfeld – und das wiederum ist das genaue Gegenteil der Konzentration von Wahrnehmung, die darin liegt, dass man bestimmte Objekte abgehoben von ihrer Umgebung wahrnimmt, als etwas Isoliertes und Unterschiedenes.
AD wurde als Technik in Russland entwickelt und als Strategie im Kalten Krieg benutzt, um auf „komplexe, unsichere und extreme“ Bedingungen zu reagieren. Im US-amerikanischen Englisch fand sich dafür das Akronym VUCA (volatility [Unbeständigkeit], uncertainty [Unsicherheit], complexity [Komplexität] und ambiguity [Unklarheit]).
Post-normale Zeiten zwingen zu post-normalen Maßnahmen. Die Dekonzentrierung der Aufmerksamkeit ist psychologischer Extremsport oder eine Technik für einen Seinszustand, in welchem Bewusst-sein und am Leben bleiben selbst schon Extremsportarten sind – ähnlich dem Freitauchen, dem Jagen oder dem Dasein als Mutant. Statt sich zu konzentrieren, wird man Konzentration. Man hört auf, mit der gewohnten Deutlichkeit zu existieren.
In seinem Essay Natur schreibt Emerson vom Rückzug an unbesiedelte Orte, wie es die Wälder sind. „In den Wäldern kehren wir zur Vernunft und zum Glauben zurück. Dort spüre ich, daß mir im Leben nichts zustoßen kann – keine Schande, kein Unglück (solange ich mein Augenlicht behalte), die die Natur nicht wiedergutmachen könnte. Ich stehe auf der nackten Erde, mein Haupt umweht von linden Lüften und erhoben in die Unendlichkeit des Raums, und alle niedrige Selbstsucht fällt von mir ab. Ich werde ganz zum durchscheinenden Auge; ich selbst bin nichts und sehe doch alles; Ströme des allumfassenden Seins durchfluten mich; ich bin Teil oder Bestandteil Gottes.“
Bei AD gibt es keinen inneren Monolog mehr. Man hört auf, Stimmen zu hören. Wie beim Flow gleicht auch die Aufmerksamkeitsderegulierung „einer Meditation, ohne dabei die Realität hinter sich zu lassen“. Du bist am Leben, aber nur gerade noch. Du bist am Leben, aber nur technisch betrachtet ...
Nur selten tritt die AD unwillkürlich ein – sie ist also nicht so „natürlich“, wie man vielleicht meinen könnte – und sie ist auch das Gegenteil jeder Spezialisierung, das Gegenteil eines „sich auf seine Aufgabe Konzentrierens“, eines sich zur Gänze dem eigenen Tun Widmen. Systemischer Stress allerdings induziert die Aufmerksamkeitsderegulierung. Er zersetzt die Wahrnehmung, perforiert das Wahrnehmungsfeld und macht dich wehrlos.
AD führt zu denselben Ergebnissen wie Flow, jedoch vermittels völlig unterschiedlicher Herangehensweisen. Zustände des Flow verlangen vollständige Konzentration, Genießen und absolute Einlassung – und das ist kaum vorstellbar, ebenso wenig wie die Existenz eines wahrhaft unbelasteten Liebhabers des Lebens.
FLOW
Flow gibt es bei Künstlern, die sich in ihrer Arbeit verlieren. Liebende verlieren sich in ihrer Liebe. Ich verliere mich im Supermarkt – und da fängt es an mit der AD. Sich verlieren gleicht dem Verwirrtsein. Michael habe ich letzte Nacht so richtig deprimiert, weil ich lachend von dieser alten Frau in der U-Bahn erzählte; und ist es nicht auch wirklich komisch, wenn die Bullen manchmal alte Frauen auf der Straße auflesen und dann zu Protokoll geben, diese befänden sich im „Zustand geistiger Verwirrung“? Michael fragte so in die Richtung nach, ob ich von Alzheimer spräche. Aber das sei ja tatsächlich deprimierend. Was also ist daran komisch? Ich hatte aber nur sagen wollen, wie lächerlich es ist, dass die Verwirrung manchmal zum Notfall gemacht wird, wenn doch ohnehin alle dauernd verwirrt sind.
Flow ist auf gewisse Weise der Verlust der Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Es steht nicht mehr in deiner Macht, zu sehen, was du sehen willst, es zieht einfach durch dich durch. Dein Hirn funktioniert schlampig und die Welt wird Neon. Die Theoretiker des Flow erklären das so: Deine gesamte Aufmerksamkeit ist besetzt – es gibt keine Aufmerksamkeitsreste mehr, die sich frei auf etwas richten könnten. Ich verstehe in etwa, was damit gemeint sein soll. Gestern Nacht im Club hatte ich den Eindruck, ich sei die Smarteste von allen, weil ich endlich genug Spaß hatte. Mein Gehirn war endlich befriedigt und es gab Raum, um mit dem Denken anzufangen. Im Grunde ist der Wunsch nach dem Flow-Zustand der Wunsch, ein Baby zu sein.
Das sind die Bedingungen für den Flow:
·Klar abgesteckte Ziele und Fortschritt
·Klares und unmittelbares Feedback durch deine Umgebung (offensichtlich unmöglich)
·Eine gute Portion „Selbstvertrauen“, das heißt in dem Sinne, dass man sich seiner Aufgabe gewachsen fühlt, dass man seine eigenen Fähigkeiten als etwas wahrnimmt, das in der Lage ist, die wahrgenommenen Herausforderungen zu meistern.
Apathie, Langeweile und Angst werden als die Feinde des Flow betrachtet. Sie sind Flowblocker. Selbstverständlich aber treiben sie ihn auch an. Die Theorie des Flow spricht davon, dass die Angst aus einer Erfahrung der Unmöglichkeit resultiert, also von einem Eindruck herrührt, dass man die vorliegende Aufgabe keinesfalls wird lösen können. Ich stimme dem nicht zu. Ich bin der Ansicht, dass die Angst dem Eindruck entspringt, dass es unmöglich sei herauszufinden, was Erfolg bedeutet. Flow zieht Persönlichkeiten vor, die ihren Selbstzweck in sich finden – selbstbezogene Menschen – Persönlichkeiten also, die sich selbst genügen.
Flow und Aufmerksamkeitsderegulierung hängen damit zusammen, dass sie in die Lage versetzen sollen, einen weitaus größeren Umfang von Information als gewöhnlich zu verarbeiten. Manchmal aber ändert sich der Umfang an Information, die wir verarbeiten können, radikal, ohne dass wir dies überhaupt bemerken. Michael hörte im Mauerpark über eine Distanz von dreihundert Metern einen Typen, der sich durch den Müll wühlte. Auf diese Weise fanden wir heraus, dass er auf Trip war.
1Ferris Bueller ist der Name des Protagonisten der High-School-Komödie Ferris macht blau aus dem Jahre 1986. A.d.Ü.
Sich sammeln: Ein Bekannter von mir übt morgens zwei Stunden chinesische Vokabeln, um ruhig zu werden und schreiben zu können. Andere behaupten, ihre besten Texte verfassten sie nachts, unter Zeitdruck oder im Vollrausch. Andere stellen sich den Wecker, um nicht vom Schreibtisch aufzustehen, manche legen Excel-Tabellen an und dokumentieren abgeleistete Arbeitsstunden, andere setzen sich ein Plansoll: zwischen ein bis vier Seiten pro Arbeitstag. Andere bleiben da sitzen für zehn, zwölf Stunden und länger, sie merken gar nicht, wie lange sie da sitzen, sagen sie, sie wissen nicht mal, dass sie überhaupt sitzen, etc. Ganz sicher könnten wir über noch Wichtigeres sprechen als die Frage, ob wir gerade faul oder fleißig sind und wie wir das mit dem Selbstmanagement hinbekommen. Wir könnten über Schönheit sprechen, über Relevanz und Radikalität, zum Beispiel, oder: Was war gleich noch die Aufgabe?
Ich kann mich nie lang genug konzentrieren. Und nie zuverlässig beurteilen, ob ich in einen Zustand sinnvoller Verwirrung oder anregender Unruhe gerate oder einfach nur abwesend bin, ob lustlos, faul oder rechtschaffen erschöpft. Ob ich gerade arbeite oder etwas ebenso Notwendiges erledige, ob ich mir unerlässliche Informationen beschaffe oder mich wie zum Beispiel jetzt in diesem Moment vor meiner eigentlichen Arbeit an einem langen Stück erzählender Literatur drücke. Warum ich noch in Eigentliches und Ablenkendes aufzuteilen versuche, warum ich das mit dem Romanschreiben für so dringend halte. Das habe ich doch irgendwo gelernt.
Kann sein. Kann aber auch schlicht so sein, dass ich mir einfach noch nichts anderes vorstellen kann. Aber für jetzt weiß ich: Schöne, relevante, radikale Gedanken, solche Sachen, um darauf zurückzukommen, können, wenn überhaupt, nur unter bestimmten Bedingungen entstehen und wahrgenommen werden, und eine notwendige Bedingung ist Konzentration, verdichtete Aufmerksamkeit. Die Entscheidung, den Blick auf eine bestimmte Sache zu richten, auf andere dafür nicht. Was heißt schon/aber Entscheidung: Der Blick kann auch eng werden unter Druck, aus Angst, eine Prüfung nicht zu bestehen, oder weil man im Theater, zumindest in der westlichen Welt seit dem späten 19. Jahrhundert, eben still sitzt und ergriffen nach vorn guckt. Das Ausblenden von Reizen kann aus Liebe oder Verliebtsein geschehen, aus Hunger oder Faszination. Hier interessieren mich Zustände von Ruhe und Empfindlichkeit, jenseits der Unterwerfung unter ein Aufmerksamkeitsregime. Was heißt es, wirklich hinzuschauen?
Worauf hat die Aufmerksamkeit sich zu richten? Was gilt als wesentlich, was nicht, und wer hat das entschieden? Darüber wird weniger geredet als über die Pathologien abwesender oder nachlassender oder nicht richtig funktionierender Aufmerksamkeit, über zappelnde Schulkinder und erschöpfte Erwachsene und die allgemeine Unruhe angesichts immer angeschalteter Geräte, immer flutender Informationen. Vermutet wird ein Zusammenhang zwischen Ermüdungskrankheiten, Konzentrationsschwierigkeiten und Technologisierung. Bildgebende Verfahren können darstellen, wie es im Gehirn eines aufmerksamen Menschen aussieht, und zeigen, wie sich das Gehirn durch Mediennutzung verändert. Kulturkritische Stimmen sorgen sich um den Verlust der Aufmerksamkeit, wie wir sie kannten, und beobachten selbstverschuldete Entmündigung, eine Zunahme kindischer Ungeduld.
Die Rede vom Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien ist aber schon begrifflich Unsinn. Gemeint ist wohl ein Verlust an Urteilskraft, aber auch die bekommen Menschen nicht von Geräten weggenommen. Und wenn sie sie anscheinend freiwillig abgeben, dann tun sie das unter bestimmten Bedingungen. Es gibt ja nicht nur die Tüchtigkeits- und Aufmerksamkeitsbefehle aus der Schule, es gibt auch Standards von Wendigkeit und Verfügbarkeit und Informiertsein und den Wunsch, nicht den Anschluss zu verlieren, richtig angezogen zu sein und kein Spektakel zu verpassen. Es sind nicht Mailprogramme und Maschinen, die beim Denken und Versenken stören, es ist das Reagierenmüssen. Wer das nicht kann oder will, wer es mit dem Konzentrieren übertreibt, ist genauso wenig konform wie ein undiszipliniertes Kind. Wer anschlussfähig bleiben will, darf es nicht übertreiben mit der Konzentration.
Das Studierendenmagazin einer deutschen Wochenzeitung empfiehlt: Nicht mehr die Nächte durcharbeiten und „Facebook auch mal abschalten“. Es gibt Software, die beim Abschalten helfen oder das Anschalten erschweren soll. Zielführender scheint mir eine in den Kommentarspalten diskutierte, dort nicht abschließend beantwortete Frage: „Wie viel machen die anderen wirklich?“ Wenn diese Frage niemanden kümmern würde, wenn es einfach nicht so wichtig wäre, wie viel die Konkurrenz tut, dann wäre es leichter, sich auf das zu konzentrieren, was man sich vorgenommen hat.
Studien zufolge verlieren Kinder das Interesse an einer Tätigkeit, sobald sie dafür gelobt oder bezahlt werden. Sie lernen: Was mit einer Belohnung kompensiert wird, kann wohl nicht aus sich heraus fesseln und begeistern. Sie erledigen ihre Aufgabe zwar weiter, interessieren sich aber nicht mehr fürs Rechnen oder Bildermalen, sondern für das Gelobtwerden. Ähnliches geschieht, wenn Menschen für Prüfungen lernen oder irgendetwas arbeiten müssen, um Geld ins Haus zu bekommen. Je unsicherer das Beschäftigungsverhältnis, desto leichter wandert die Aufmerksamkeit von der gestellten Aufgabe zu der Frage, woher eigentlich als nächstes das Geld kommen soll. Spätestens hier sollte deutlich werden: Nicht jede Ablenkung ist etwas Tolles. Natürlich macht es mehr Spaß, bunte Bilder zu betrachten und Freundschaftsanfragen zu beantworten, als sich einer langweiligen oder überfordernden oder als sinnlos empfundenen Aufgabe zu widmen. Aber fast alles macht mehr Spaß, als sich Langweiligem und Sinnlosem zu widmen.
Zu einer fortschrittlichen Unternehmenskultur gehört es, möglichst keinen Verdruss an der Arbeit aufkommen zu lassen. Die Produktion braucht nicht funktionierende Angestellte, sondern in ihrem Tun aufgehende Projektemacherinnen, nicht bloß fleißig, sondern authentisch begeistert, wie Künstlerinnen eben, und wie bei den Künstlern und Künstlerinnen sollte sich auch das Problem nachlassender Konzentration nicht stellen. Wenn man für eine Sache brennt! Dann wird man doch nicht müde! Wenn die Einzelne nicht (nur) ihre Zeit und Kraft, sondern auch ihre leidenschaftlich fokussierte Aufmerksamkeit und ihre Leidenschaft selbst zur Verfügung stellen soll, um einen Job zu bekommen oder zu behalten, dann wird der Zugriff auf ihre Ressourcen schon ziemlich umfassend, um nicht zu sagen totalitär.
Es gibt Ansätze, diesem Zugriff zumindest die eigene Gefühlsökonomie zu entwinden. Den Eifer verweigern, gepflegtes Prokrastinieren betreiben. Sich nicht in der Performance eines romantischen Schöpfergenies zu vernutzen, sich stattdessen ein bisschen beweglicher zu fühlen und ein bisschen unabhängiger von Kontrollen und Konventionen. Das hilft bestimmt, im Wettbewerb zu bestehen und dabei nicht den Verstand zu verlieren über der Frage, ob man gerade faul oder fleißig ist. Das ist schon nützlich, aber es reicht nicht. So eine innere Distanznahme geht über private Seelenhygiene nicht hinaus. Widerstand, Verweigerung müsste aber sein, es müsste was passieren, damit sich die Bedingungen ändern. Nicht nur für überforderte, privilegiert prekäre Selbständige in reichen Ländern, sondern für alle.
Es müssen schöne und radikale und wichtige Gedanken gedacht werden können, es muss Zeit dafür geben und Räume. Wie das gehen soll? Vorläufig bin ich ratlos, mir fallen individuelle Manöver ein. Das Ausscheren Einzelner, die sich einschließen mit ihrer Verschrobenheit und ihren nicht verwertbaren Projekten. Darauf beharren, kann vielleicht ein Akt des Widerstands sein, vielleicht wenigstens für Irritation sorgen. Was wäre denn mal eine wirklich wirksame widerständige Praxis? Sind wir dafür überhaupt unzufrieden genug? Oder zu nervös, um das mal zu Ende zu denken?
Der Kongress wollte dem Volk nicht zuhören.
Das Volk umstellte den Kongress und steckte ihn in Brand.
Der Kongress wollte nicht / Das Volk umstellte den Kongress.
Dem Volk / und steckte ihn in Brand.
Etwas, das ich auf meinem kleinen Bildschirm las – sein Rhythmus
Bewegte mich. Ich war in Oslo, ich konnte nichts tun.
Ich wollte einen Kongress, nicht aber mein Land. Nicht aber mein –
Ich wollte einen Kongress des Gefühls. Oder politische Erholung.
Meine Angst eine kleine Stadt, bedeckt von Wolke
Oder Rauch. Mein Norden ein betuchter Riviera Norden
Fährt seine blonde Banalität
Unter einem wahreren, höheren Norden.
Eine Grenze mit Russland teilen / eine Grenze mit Russland teilen.
Ein Theater des Krieges verband sie / auch Rentierherden, Hirten.
Bald würde dort eine Kunsthalle gebaut. Noch immer Männer mit Gewehren
Begleiteten dich durch (oder fürchten) die eisigen Straßen. Bleiche Bären, du weißt schon.
Bleiche Bären / Bleiche Bären / Bleiche Bären / Bleiche Bären.
Schlanke Gewehre / schlanke Gewehre / schlanke Gewehre / ihre Laster.
Ich war nicht high. Das war ich schon lange nicht mehr.
Angst benebelt genug. Mein vorstädtisches Nord-Europäisch. Jedes Bild
Kommt aus meinem Bildschirm das Gemälde eines digitalen Bildes.
O Gott. Ich konnte mich nicht aufraffen, mich um die Kunst-Debatten zu scheren
Über das Soziale – Ich brachte es nicht über mich. Ich hatte zu viele Kümmernisse, wie Frau Doktor
Eleganz vielleicht sagen würde, in irgendeinem frühen oder Mitte Irgendwas Europa.
Schickt mich in ein Sanatorium, in Bergfrische, oder hierher.
Was auch immer. Ein Mädchen aus dem Tal nannte mich ein schottischer Kritiker, gedruckt.
Sie klingt besser, diese Zeile, als das Gefühl, das sie erzeugt.
Abscheu, etc. Außerdem: Fehler. Ich war von der Westside, der Küste.
Aber kein Westen mehr ich war vom Norden. Ich war in einer Art Norden
Des Geistes und der Karte und der Nerven. Sie wurden erschossen
Wie irgendein Modernist auswerfen, niederschreiben, rausbringen könnte.
Was für ein Umschlag. Ein Norden des Geistes – ich konnte meinen Skalp spüren.
Nichts anderes. Nur seine Hitze und Beben und Öl. Bleiche Bären
Streifen durch die kühlen weißen Alleen, glatt in Bewaffnung.
Ich hoffe, sie beschützen mich / Ich hoffe, sie beschützen mich.
Jede tiefe Zerstreutheit öffnet gewisse Pforten. Man muss es sich selbst gestatten, zerstreut zu sein, wenn man sich nicht zu konzentrieren vermag.
Julio Cortázar
Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig ist, probiere es in vier. Wenn es immer noch langweilt, probiere acht, sechzehn, zweiunddreißig und so weiter. Irgendwann entdeckt man, dass es ganz und gar nicht langweilig ist, sondern sehr interessant.
John Cage
1.
Ich denke nicht, dass ich weiß, was ich tue. Ich weiß nicht, was ich denke, dass ich tue. Ich starre diese beiden Sätze an. Ich weiß, dass beide eine klar unterschiedliche Bedeutung tragen, dann kann ich aber für einen langen Augenblick nicht erahnen, was nun was bedeuten soll oder was ich meine. So oder so weiß ich nicht, was ich tue, und das schon geraume Zeit. An mein „Nicht-Wissen“, sage ich zu mir, glaube ich, und es könnte einigermaßen konzise als Konzentration neu definiert werden. Ich ertappe mich sogar dabei, nach einem „allgemeineren“ Nicht-Wissen zu suchen, wobei mich jedoch zur selben Zeit die Angst überkommt, ich wäre einer falschen Form dieses Nicht-Wissens aufgesessen: Dass ich also eigentlich wüsste, was ich tue, und nur vorgäbe, es nicht zu wissen, um einem halb ausgegorenen Ideal zu entsprechen, wie ein Künstler vorzugehen oder nicht vorzugehen hätte.
Unmittelbar neben jedwedem Nicht-Wissen, das ich vorführe oder heraufbeschwöre, während ich meine Arbeit tue, gibt es noch ein anderes, möglicherweise ehrlicheres Nicht-Wissen, das mich nachts wach hält und das mich, in der Mehrzahl der Fälle, in eine beinahe unerträgliche Trauer stürzt. Dieser Wachzustand des nächtlichen Nicht-Wissens hat etwas mit all der Ungerechtigkeit und dem Leiden auf der Welt zu tun. Warum ist es uns nicht schlicht und einfach möglich zu wissen, wie man es eindämmt, bekämpft, unterläuft? Kann sein, dass es der absoluten Naivität meinerseits geschuldet ist, doch ich begreife nicht, warum das unmöglich oder so schwierig sein sollte. Anscheinend ist es das aber und noch mehr. Endlos könnte ich über diese Probleme nachgrübeln, sie vor meinem geistigen Auge hin und her drehen und würde dabei gewissermaßen nirgendwo ankommen, nur zurück in einer Kreisbewegung zu den Sachen gelangen, die ich schon kenne und die so offensichtlich zu sein scheinen, dass es schon von Anfang an kaum Grund gab, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Worüber ich mich also selbst wundere, ist folgendes: Worin besteht die Verbindung zwischen diesen beiden Arten meines Nicht-Wissens? Zwischen einem Nicht-Wissen als Sehnsucht nach künstlerischem Durchbruch, als Wunsch, eingestandene und uneingestandene Verhaltensweisen aufzugeben, und einem Nicht-Wissen, wie man die Welt retten könnte oder zumindest ein kleines bisschen besser machen?
2.
Wenn ich schreibe, höre ich häufig Hip-Hop. Wenn es darum geht, Zeile für Zeile zu verstehen, worauf sie da mit dem jeweiligen Track hinauswollen, muss ich zugeben, dass mein Verstehen gelinde gesagt etwas beschränkt bleibt. Manches ist ganz selbstverständlich klar, anderes wiederum höre ich mir hunderte Male an und doch bleibt es für mich im Reich der unzähligen möglichen Bedeutungen stecken. Als Schriftsteller – zumindest denke ich, dass es damit zusammenhängt, dass ich Schriftsteller bin – konzentriere ich mich beim Musikhören auf die Songtexte. Wenn ich also Hip-Hop höre, während ich schreibe, dann hindert mich das oftmals daran, tatsächlich etwas zu schreiben, weil ich mich auf die Texte konzentriere, die ich höre, die ich fortwährend zu entziffern suche, es aber nicht vollständig schaffe, anstatt den leeren Bildschirm vor mir mit Worten zu füllen. Ich löse das Problem, indem ich die Lautstärke so weit dämpfe, bis der Track nur noch aus einem kaum vernehmlichen Rauschen besteht. Dieses Hip-Hop-Rauschen pulsiert im Hintergrund, während ich tippe, und irgendwie vermittelt es mir das Gefühl, irgendwo auf der Welt gäbe es eine Energie, die größer ist als die öde Stille um mich herum.
Mein ganzer Computer ist voll mit Hip-Hop und die Tracks spiele ich zumeist im Shuffle-Modus ab. Manchmal, wenn ein Track abgespielt wird, der zu sexistisch oder homophob scheint, lösche ich ihn einfach. Keine Ahnung, ob das so in Ordnung ist, aber es macht mich unruhig, wenn ich mir vorstelle, dass Sexismus und Homophobie klammheimlich durch Tracks hindurch, die ich häufig hunderte Male höre, in mein Unbewusstes einsickern. Vielleicht braucht man es ja gar nicht eigens zu betonen, aber dieser Hip-Hop existiert für mich als eine künstlerische Andersheit, weil in ihm nichts vorkommt, womit ich mich in meinem Alltagsleben oder meiner Alltagserfahrung identifizieren könnte. Viele der Tracks behandeln sozioökonomische Erfahrungen, die ich nie machte: Lebensbedrohliche Armut oder beinahe schon komischer, protziger Reichtum (oder beides zugleich). Ich höre auch viel Hip-Hop, der mit diesen Dingen gar nichts zu tun hat, doch die Form des Sprechgesangs reicht zumeist schon aus, um mich daran zu hindern, eine zu unmittelbare Nähe zu meinen Erfahrungen herzustellen. (Gerade fällt mir auf, dass ich Tracks lösche, die zu sexistisch oder homophob sind, Tracks hingegen, die zu kapitalistisch sind, lösche ich nicht – doch das wäre wahrscheinlich genauso wichtig.)
Wenn ich mir die Frage stelle, warum ich Hip-Hop so sehr mag, dann schiebt sich etwas in den Vordergrund, was dieses Vergnügen ziemlich eindeutig beschreibt. Ich bin Schriftsteller und habe eine gewisse Affinität zur Sprache. Auf vielfältige Weise ist mein Schreiben performativ; es will laut gelesen werden. Doch selbst durchschnittlicher Hip-Hop beweist eine Virtuosität der gesprochenen Sprache, die ich nie erreichen werde oder auch nur anstreben würde. Das ist schlicht etwas, das ich nicht schaffe. Der Genuss, den ich erlebe, ist also wahrscheinlich ähnlich gelagert wie der, den andere erfahren, wenn sie Sport schauen; sie sehen jemanden etwas tun, das sie selbst niemals so gekonnt vermöchten.
3.
Ich erinnere mich an etwas, das ich kürzlich in einem Interview gesagt habe, und suche am Computer danach. Als ich es finde, bin ich enttäuscht; es sagt gar nicht das, was ich angenommen hatte. Was es sagt, ist dies: „Ich suche nach Durchbrüchen, wenn es denn noch gestattet ist, in solchen romantischen Begrifflichkeiten zu denken. Beim derzeitigen Stand der Dinge fühlt man bei jedem Durchbruch augenblicklich, dass es keinen Präzedenzfall gibt. Erst später findet man vielleicht heraus, wie die Dinge in die unterschiedlichen Geschichten und Erzählungen hineinpassen (oder eben auch nicht).“ Dieses Gefühl, dieses augenblicklich sich einstellende Gefühl, dass es keinen Präzedenzfall gibt, muss in einem anderen Sinne eine Art Konzentration sein, beinahe schon ein Tunnelblick. Eine radikale Offenheit, die mit einem gleichermaßen intensiven Fokus auf ein paar wenige Schlüsselbereiche der aktuellen Aufgabe zusammenfällt. Wollen Künstler immer noch Durchbrüche schaffen? Wollen es die Menschen? Sind sie immer noch etwas, das wir uns in jeder Lebenslage vorstellen können, ganz bis ans Ende – oder sind sie nur etwas für die Jungen?
4.
Wenn ich darüber nachdenke, inwiefern meine Liebe zum Hip-Hop eine problematische ist, dann fange ich an, über Descartes nachzudenken, der eine der Grundlagen für das weiße Denken des Okzidents geliefert hat. Wie er sich dafür entschied, einfach so vor dem Kamin zu sitzen und sich auf das Kernproblem der Philosophie zu konzentrieren; alle Ablenkungen hinter sich lassen, alle Annahmen, und wieder ganz von vorne wieder anzufangen. Descartes wollte wissen, die Wahrheit herausfinden, wohingegen ich, wenn ich mich auf eine sich stellende künstlerische Frage konzentriere, behaupte, dass ich Nicht-Wissen will. Doch wie dem auch sei, ist eine solche Vorstellung, was es bedeutet, sich zu konzentrieren – alle Ablenkungen auszublenden und zu fokussieren –, nicht ein wenig blutleer? Gerade dann, wenn ein anderes Wort für Ablenkung Leben sein könnte: andere Menschen, die sinnliche Welt, die uns umgibt?
Mein Denken findet im Dialog mit so vielen Dingen, Texten und Menschen statt und trotzdem habe ich zumeist den Eindruck, dass ich in absoluter Isolation arbeite. Regelmäßig beschwere ich mich über diese Isolation, wundere mich jetzt aber auch, ob ich es hier mit einer Art kartesischem Ideal zu tun habe, das ich behaupte nicht zu wollen, das mich aber vielleicht tatsächlich vollständig bestimmt. Was bedeutet das, wenn man tatsächlich etwas will, von dem man behauptet, dass man es nicht will? Ich weiß reichlich wenig von Descartes, doch er steht fraglos für etwas in den gewohnten Gedankengängen meines Alltags. Er ist ein Double für einen Modus des wissenschaftlichen Denkens, das sich auf bestimmte Fragen konzentriert, was auf Kosten von allem anderen geht. Um ein karikierendes Beispiel zu geben: Ein Denken, das sich darauf konzentriert, wie man das gesamte Erdöl aus der Erde so effizient als möglich gewinnen kann, doch das um den Preis all der Konsequenzen, die ein solches Vorgehen mit sich bringt. Das hat auch mit dem Wunsch nach Gewissheit zu tun, was meistens mit dem Wunsch zusammenhängt, die Dinge und/oder die Menschen beherrschen zu wollen. Innerhalb eines gewissen theoretischen Rahmenwerks ist vieles davon im Laufe der Zeit selbst zum Klischee geworden.
5.
Auf tumblr habe ich 20.516 Posts hinterlassen, zwei jedoch nur wurden ein Riesenerfolg. Das erste stammte von einem Ruander, der als Teil des Moth-Podcasts „Notes on an Exorcism“ [„Bemerkungen zu einem Exorzismus“] sprach.
Mit den ärztlichen Helfern aus dem Westen, die gleich nach dem Genozid hierherkamen, hatten wir jede Menge Probleme und wir mussten sie auffordern, wieder zu gehen.
Sie kamen an und plötzlich war es nicht mehr gestattet, draußen an der Sonne zu sein, wenn es dir besser ging. Es gab keine Musik und kein Trommeln, das dein Blut wieder in Gang gebracht hätte. Es gab keinerlei Bewusstsein dafür, dass jeder mal für einen Tag blaumacht und die ganze Gemeinde zusammenkommt und dich in gute Stimmung bringt und dir wieder Freude bereitet. Es gab überhaupt kein Verständnis dafür, dass die Depression etwas ist, das in einen eindringt und von außen kommt und die man tatsächlich auch wieder austreiben kann.
Stattdessen brachten sie die Menschen jeweils einzeln in diese tristen kleinen Räume und ließen sie für eine Stunde etwa über die üble Dinge reden, die ihnen widerfahren waren. Es ging nicht anders – wir mussten sie auffordern zu gehen.
Das zweite stammte von Walter Benjamin und behandelt die Menschheit:
Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt.
Zwischen diesen beiden Zitaten liegt beinahe die Gesamtheit des Problems.
6.
Im Jahre 1953 wurde Mohammad Mossadegh, der kurz zuvor gewählte Ministerpräsident des Iran, durch einen vom CIA finanzierten Staatsstreich gestürzt. Sein Verbrechen bestand darin, die iranische Erdölindustrie verstaatlichen zu wollen. Ich frage mich oft, wie dieser Teil der Welt heute aussehe, wenn es ihm gelungen wäre, einen funktionierenden sozialdemokratischen Präzedenzfall in dieser Region zu etablieren. Wenn ich nachts wach liege, dann ist es immer öfters die Geschichte, die mir durch den Kopf geht: Jacobo Árbenz Guzmán in Guatemala, Patrice Lumumba in der Republik Kongo, Salvador Allende in Chile. Es gibt auch ein anderes Moment, an das ich häufig denke: Kurz nachdem Mussolini gewählt wurde, gelang es ihm, beinahe jeden aus der Kommunistischen Partei mit Parteibuch entweder umbringen zu lassen oder ins Gefängnis zu werfen.
Wenn man anfängt, die Geschichte der Linken zu lesen, dann türmen sich solche Geschichten übereinander. (Während ich dies hier schreibe, lese ich einen Beitrag in der New York Times über die Operation Condor: Sechs lateinamerikanische Militärdiktaturen treffen 1976 zusammen und „hecken einen Geheimplan aus, ihre linksgerichteten Opponenten aus dem Weg zu räumen“.) Geschichten wie diese bilden den Hintergrund für Margaret Thatchers Aussage „Es gibt keine Alternative“. Je mehr ich lese, desto klarer werden die Hintergründe: Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden alle Bemühungen, Alternativen zu etablieren, systematisch unterminiert, wobei Geld, Propaganda, schmutzige Tricks und, wann immer notwendig, äußerste Gewalt zum Einsatz kamen.
Selbstverständlich können wir die Vergangenheit nicht ändern; was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber wie denkt man faktisch über Möglichkeiten für die Gegenwart und die Zukunft nach, während sich gleichzeitig im eigenen Kopf diese Geschichte nach vorne drängt? Wie fühlt man tatsächlich den Umstand, dass die Welt, in der wir heute leben, nicht einfach so passiert ist, dass Schlachten geschlagen, gewonnen und verloren wurden, und wir auf so viele verschiedene Weisen ein Leben führen müssen, das uns die Sieger aufzwingen. Indem ich solche Fragen stelle, unternehme ich den Versuch, mich selbst in Richtung Aktivismus zu treiben. Soweit ich das sehe, hat der Aktivismus des Einzelnen die größte Chance auf Erfolg. Doch ich fürchte, dies ist nur ein bisschen mehr als das völlige Abblocken einer weiter gespannten Realität zugunsten von kurzfristigen Zielen. Ist es überhaupt möglich, eine unverfälschte Gesamtsicht der Dinge zu haben und trotzdem noch effektiv kämpfen zu können? Diese Spannung ähnelt einem bekannten Spruch: Denk global, handle lokal. Und so bleibt die Hoffnung auf den Präzedenzfall aufrecht. Ein Erfolg in einem Kontext vermag uns davon zu überzeugen, dass ein solcher auch anderswo möglich sein kann – er erzeugt das Gefühl, dass es tatsächlich eine Alternative gibt.
Konzentriere ich meine Energien auf die spezifischen Kämpfe der Aktivisten heute, dann bedeutet das nicht notwendigerweise auch, dass ich die globale Geschichte ignoriere, die uns an den Punkt gebracht hat, an dem wir uns jetzt befinden. Ich fühle aber, dass etwas Schmerzhaftes dabei ins Spiel kommt, beinahe schon Entnervendes, wenn man versucht, sich auf beide Ebenen der Wirklichkeit zur selben Zeit zu konzentrieren, zugleich auf die Verwüstungen der Geschichte und die möglichen Vorteile, die für die Gegenwart errungen werden. So viele Kämpfe sind gescheitert, dass das Spielfeld selbst bereits in eine beinahe schon nihilistische Schieflage geraten ist.
7.
Es gibt eine höchstwahrscheinlich apokryphe Erzählung, die ich im Laufe der Jahre schon in unterschiedlichen Varianten gehört habe. Es ging um ein Geheimtreffen aller großen Plattenfirmen. Bei diesem Treffen entschied man, zusammenarbeiten zu wollen, um den Gangsta Rap groß zu machen, um Gangsta Rap als wichtigste Spielart des Hip-Hop zu etablieren. Ob ein solches Treffen nun tatsächlich stattgefunden hat oder nicht – kein Hip-Hop-Fan wird darum herumkönnen zuzugeben, dass der textliche Inhalt des frühen Hip-Hop wesentlich variantenreicher war, oft heiterer und in der Regel politischer als heute. Wenn sich eine Form als dominante herauskristallisiert, dann bleiben die anderen auf der Strecke. Doch selbst wenn sie marginalisiert werden, verschwinden sie niemals vollständig. Wenn wir uns auf die Dinge konzentrieren, die unmittelbar vor uns liegen, schärft sich mit jeder Möglichkeit, die aktuell nicht verfolgt wird, auch unsere Vision der Randzone. Eine Randzone mag als Ablenkung verstanden werden, oder, womöglich ebenso effektiv, als unsere einzige Hoffnung.
Nachlassende Konzentration ist ein Zeichen einer diffundierenden Form. Die bisher auf Abstand gehaltene Ablenkung wird so attraktiv, dass man sich ihr schließlich zuwendet, es jedoch auch bei ihr zugunsten weiterer Ablenkungen nicht lange aushält. Die Aufmerksamkeit ist nicht mehr gerichtet, sondern zerstreut.
Damit ist eine erste Einsicht verbunden. Nachlassende Konzentration ist, wenn dieser erste Zugang zutrifft, kein Phänomen mangelnder Aufmerksamkeit, sondern ein Phänomen wandernder, zerstreuter, nicht innehaltenkönnender Aufmerksamkeit. Andernfalls wäre bereits der Begriff verfehlt und wir müssten von nachlassender Aufmerksamkeit sprechen.
Und auch eine zweite Einsicht stellt sich ein. Nachlassende Konzentration kämpft nicht nur mit dem Phänomen einer mangelnden Attraktivität der Aufgabe, für die es galt, sich zu sammeln. Sondern nachlassende Konzentration hat es daneben auch mit einer attraktiven Ablenkung zu tun.
Diese beiden Einsichten erschließen uns ein Phänomen, das nicht nur negativ konnotiert ist, eben als nachlassende Konzentration, und das damit nicht nur einen der Höchstwerte unserer Kultur, die Konzentration, in Frage stellt, sondern das neben diesen negativen Konnotationen auch mit zwei positiven Konnotationen aufwartet. Denn positiv ist zum einen, dass die Aufmerksamkeit bei nachlassender Konzentration nicht starr auf einen Gegenstand, sondern beweglich auf mehrere Gegenstände gerichtet wird. Und positiv ist zum anderen, dass neben der Attraktivität der Aufgabe auch anderes seine Attraktivität behält oder vielleicht gar erst gewinnt.
Nachlassende Konzentration hat es somit nicht nur mit dem Verlust einer Priorität, sondern auch mit dem Gewinn von Vielfalt zu tun.
Dennoch überwiegt bei den meisten Beobachtern vermutlich die negative Konnotation. Nachlassende Konzentration gilt nicht als Wiedergewinn lebendiger Menschlichkeit aus enger Beherrschung durch einen begrenzten Sachverhalt, sondern als Ausdruck mangelnden Sinns für den Nutzen einer Vertiefung.
Das ist deswegen bemerkenswert, weil es offen legt, dass in diesem Werturteil der negativen Einschätzung nachlassender Konzentration der Glaube an ein konzentrisches Weltbild verborgen ist, das vielleicht mehrere Zentren, in jedem Fall jedoch Zentren aufweist, um die es sich lohnt, Aufmerksamkeit, Aufwand, Arbeit und Anstrengung eine Zeit lang kreisen zu lassen, ohne sich ablenken zu lassen. Diese Zentren heben sich von ihrer Peripherie ab, die deswegen nicht unsichtbar wird, aber doch jederzeit geringer eingeschätzt werden kann als das Zentrum. Im Zentrum steht die Aufgabe, an der Peripherie finden sich bestenfalls zuträgliche Ressourcen und schlimmstenfalls verführerische Ablenkungen. Doch sowohl die Ressourcen als auch die Ablenkungen werden nur aus den Augenwinkeln mit Aufmerksamkeit bedacht, da die Wertung der Aufgabe alle anderen Hinsichten und Rücksichten abzuschatten vermag.
Nachlassende Konzentration ist ein Beleg für die schwindende Überzeugungskraft dieser Zentren. Arbeit und Aufmerksamkeit lassen sich nicht mehr konzentrisch organisieren, weil der Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie verwischt. Die Zentren werden peripher und die Peripherie wird zentral, obwohl beides sich nicht durchhalten lässt. Man kann Begriffe und Wertungen für einen Moment vertauschen, aber gleich anschließend sind beide Seiten der Medaille nichts mehr wert.
Es sei denn, sagen uns aufgeklärte Pädagogen, man lässt es zu, dass Zentrum und Peripherie nicht mehr zentral verwaltet, politisch geschützt, ökonomisch separiert, institutionell ausgestattet und kulturell gepflegt werden, sondern individueller Entscheidung überlassen werden.
Dann ist die nachlassende Konzentration ein Übergangsphänomen. Die alten Zentren verlieren ihre Attraktivität; und die individuellen Setzungen haben noch keine Kraft. Die konzentrische Organisation von Arbeit, Aufwand und Aufmerksamkeit ist dekonstruiert, wird historisch, ist nur noch ein schwacher Abglanz ihrer selbst. Aber das durch die Dekonstruktion gewonnene Material, die freigesetzten Energien, die durchscheinende Erinnerung an die eine oder andere Attraktivität, die auf institutionelle Stützen und kulturelle Pflege nicht zwingend angewiesen ist, liegen brach, weil niemand den Hebel findet, sie wieder in den Mittelpunkt einer anderen, einer neuen Aufmerksamkeit zu rücken.
Wie sieht diese neue Konzentration aus? Wie wird sie belohnt? Und von wem? Welchen Aufwand macht sie tragbar, welche Aufmerksamkeit hat sie verdient?
Das ist nur ein Gedankenspiel, aber vielleicht hilft es. Welche Konzentration verdient es, so genannt zu werden, wenn die vielen Zurufe ausbleiben, die sie zu fordern und zu loben wussten, weil das Zentrum anerkannt war, um das sie sich drehte? Welche Peripherie verdient es, ins Zentrum gerückt zu werden? Und welchen Begriff eines Zentrums können wir dann noch vertreten?
Gibt es so etwas wie eine abwegige Konzentration? Außerhalb der Kunst, wo sie jahrzehntelang konzediert war? Wie sieht eine Konzentration aus, die nicht mit einer Idiosynkrasie zusammenfällt, sondern sozial im Spiel bleibt, sachlich einen Unterschied macht, zeitlich ihren Anfang und ihr Ende kennt und allenfalls nachlässt, um von sich abzulenken, von der eigenen, noch nicht bewältigten Aufgabe? Wie sieht eine Aufgabe aus, die nicht aufgegeben, sondern selbst gesucht ist? Kann es das geben, außerhalb der Freiheit von Forschung und Lehre in der Wissenschaft?
Man erkennt die Unruhe, die in der nachlassenden Konzentration steckt und die, so gesehen, kein Defizit-, sondern ein Überschusssymptom ist. Die konzentrische Bewegung auf alte Aufgaben zu ist nicht mehr attraktiv, neue zentrierende Bewegungen sind noch nicht in Sicht, aber der Ausstieg aus dem Gewohnten ist bereits vollzogen.
Diffundierende Formen sind das Kennzeichen einer ihre Kontingenz pflegenden Moderne. Diffundierende Formen sind nicht zu verwechseln mit Formen, die sich auflösen. Diffusion heißt, dass sich die Elemente dieser Formen voneinander lösen und für neue Kombinationen bereitstehen. Man muss sie nur aufzulesen verstehen. Und man muss zur Kenntnis nehmen, dass die alten Schablonen dafür nicht mehr genügen.
Nachlassende Konzentration ist ein Vektor, der sich aus der Reformatierung von Zentrum und Peripherie ergibt. Er zwingt dazu, Persönlichkeitsbilder neu zu ordnen, die sich ehemals tendenziell eindeutig auf Zentrum und Peripherie verteilen ließen. Er löst die Disziplinierungstechniken auf, die einst am Zögling den Anschein der Konzentration als Habitus pflegten, auch wenn der Geist immer schon träumerisch unterwegs war. Er klammert institutionelle Praktiken und kulturelle Aktivitäten ein, die einst mit Sanktionen, Ritualen und Routinen zur Stelle waren, sobald die Konzentration schwächelte. Und er verzichtet darauf, die nachlassende Konzentration eindeutig negativ zu werten, sondern wendet stattdessen ein, sie könne Symptom und Symbol einer gesellschaftlichen Verschiebung sein.
Mit nachlassender Konzentration verabschieden wir eine gesellschaftliche Formation, die sich uns in Aufgaben, Persönlichkeiten und Anerkennung umgemünzt hatte. Im Schatten der nachlassenden Konzentration beobachten wir Leerstellen. Was tut sich in ihnen und um sie herum? Zerstreut organisieren wir uns neu und vielleicht ein wenig anders.
Nacht für Nacht kritzle ich neue Fragen für meinen Schüler auf ein Stück Papier und am nächsten Tag spuckt er dann auf sie, manchmal buchstäblich, immer aber im übertragenen Sinn. Die Fragen, die ihn am meisten in Rage versetzen, werden in den Lehrplan übernommen. Hier ist eine:
Wäre es nicht schön für eine Firma zu arbeiten, deren Mitarbeiter man alle persönlich kennt?
Selbstverständlich vermeide ich es, von lieben zu sprechen, so weit sind wir noch nicht. So wie die Dinge im Augenblick liegen, reichen schon die Worte „für eine Firma arbeiten“ aus, um eine verzerrte Grimasse auf sein Gesicht zu zaubern.
„Sie zu führen! Führen, FÜHREN …!“, brüllt er ohne Unterbrechung, während ich den Rest der Frage stelle. Manchmal geht es damit sogar weiter, nachdem ich schon geendigt habe, und er hämmert auf die paar Oberflächen ein, die ihm zugänglich sind. Nach und nach ergreift ihn die Lust an den schillernden Facetten der Bedrohung, die sich in diesen Worten und ihrem seltsamen Präsens widerspiegelt. In solchen Augenblicken ist es wichtig, eine solch lebhafte Vorstellung in unserem kleinen kahlen Raum unweit eines Wäldchens – Sonnenstrahlen funkeln im Geäst, während eine Brise das Gemurmel von Blättern zu uns hereinträgt – nicht als hohles Trugbild zu enttäuschen. Dieser abgeschlossene und endlos sich erstreckende Raum, in welchem er nichts am Laufen hält und ich nirgendwo hinlaufe, zumindest in kein Nirgendwo, in dem er das Sagen hat.
Auf alle Fälle rühre ich mich nicht vom Fleck. Und bewaffnet mit der Bedrohung seiner Liebe, frage ich ihn:
Wäre es nicht schön, eine Firma zu führen, die Gegenstände produziert, die von den Menschen nur unter Zuhilfenahme ihrer eigenen Hände und ihres gesunden Menschenverstandes selbst repariert werden können und ein Leben lang halten?
Schweigen.
Ein Produkt, das keiner zusätzlichen Anschaffungen bedarf, keine weiteren Wartungsarbeiten, Upgrades oder durch den Fachhandel gelieferte Ersatzteile braucht, um verlässlich und zuverlässig über ganze Generationen hinweg zu funktionieren?
Das Geheul, das er daraufhin ausstößt, gleicht, obwohl es nur aus seiner eigenen Kehle kommt, dem Gebrüll, mit dem sogar die Massen heutzutage einen solchen Vorschlag begrüßen würden: Dem blöden, hungrigen, überfütterten Chor eines entleerten selbstsicheren NEIN! Ein solches Produkt ist töricht und keiner verdient daran!
Was ist das doch für ein lautes Geplärr, das sich da draußen breitmacht; gerade wenn man bedenkt, dass während nur eines Lidschlags der Erinnerung des Films – und für die wenigen hundert vorangegangenen Jahrtausende – so einfache Gegenstände und kunstvoll gefertigte Objekte reibungslos nebeneinander existiert hatten, jedes Haus, jede Hütte, jedes Zelt und jede Höhle waren voll von ihnen und sie unterstützten die Menschen, geradeso wie es die Luft tut, die wir alle atmen. Als dann die ersten Diebe dieser Luft die Menschenbühne äußerst spät betraten, setzte sich ihre billige, unbefriedigte Wegwerfhaltung in nur wenigen Generationen durch und wurde zur Geistesgestörtheit auf Basis der Chancengleichheit. Nur kleine Stammesgemeinschaften im Dschungel, Kinder, Tiere, die Ärmsten der Armen und andere, über die man sich mühelos hinwegsetzen konnte, blieben von dieser Krankheit verschont – Überbleibsel aus den grausigen Randzonen der Natur, Abkömmlinge des dreidimensionalen Augenkontakts und der Wäscheleinen; oder schlimmer noch: Relikte in Welten, in denen selbst die Vorstellung des Wäschewaschens undenkbar geworden ist.
Da sich nun keiner die Weisheiten solcher Figuren zu Gemüte führen will, weil sich da kein Trickle-down-Effekt einstellen wird, arbeiten wir eben von hier hoch oben aus weiter, in unseren abgeschotteten Höhlen, immer ein Krüppel – oder um den Namen zu verwenden, den sie sich selbst gerne geben: Manager – nach dem anderen.
Man kommt nur langsam voran und so soll es auch sein, obwohl unten in den Tälern selbst die Arbeiter, die früher Eigentum dieser Spitzen der Gesellschaft gewesen waren, immer noch das Gedankengut der Manager erbittert in sich herumtragen wie eine Seuche. Sie „wissen“ nur zu gut, wie sehr sie wünschen, dass jeder Boss auch seinen „Anteil“ bekommen soll. Seit unsere kleinen entführten Studenten jetzt beständig durch immer neue Modelle ersetzt werden – obgleich man hofft, dass diese weniger und weniger werden mögen –, so glauben ihre ehemaligen Sklaven weiterhin fest daran, dass raffinierte Vermarktung und vorgetäuschtes Teilen sich jeder Herausforderung gegenüber als immun erweisen wird. Ja, der sprunghafte Anstieg von „Herausforderungen“ selbst hat unter unseren Augen jede klare Bedeutung oder jedes wesentliche Ergebnis feinsäuberlich von sich abgestreift. Und auf gleiche Weise hat sich auch der breitschultrige, muskelwortbepackte Actionheld, der gekommen war, um seinen Teil einzufordern, anscheinend aus dem Staub gemacht; aufgeschwemmt und zusammengeschrumpft durch all das neumodische Kool-Aid hat er nun die königlich-kärgliche Statur aus dem frühen Mittelalter angenommen.
Doch selbst die Könige jener Zeit mussten schließlich „ein Stück weit“ nachgeben, obgleich „ein Stück weit“ heute ein anderes Wort für übers Knie gebrochen und mit einer soliden goldenen Perücke wieder eingegipst bedeutet; eine kostspielige Reproduktion, die jeder Bürger sich bestellen muss, um unter ihrem Schutzbefehl arbeiten zu dürfen.
Auch wenn es dazu bestimmt ist, ihn zu beruhigen, hasst es mein Schüler, wenn das Folgende laut ausgesprochen wird:
Produkte, die lange halten, sind gefährlich.
Sein kurzes Aufbrausen als Reaktion darauf erstaunt mich zuerst und vielleicht auch ihn selbst; aber vielleicht ist das nur Teil der Strategie, was mir klarer wird, sobald ich zugebe:
Selbstverständlich nicht im Sinne dessen, was irgendjemand öffentlich sagt oder schreibt.
An dieser Stelle nickt er dann heißhungrig, seine Gesichtszüge entspannen sich und er entsinnt sich mit einem Mal, wie man den braven Studenten mimt.
Aber – oh wie er meine „Aber“ hasst – wenn man vom stabilen Zement ausgeht, mit dem die Spur des Geldes ausgegossen ist, wird deutlich, dass Produkte, die lange halten, sowie eine kühne, selbstbewusste Bevölkerung als Probleme gebrandmarkt wurden. Und wenn es dir nun angezeigt zu sein scheint, dass die Wirtschaftsführer einräumen müssen, dass es derlei Warnzeichen entlang ihres kostbaren Pfades gibt, dann könnten sie sich auch letzten Endes dazu gezwungen sehen, ihn zu verteidigen.
„Denkt euch bloß“, könnten sie sagen, wenn man sie auf einem Stuhl festschnallt, „was uns ein halbes Jahrhundert lebenslang nicht kaputtgehender Telefone gekostet haben werden; allein was die Telefonmanager angeht, und noch ganz abgesehen von den Sonderzulagen und Verkaufsboni.“
Jawohl Kinder, das gab es einmal – ein grauenhaftes halbes Jahrhundert mit ein paar tausend Telefonen, die alle beinahe gleich aussahen. Und ja, es gehört sich nicht, einen Menschen mit Beispielen von Typen zu belehren, die an Stühlen festgebunden sind, wenn er doch selbst buchstäblich direkt vor deiner Nase selbst an einem festgeschnallt ist. Es ist allerdings auch möglich, dass er mich unterdessen mit seiner Wut angesteckt hat, obgleich ich doch meine eigene bevorzuge, von der ich meine, sie sei logisch. Ich binde ihn auch nicht zu fest, um das Gespucke und das Schweigen hervorzulocken; oder die Fäkalien, die immer wieder an allen möglichen Orten auftauchen.
Deshalb mache ich weiter:
Man gewinnt doch den Eindruck, dass auch manche Dienstleistungen unsere Wirtschaft gefährden, nicht wahr?
Er schneidet dieses kleine Gesicht und beginnt mit seinen Fingern zu zucken, was bedeuten soll, dass er jetzt wünscht, als jemand betrachtet zu werden, der den Wunsch hegt, an dieser Stelle ein paar Notizen machen zu dürfen. Aber auf so etwas falle ich nicht herein und ziehe heute zum ersten Mal die Kreidetafel hervor, bemerke dabei noch ein enttäuschtes und tonloses „Whiteboard?“ auf seinen Lippen und dann den sprunghaften Blick, den er, auf der Suche nach Steckdosen und Kabeln, über den Boden und die Wände schweifen lässt und dann über meine Hände, wo er hofft, die kleine viereckige Vorrichtung mit dem Klicker zu erspähen.
Sag mir, dass das nicht zutrifft: Die neue Denkweise übersetzt „wertlos“ mit:
An der Tafel beginne ich nun eine Liste aufzuschreiben:
Freie, inspirierende, einfühlsame Bildung für alle; eine ausreichende Anzahl von Sozialarbeitern und eine ausreichende medizinische Versorgung vor Ort, die man ohne Ausfüllen von Formularen, ohne Mittelsmänner und auch bei Hochbetrieb erhält; eine ausgewogene Unbegrenztheit an selbst angebauten Lebensmitteln und Klamotten und Kerzendochten und Licht. Wenn auch etwas weniger unbegrenzt: allgemeine Frischluft- und Wasserversorgung, die ja auch ein wirtschaftliches Abflussrohr ist, das unsere junge und expandierende Managerklasse dazu zwingt, sich jeden Tag gegenseitig zum Mittagessen einzuladen, um herauszufinden, wie man all den Müll hübsch verbuddeln kann und anschließend den feinen Saft wieder herauspressen.
„Ich will Saft“, jault er hier, beinahe kläglich, gleich los. Gebe ich ihm dann aber einen, der heute Morgen aus den Früchten unseres kleinen Obstgartens gepresst wurde, dann spuckt er ihn gleich wieder aus. Ich frage gar nicht erst nach, nehme aber an, dass der Geschmack oder die Farbe nicht dem entspricht, was er gerade will. Wahrscheinlich ist es nicht der bei ihm gerade angesagte Saft. Oder er stößt sich am Marmeladenglas, das ich als Becher verwende, oder es liegt am Service. Alles, was er zu sagen hat – wobei er jedes einzelne Wort wie einen Kristall in seinem Mund abschleift – ist: „Was. Ist. Das!?“ Ich habe keine Ahnung, ob er wissen will, um welche Marke es sich handelt oder aus welchen Früchten der Saft gemacht ist oder wie er hergestellt wurde. Außerdem bin ich müde und gebe ihm auch deshalb keine Antwort. Das tut ihnen zuweilen ganz gut in Situationen, wo sie es mit echten Dingen zu tun bekommen, hat man mir gesagt. Auf diese Weise fangen sie möglicherweise zu lernen an.
Am nächsten Tag probiere ich einen anderen Ansatz aus – eine Geschichte. Etwa zur Hälfte kommt es zu folgendem Schluss:
Kein Zweifel – diese abgefeimte Gartenschlange hat gewonnen und wir sind jetzt unser eigener Teufel. Durch mehr als den bloß schlechten Ratschlag eines Reptils haben wir uns zu Trägern seiner globalen, unfähig machenden genetischen Schrulle gemacht. Dennoch schafft es noch immer nicht jede genetische Schrulle, überall einzudringen, wo es ihr beliebt, auch wenn sie vom Rest den übrigen Planeten infizieren lässt, um eine blinde, androide Brut zu erschaffen. Zumindest stelle ich mir gerne vor, dass einige entkommen sind und weitere es tun werden, was auch bedeutet, dass du mich vielleicht wirst töten müssen.
Doch das schafft er nicht. Nichtsdestotrotz bin ich sicher, dass er von seinen Brüdern träumt, die da draußen immer noch Amok laufen und Cobra-ölige Flucht und Lust wie die Straßenräuber verschachern; und das tun sie selbstverständlich auch. Wir hier aber haben nur eine gewisse Stückzahl unserer bequemen Stühle verfügbar und nur eine gewisse Anzahl von versteckten Räumlichkeiten und Seile nur in begrenztem Umfang. Dem stehen unzählige Freiwillige gegenüber, die genug Zeit haben und Geduld und Gartengemüse und Solarpaneele für zwei.
Um den Pfeilhagel des Konsumismus auszudünnen, der tagtäglich auf unsere Eigenheime einprasselt, hab ich mir schon des Öfteren ausgemalt, diesen Machern da draußen klarzumachen, dass ich kein Produkt und keine Dienstleistung jetzt oder in Zukunft kaufen werde, die er sich anheischig macht, mir anzubieten. Deshalb sollte er seine kostbare Zeit, die sich so ausgezeichnet zu Geld machen lässt, nicht verschwenden. Doch ist das, geschätzter Leser, nicht schon wieder ein weiteres Symptom unserer Zeit, dass jeder von uns schlagartig begreift, was daraus folgt? „Die letzten Verweigerer!“ Auf ihre stumme und klickende Weise höre ich die Systeme überall noch lauter kreischen und die Jagd ist eröffnet auf die letzten Krümel vom Kuchen, auch das letzte Bisschen von der bockigen Kokainglasur muss noch weg. Was als erstes vor die Flinte läuft, wird zügig den Soufflees der Wirklichkeit und den hunderten von Verführungen untergerührt; dazu gehört die brandneue Falle à la Elmer Fudd, die sich mit Schildern wie „Kommen Sie rein, genießen Sie die wohlverdienten Vorteile unseres einzigartigen Spezialsachberater [sic] Clubs! Helfen Sie uns, unser Angebot zu verbessern! Sie [sic] sind der Chef! Gewinnen Sie Bargeld und Preise und gratis dazu die Mitgliedschaft im My Asteroid!® Club!®“
So wird das letzte Joch Land von uns, in uns und außerhalb von uns aufgesprengt und dann ist das Neue Universum® und alles jenseits davon dran.
Aber das schafft doch Arbeitsplätze, wird mein Mann im Stuhl zu bedenken geben, sobald man ihm diese hartnäckige, nicht auf Kauf getrimmte, „Lasst es uns klarstellen!“-Verschwörung eines Haushalts erklären will. Und damit meint er diese fortschrittliche Treibjagd, die man auf uns, die Nicht-Käufer, mit gefährlicher Kaltblütigkeit eröffnet hat. Es wird Arbeitsplätze schaffen! Ja, werde ich darauf diesem sich windenden Körper in seinem Stuhl antworten; Arbeitsplätze für Jobs, die für Insekten ausgerichtet sind, für die gutgläubige Jugend, die sich vom Gratisbier ernährt und nach der Ehre strebt, giftige Werkzeuge zu entwickeln, die jeden einzelnen Erdbewohner Tag für Tag zu erfassen, zu erkennen, auszusortieren und zu kontrollieren trachten.
Sogar das Fantasieren ist eine schwierige Angelegenheit heutzutage. Wenn der nun nicht mehr existierende Macher an einen Stuhl gefesselt wird, dann gilt es viele Entscheidungen zu treffen. Und er hat so viele Bedürfnisse, dass man jeden Tag Stunden damit verschwenden muss, um ihm zu erklären, dass es gar keine sind.
„Meine Fingernägel sehen schrecklich aus!“ Darüber beklagt er sich immer wieder, unfähig ein Stück Seife, fließendes Wasser und die Randgebiete seines Körpers so zu gebrauchen, um mit derlei Katastrophen klarzukommen. Zum einen wendet er ein, die Seife sei keine „Nagelseife“. Bei solchen Gelegenheiten gehen wir davon aus, dass es kontraproduktiv wäre, zu lügen. Wir könnten ja schlichtweg behaupten, es handle sich um ein Spezialprodukt für Nägel, das von nackten Jungfrauen aus dem Himalayagebiet für ein Honorar von zwei Cents pro Tag mit einem uralten Manikürehokuspokus gesegnet wird, und wir könnten ihm auch irgendeine Verpackung oder ein Etikett aus Seide präsentieren. Es ist aber auch nicht angezeigt, ihm zu einem frühen Zeitpunkt schon die Wahrheit zu sagen: Dass ich für dieses Jahr dutzende dieser Seifenstücke in meiner Schürze durch den Wald getragen habe, nachdem ich sie von einem anderen Lehrer erhalten habe, der sie aus schimmeligen Yamswurzelabrieben und Asche herstellt und diese großzügige Gabe jeden Frühling für uns bereithält, wobei er im Gegenzug das sorgfältige Stopfen seiner süßen Socken verlangt. Es ist nicht leicht zu begreifen, aber gewiss wert, eines Tages erforscht zu werden, welcher Teil der Wahrheit meinen Gefangenen mehr verstören würde.
Doch für den Augenblick, wo keine Seifennachrichten zur Hand sind, um die Nagelkrise beizulegen, bot ich ihm schließlich die zierlichste Raspel meines Urgroßvaters an. Dieses Angebot wurde auf der Stelle und ohne weitere Worte zurückgewiesen, so als ob ihr ein übler Geruch anhaften würde. Er weigert sich auch, das Wäldchen fürs Sporttreiben oder zur Erholung zu nutzen, ohne dass irgendwelche Gegenstände dabei ins Spiel kommen oder installiert werden. Ich habe ihn dort am ersten Tag beobachtet, wie er seine Taschen verzweifelt nach irgendeiner Maschinerie durchwühlte und seine Ohren danach spitzte; Ausschau hielt nach gefertigten Sitzmöbeln, entnervt, wie ein moderner, städtischer Säugling jedes Insekt oder herabfallendes Blatt anstarrt, allerdings dann nur mit der halben Aufmerksamkeitsspanne. Schließlich stand er einfach still, die Augen geschlossen, und drückte den Scheitel seines Hauptes an einen Baumstamm. Ich weiß nicht, was er zu ihm sagte, aber am nächsten Nachmittag fühlte er sich ein wenig besser in seinem Stuhl. Und ich war froh darüber, dass es mir meine Ausbildung erlaubte, der mächtigen Verlockung zu widerstehen, ihn dazu zu überreden, dem Wäldchen für all das seinen Dank abzustatten.
Wir hatten festgestellt, dass der beste Weg darin bestand, dass jeder von uns nur einen solchen Mann hatte, denn sie brauchen einfach so viel Pflege, man muss ihnen so viel zuhören und sie so viel fragen. Betreute man sie als Gruppe, dann würden sie uns möglicherweise verlassen und da draußen andere infizieren und sich reproduzieren. Doch selbst wenn man sich nur um einen kümmern muss, und dieser auch die meiste Zeit über angeschnallt ist, ist das ein außergewöhnlich hartes Geschäft. Wenn man von ihnen verlangt, schriftlich zu beweisen, dass ihr Wahnsinn geistige Gesundheit sei, dann zerbrechen sie einfach die Bleistifte, zerreißen die Notizbücher und Seiten, auf denen all die Daten verzeichnet sind, die wir ihnen liefern, und schmeißen das Papier in ihren netten kleinen Schlafzimmern wüst durch die Gegend. Ich selbst bin schon oft auf derlei verstreute Reste getreten und dann musste ein ganzer Tag wieder dem Thema Verantwortung gewidmet werden, worauf dann ein weiterer Nachmittag folgte, an dem ich mich um die sachgerechte Entfernung all der Splitter kümmern durfte. Dennoch rudert er jetzt immer noch in seinem Zimmer bis zu den Hüften in all dem zerbrochenen Zeugs herum und schreit nach einem Hausmädchen, das niemals kommen wird. Ich habe ihm sogar vor seinem vergitterten Fenster ein kleines Loch gegraben, in das er alles Stück für Stück hineinwerfen könnte. Ich hab ihm auch unnötigerweise mitgeteilt, dass alles fein und korrekt in der Erde verrotten wird; oder, wenn man es anderswohin brächte, es dafür sorgen würde, dass es warmes Wasser für eine Dusche gäbe oder wir sein Essen kochen könnten, aber er hasst die Dusche genauso wie alles, was ich ihm koche. Aber er ist erst seit ein paar Wochen hier; von anderen habe ich gehört, dass sie nach ein paar Monaten über jedes frei fließende Gewässer, einschließlich des Regens, in Jubelstürme ausbrechen und alles, was man ihnen vorsetzt, dankbar verzehren – auch ohne Tischtücher, Privatköche, Räuchergrill oder knallblonde Kellnerinnen.
KONZENTRATION DES DIGITALEN MARKTS, KONZENTRATION DES EINZELNEN UND DIE WIEDERENTDECKUNG DER SOUVERÄNITÄT
I. TOPOGRAPHIE EINER HOMÖOPATHISCHEN KOLLISION
Homöopathen glauben an das Simile-Prinzip. Demzufolge können Krankheiten nur durch winzige Dosen genau des Stoffes kuriert werden, der in höheren Dosen die Krankheit auslösen würde. Der physische Wirkungzusammenhang dieser Methode ist nicht erwiesen, dennoch ist sie beliebt. Wahrscheinlich, weil das Grundprinzip eine so intuitiv verständliche Dialektik aufruft, dass sie auch als Placebo gut funktioniert.
Zunächst scheint es sich bei der Konzentration des digitalen Markts und der Konzentration einer Person um zwei Phänomene zu handeln, die zwar mit demselben Begriff bezeichnet werden, aber zu unterschiedlich sind, als dass ihre Kollision jene placebohafte Wirkung entfalten könnte, die die einzige ist, zu der Theorie überhaupt fähig ist.
Die Konzentration des digitalen Markts entspricht der zunehmenden Tendenz zur allgemeinen Monopolisierung, die die Weltwirtschaft während der letzten zwanzig Jahre aufweist. Sie ist aber deutlicher als im nicht-digitalen Bereich. Beim Suchmaschinenmarkt beispielsweise liegt Googles Anteil in den USA bei fast 70 Prozent. In Europa – wo weder Bing noch Yahoo signifikant genutzt werden – sogar bei circa 90 Prozent. Eine ähnliche Monopolstellung hält in den USA Amazon mit über 40 Prozent aller Buchverkäufe, circa 65 Prozent aller Online-Buchverkäufe und fast 70 Prozent des E-Book-Markts. In Europa ist Amazons Anteil im Druckbereich wesentlich kleiner, da der stationäre Buchhandel noch eine Rolle spielt. Auf dem Sektor der sozialen Netzwerke hält Facebook in den USA fast 60 Prozent, in Europa ein paar Prozentpunkte mehr.
Diese Zahlen sind auch auf dem für westliche Anbieter sprachlich herausfordernden indischen Markt ähnlich, wo 90 Prozent aller Suchanfragen mit Google getätigt werden und knapp 95 Prozent aller Internetnutzer ein Facebook-Konto haben. Sie treffen lediglich nicht auf China zu, welches den im Westen häufig schlicht als „politische Zensur“ wahrgenommenen staatlich unterstützten Aufbau eigener digitaler Monopole betreibt. Während es durchaus Leute gibt, die kein Auto fahren und niemals bei einer großen Fastfoodkette essen, gibt es außerhalb des Reichs der Mitte kaum einen Internetnutzer, der nicht täglich mindestens einmal eines der globalen digitalen Monopole anklickt.
Was Konzentration beim Einzelnen ist, lässt sich dagegen nicht annähernd so deutlich quantitativ ausdrücken. Immerhin wissen wir durch Verfahren der Voxel-basierten Morphometrie, dass sie nicht nur subjektiv erlebbar ist, sondern physische Veränderungen im Gehirn bewirkt. Probanden, die zu jonglieren gelernt hatten, sich mehrere Sprachen oder die Fähigkeit angeeignet hatten, als Taxifahrer in London zu navigieren, zeigen entsprechende Verdichtungen der als Grey Matter bezeichneten, weitgehend aus Nervenzellkörpern bestehenden grauen Substanz des Gehirns. Ähnliche neuroplastische Veränderungen bewirkt Meditationspraxis, was vor allem mit der dabei erlernten Atem- und Pulskontrolle zusammenhängt.
Strukturell betrachtet, handelt es sich bei der Konzentration des digitalen Markts und der Konzentration des Einzelnen also um durchaus ähnliche Phänomene: bei beidem findet eine auf ein oder mehrere Zentren hin zentripetal ausgerichtete Kristallisation eines Netzwerks statt – im Fall des Einzelnen des neuronalen, im Fall „des“ Internets einer Vielzahl digitaler Netzwerke. Da digitale Monopole und die von ihnen erzeugten Filterblasen wesentlich über die Inhalte entscheiden, die der individuellen Konzentration zugänglich sind, hat die Marktkonzentration im digitalen Bereich langfristig neuroplastische Effekte, das heißt, sie wird neuronale Muster erzeugen.
Ein Antagonismus, der bereits hier erwähnt werden muss, liegt aber darin, dass Konzentration beim Einzelnen ein gewünschter, oft künstlich mit Adderall oder Ritalin herbeigeführter Zustand ist, während die Konzentration des digitalen Markts, vor allem durch die vor-digitalen Eliten, häufig verteufelt wird. Neben dem Bedeutungsverlust der eigenen Macht, ist die für die digitalen Monopole elementare Auflösung der das Bürgertum konstituierenden Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre mit großer Furcht verbunden.
Nicht zuletzt aber geht die Dämonisierung der digitalen Monopole durch die vor-digitalen Eliten auf eine Verwechslung digitaler Monopole mit vor-digitalen zurück. Während Markt- und damit Machtkonzentration zwar grundsätzlich ein erhebliches Problem darstellt, führen die digitalen Monopole im Unterschied zu vor-digitalen zumindest für den Endverbraucher nicht zu einer Verteuerung des Produkts, da ihre Akzeptanz daran gekoppelt ist, Umsonstanbieter zu sein. Kaum zu befürchten ist auch die Verschlechterung der Produktqualität, zu der es bei vor-digitalen Monopolen häufig kam. Gerade im Fall von aus Userverhalten lernenden Algorithmen erzeugt Quantität, ohne den Mehraufwand von Produktionskosten, Qualität, deren Herabsetzung also keine Kostenvorteile für den Anbieter bedeutet. Hinsichtlich ihrer quantitativen Ausdehnung sind Monopole sogar Voraussetzung für die Funktionalität und Qualität digitaler Produkte. Die mit den digitalen Monopolen verbundenen Gefahren liegen tiefer, wie später im Detail erläutert wird.
Sicher ist: die verstärkte Thematisierung der Verbindung zwischen kognitiver Konzentration einer Person und der Konzentration des digitalen Markts sind Indizien dafür, dass das Zeitalter der Idee einer am wild wuchernden „Rhizom“ orientierten Netzwerkgesellschaft vorbei ist. Wir sind in eine neue Epoche getreten, in der die Netzwerktheorie eine notwendige Erweiterung um Konzentration, Re-Strukturierung und Hierarchisierung erfordert, die vor allem einen Gegensatz zu dem für das Netzdenken der Neunziger konstitutiven Laissez-faire-Libertarismus bildet.
Die Re-Konzentration ging zwar von der in den letzten Jahren erfolgten erheblichen Marktkonzentration im digitalen Sektor aus, hat aber über die Ubiquität digitaler Technik längst auch die nicht-digitale Wirtschaft, den Staat, die Geheimdienste und das Militär erfasst, bringt damit also Spielraumerweiterungen an herkömmlichen Zentren souveräner Entscheidungsmacht mit sich. Dieser Prozess bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Konzentration des Einzelnen, da gerade sie den Ausgangspunkt der zu einem großen Teil auf Aufmerksamkeitsökonomie gegründeten Macht im digitalen Zeitalter darstellt.
Was nun den Versuch der angestrebten homöopathischen Wirkung anbelangt: das Aufeinanderprallen von Marktkonzentration und menschlicher Konzentration, die Kollision des Gleichen mit dem Gleichen, wird nur dann nicht in einer Vergiftung enden, sondern eine homöopathische Wirkung entfalten, wenn die Struktur der gewaltigen Potentiale digitaler Monopole für die Konzentration des Einzelnen verstanden wird. Dazu braucht es ebenso eine Entpolitisierung und Entdämonisierung der digitalen Monopole wie eine Neuverortung der Beziehung zwischen dem neurologischen System des Individuums und den unter dem Begriff des Internets zusammengefassten Netzwerken.
II. FACEBOOK AT WORK: DER REINE MEHRWERT EX NIHILO AD NIHILUM
Es erfordert die beinah unmenschliche Konzentration eines Cypherpunk-Asketen, den stets mächtiger und weniger werdenden Überlebenden der Konzentration des digitalen Markts auszuweichen oder sich im Umgang mit ihnen zumindest unkenntlich zu machen. Wer ernsthaft darauf achtet, nicht in die Datensammlungen von Facebook, Google, Yahoo und Amazon einzugehen und in seinem Surfverhalten nicht durch ihre vorgefertigten Filterblasen bestimmt zu werden, leistet eine auf den gesunden Menschenverstand kauzig wirkende Entsagung.
Noch ist geschützter Datenverkehr wesentlich seltener als geschützter Sex, auch wenn er – wir handeln wider besseres Wissen – sicher notwendiger ist als letzterer. Während man sich beim Sex lediglich physische Krankheiten einhandeln kann, ragt der ungeschützte Datenverkehr gerade durch seine auf das bloß Symbolische beschränkte, scheinbare Harmlosigkeit in denjenigen Seinsbereich hinein, der uns in unserer gattungsspezifischen neuroplastischen Essenz angeht.
Die digitalen Monopole stellen uns vor das Dilemma, ihre wachsende Macht entweder defätistisch zu ignorieren oder unsere gesamte Konzentration darauf zu verwenden, uns vor ihnen zu schützen und damit in einen merkwürdigen Bereich abzudriften, der vollkommen paranoid und zugleich rationaler ist als das Verhalten der Mehrheit: einen Zustand, den man sonst nur von Bürgern totalitärer Staaten kennt.
Um es neutraler zu formulieren: Grundsätzlich ist nicht davon auszugehen, dass akkumulierte Macht im digitalen Bereich nicht korrumpiert. Das Gegenteil lässt sich schon durch die Anekdote erahnen, dass Zuckerberg sofort nach der Gründung von Facebook die Mail-Passwörter seiner Kommilitonen über misslungene Einlogversuche auf seiner Seite ausspähte und dieses Wissen gegen sie verwendete.
Vor allem aber basiert die Umsonst-Ökonomie des Internets auf einer Streuung der Konzentration beim Einzelnen. Wir bezahlen nicht nur mit unseren privaten Daten, sondern, wie schon im ebenfalls größtenteils werbefinanzierten TV- und Printzeitalter, mit unserer Zerstreuung. Wer nicht durch Werbung in seiner Konzentration gestört werden will, muss einen kostenpflichtigen Premium-Account buchen, meistens aber wird diese Option nicht einmal angeboten. Konzentration ist in dieser Ökonomie zum eigentlichen Ausgangspunkt der Kapitalbildung geworden. Wenn wir sie für Leistungen der digitalen Monopole an diese abtreten, geben wir damit auch eine Verzichtserklärung ab, mit unserer Konzentration nichts zu produzieren, das ihnen Konkurrenz bereiten könnte. Gleichzeitig weben wir beim Herumklicken gerade mit unseren zerstreutesten Konzentrationsbruchstücken mit am Machtwissen der digitalen Monopole.
So akkumuliert sich Konzentration in den digitalen Monopolen als kognitives Kapital, wobei man Debord weiterdenken muss, der zur Genese der klassischen Medienindustrie meinte, das Kapital werde schließlich in seiner höchsten Form der Akkumulation zum Bild. Heute können wir sagen: Wirtschaftskonzentration auf ihrem vorläufigen Höhepunkt ist die Akkumulation der Konzentration selbst. Es lohnt, die Kuriosität zu bemerken, dass damit, zumindest begrifflich, ein rein tautologischer Liminalzustand erreicht ist.
Toxisch auf die Konzentration des Einzelnen wirkt sich insbesondere das Phänomen „Facebook at Work“ aus, das sogar in die Entwicklung einer arbeitsplatzspezifischen Variante des sozialen Netzwerks münden soll. In der „Funemployed Playbour“ muss man für die unvergütete Abgabe seiner Konzentration an digitale Monopole aufgeschlossen sein. Es gilt, sich am postmodernen Büroalltag zu beteiligen, der mehr und mehr in der Zerstreuung während der vorherrschenden Phasen der Nichtarbeit besteht. In diesen schickt man sich für kommende Produktkampagnen der digitalen Cloud-Overlords gegenseitig lachend Persönlichkeitstests zu oder ergeht sich sonstwie in symbolischer Produktion, deren einzig wirklicher Nutzen in der Optimierung der Algorithmen zur Marktanalyse, Terrorprävention und Gesichtserkennung besteht. Ein einstmals avantgardistischer Poesieprofessor wie Kenneth Goldsmith bietet heute die einzige illusionslose Vorbereitung auf den zeitgenössischen Angestelltenalltag, insofern er an der Ivy League Seminare mit dem Titel “Wasting Time on the Internet“ leitet.
Es stellt sich die Frage, weshalb Unternehmen ihre Büros den digitalen Monopolen als Zerstreuungsfarmen zur Verfügung stellen. Der wichtigste Grund dafür liegt in der schieren Ohnmacht, die entsteht, da die ehemaligen Giganten aus Stahl und Glas heute nicht mehr über ihre Produktionsmittel verfügen und es schlichtweg nicht mehr möglich ist, ohne Google zu arbeiten. Man ist daher bereit, einen beträchtlichen Teil des kognitiven Kapitals der Mitarbeiter an Google abzutreten.
Gerade die Verwertung der Freizeit der Arbeitnehmer durch die digitalen Monopole hat wiederum den diabolischen Effekt, dass sich, in einem allzu menschlichen Pawlowschen Umkehrschluss, jede Minute, die beim zerstreuten Surfen während der Arbeitszeit von den digitalen Monopolen verwertet wird, als Freizeit anfühlt, für die man sogar kämpft. Da die Belegschaft die Nutzung von Google und Facebook am Arbeitsplatz paradoxerweise für gewöhnlich als ihr eigenes Interesse wahrnimmt, gibt es für den Arbeitgeber, der zwischen den identischen Forderungen von Belegschaft und digitalem Monopol eingeklemmt ist, keinen anderen Weg mehr als den, die Nutzung von Facebook und Google am Arbeitsplatz zuzulassen und – um nicht gar so kastriert auszusehen – sogar zu befeuern.
Die aktive Verwertung von Surplus-Ressourcen, Surplus-Energie und Surplus-Zeit, die unter Clay Shirkys Begriff des „Cognitive Surplus“ schon früh als das revolutionäre Charakteristikum der digitalen Industrie etwa im Unterschied zur bloß passiven, keinen Mehrwert produzierenden Freizeitbeschäftigung Fernsehschauen verstanden wurde, führt zu einer nur schwer zu begreifenden Umkehrung und Liminalisierung der Kategorien marxistischer Kritik der Realwirtschaft, von der sich die digitale Wirtschaft wie ein Parasit ernährt. Mit der anfangs in Bezug auf den Wirtschaftskreislauf überschüssigen Konzentration der User wird das Surplus zum Ausgangspunkt einer magisch bis illusorisch wirkenden Wertschöpfungskette des reinen Mehrwerts ex nihilo ad nihilum. Um die Subsistenz, die bei Marx die Grenzen der kapitalistischen Verwertung festlegte und deren Nichterfüllung die notwendige und vielleicht sogar hinreichende Bedingung jeder historischen Revolution war, kümmern sich andere.
Wie Lanier zutreffend herausgestellt hat, kann dieses merkwürdige Vorgehen zu einer richtiggehenden Aushöhlung der Volkswirtschaften führen, in deren Folge Lebensmittel und Miete nicht mehr vom Lohn bezahlt werden können, aber Facebook und Google weiterhin umsonst sind. Dabei bleibt die für die prä-digitalen Monopole typische Preissteigerung lediglich symbolisch, insofern man für die Gratisprodukte der digitalen Monopolisten immer mehr Konzentration und private Daten auf den Tisch legen muss.
Diese von Attraktionspolen durchzogenen Verwerfungslinien zwischen der Konzentration des digitalen Markts und der Konzentration beim Einzelnen sind mittlerweile Gemeinplätze, die sogar von trivial netzkritischen TV-Serien wie Selfie in ihrer Vorhersehbarkeit reproduziert werden. Wichtiger ist, dass sich die Gemütsruhe der meisten gegenüber den digitalen Monopolen in einem Maße lohnt, dass man angesichts der Trivialität unserer privaten Daten, die ja, solange wir keine Stars oder Staatsfeinde sind, außerhalb ihres Big-Data-Zusammenhangs wirklich niemanden interessieren, an alchemistische, bis ins Fäkale hinein optimierte Tauschverhältnisse erinnert wird. Die oft ebenso unabwendbare wie unerwünschte semiotische Notdurft unseres Geschicks als zoon logon echon wird in ihrer gesammelten Masse geradezu zum Stein der Weisen.
Die digitalen Monopole haben bisher nichts verteuert, wie andere Bereiche der Industrie. Die Monopole bleiben umsonst. Die Monopole liefern. Gerade die Marktkonzentration auf wenige datensammelnde Akteure ist Voraussetzung dafür, dass deren mit jeder Eingabe lernende Algorithmen immer besser funktionieren.
Im Auffinden von verwandten Autoren und Büchern übertrifft daher Amazon vor allem in seiner Breite und Ideologiefreiheit jeden Bibliothekar. Ähnlich ist Netflix einem Videoverleiher vorzuziehen, ebenso wie Yelp jedem Restaurantkritiker und Google Maps jedem Kartographen und Beifahrer. Und wer trauert ernsthaft um den Niedergang der Encyclopedia Britannica, wenn man dafür Wikipedia bekommt, das als das einzige der großen Monopole, die das Internet ausmachen, auch noch unkommerziell ist und mit seiner unzweifelhaften demokratischen Legitimität all das wohlfeile Ausbreiten der Ressentiments gegenüber den digitalen Monopolen aussehen lässt wie das futterneidische Quengeln der alten abgeschlagenen Eliten? Es scheint an der Zeit, dass sich die Menschheit nun auf andere Aufgaben konzentriert als auf diejenigen, die Algorithmen genauso gut oder besser erledigen.
In einer Komplementärbewegung könnte das Outsourcing der dumpfen und niederen, aber heute noch vorherrschenden faktischen und quantitativen Aufgaben des Geistes in den Aufgabenbereich der digitalen Monopole zu einem Reshoring menschlicher Produktionsgründe als Hort der qualitativen, schöpferischen Welterzeugung führen. Ähnlich wie in der Renaissance, als man die Konsequenzen aus der Heraufkunft des gedruckten Worts zog und die Mnemotechnik als eine Anthropotechnik zum Umgang mit den neuen Bedingungen entwickelte, stehen wir kurz vor einer Wiederentdeckung und Neudefinition menschlicher Konzentration. Diese wird immer weniger durch Kalkulieren, Ordnen und Rechnen gekennzeichnet sein und mehr und mehr durch die teleologische Kontrolle selbsttätiger Algorithmen, die Bestimmung ihrer Richtung, ihres Zwecks.
III. ÜBER SECHS ECKEN: MARKTKONZENTRATION, RHIZOM UND HEAVY TAIL
Der Plasmaschweif eines Kometen zieht nicht hinter dem Kometen her, sondern weist immer von der Sonne weg. Der Schweif kann also auch seitlich von einem Kometen abgehen oder ihm sogar vorausfliegen, wenn sich der Komet von der Sonne entfernt.
Ähnlich scheint die Ideengeschichte des kommerziellen Internets retrospektivisch ein fait accompli, lange bevor dieses Anfang der Neunziger aus seinem staatlich-militärischen Vorläufer, dem Arpanet, hervorging. Zwei kurze, aber weichenstellende Texte bildeten den Grundstock der Gemeinplätze, die das Gerede über die sogenannte Netzwerkgesellschaft noch heute bestimmen.
Der ältere dieser beiden Texte, publiziert von zwei Experimentalpsychologen namens Jeffrey Travers und Stanley Milgram im Jahr 1969, behandelte das sogenannte „Small World Problem“ und kam zu dem berühmten Schluss, dass jeder jeden über sechs Ecken kennt. Der zweite wurde Anfang der Achtziger von dem Philosophen Gilles Deleuze und dem Psychoanalytiker Felix Guattari verfasst und beschäftigt sich mit der Übertragung der Struktur meist unterirdisch verlaufender Wurzel- und Sprossensysteme, Rhizomen, auf soziale und kulturelle Phänomene.
Anhand einer Gegenüberstellung dieser beiden Texte lässt sich bereits fast alles sagen, was über digitale Monopole zu wissen ist. Am besten beginnt man mit dem historisch späteren, aber ideengeschichtlich vorausgehenden Text Deleuzes und Guattaris, gerade da er deren Möglichkeit vor ihrer Existenz verneinte.
Obwohl die Rhizom-Metapher heute – im Fortwirken ihrer Rezeption durch frühe Netztheoretiker wie Moulthrop, Massumi, Murray, Lovink, Hardt und Negri – vor allem als ein Prinzip des „Anything Goes“ der Netzwerkgesellschaft verstanden wird, formulierte der Text einen doch ziemlich autoritären Imperativ – eben denjenigen der hier bezeichnenderweise obligatorischen Strukturlosigkeit: „N'importe quel point d'un rhizome peut être connecté avec n'importe quel autre, et doit l'être“, hieß es. Jeder Punkt des zu bildenden Mega-Netzwerks könne nicht nur mit jedem anderen Punkt verbunden sein, sondern müsse mit jedem anderen Punkt verbunden sein.
Es ist kein Zufall, dass dieses Strukturapriori so gut auf das sich wenig später herausbildende zivile Internet zu passen schien. Was Deleuze und vor allem Guattari betrifft, stammten die im Prinzip nur ins Französische übersetzten Ideen aus dem Umfeld US-amerikanischer Kybernetiker wie Gregory Bateson, die das Konzept der Netzwerkgesellschaft weitgehend fernab öffentlicher Aufmerksamkeit auf den während den vierziger und fünfziger Jahren stattfindenden Macy-Konferenzen vorskizziert hatten. Deleuze und Guattari übernahmen einige ihrer wichtigsten Begriffe, „Plateau“ und „Double Bind“, von Batesons populär-kybernetischer „Ökologie des Geistes“.
Auffällig ist nun, dass heute, im Zeitalter der extremen Konzentration des digitalen Markts, klar geworden ist, dass das Gerede von der Netzwerkgesellschaft als einem rein horizontal organisierten Rhizom, ebenso wenig auf das real existierende Internet zutrifft, wie die Utopie der klassenlosen Gesellschaft auf den real existierenden Sozialismus.
Theoretisch mag im real existierenden Internet jeder Punkt mit jedem verbunden sein und ein herrliches Chaos absolut cyberpunk- und t.a.z.-mäßiger Gleichberechtigung herrschen. Und praktisch war dies aufgrund der radikalen Egalitarität und Reziprozität der technischen Ausgangsstruktur des Transmission Control Protocol auch lange der Fall. Heute sieht es jedoch so aus, dass, konservativ geschätzt, die Hälfte aller durch das Internet hergestellten Verbindungen, die zwischen einzelnen Nutzern und Mega-Hubs wie Amazon, Google und Facebook sind, dass sie sich also in dieser Hinsicht kaum von den Verbindungsquotienten traditioneller Massenmedien wie Radio und Fernsehen unterscheiden.
Diese Tendenz zur Konzentration wird heute zwar durch die Preisgabe der Netzneutralität zementiert, entwickelt hat sie sich jedoch zunächst spontan. Sie ist kein historischer Zufall und hat nichts mit kapitalistischer Dynamik zu tun, sondern ist ein allgemeines Charakteristikum von Netzwerken, wie die genaue Lektüre jenes anderen großen Texts der ideengeschichtlichen Grundlegung des Internets zeigt.
Es ist richtig, dass Jeffrey Travers und Stanley Milgram in ihrem Versuch zum „Small World Problem“ bewiesen, dass jeder jeden über sechs Ecken kennt. Die beiden Wissenschaftler fanden an 296 zufällig ausgewählten Testpersonen in Nebraska und Massachusetts heraus, dass diese im Schnitt 5,2 Zwischenstationen, von einer persönlich bekannten Person ausgehend, benötigten, bevor sie eine vermittelte Bekanntschaft zu einer willkürlich ausgesuchten Zielperson in Boston herstellen konnten.
Insofern passten Traversʼ und Milgrams Resultate scheinbar zur Rhizom-Metapher: Wir sind alle Teil des gleichen weltumspannenden und nicht eben sehr großen Netzwerks. Soziale Entfernung kann nicht geographisch gemessen werden. Das bewies etwa die Tatsache, dass die von Massachusetts aus begonnenen Ketten nur unwesentlich kürzer waren als die von Nebraska aus begonnenen.
Der nun häufig mit diesem Resultat assoziierte egalitäre Aspekt wurde in der Folge aber in Travers und Milgram hineingelesen. Die beiden fanden nämlich vor allem heraus, dass fast die Hälfte dieser Bekanntschaftsketten nur funktionierte, weil eine enorme Ungleichheit zwischen Menschen besteht, weil eben nicht „jeder Punkt mit jedem verbunden“ ist, sondern weil es große quantitative Unterschiede hinsichtlich der sozialen Verbindungen gibt, die verschiedene Individuen unterhalten.
In fast der Hälfte aller Fälle, etwa 48 Prozent, kamen die Ketten überhaupt erst zur Zielperson, weil sie über nicht mehr als drei Personen mit extrem guten Verbindungen führten, die Travers und Milgram aus Mangel eines besseren Wortes als „soziometrische Stars“ bezeichneten. Es handelte sich beispielsweise um den Besitzer eines Kleiderladens in der Gegend der Zielperson, der selbstverständlich mit der gesamten Nachbarschaft bekannt war und über den es folglich leicht war, Bekanntschaften herzustellen.
Eine genaue Lektüre des „Small World“-Essays zeigt also, dass die Idee eines komplett egalitären Rhizoms nicht auf die Sozialstruktur wirklicher Menschen zutrifft. Mit der weiteren Entwicklung der mathematischen Netzwerktheorie wurde deutlich, dass Häufungen und Verdichtungen an wenigen zentralen Knotenpunkten bei natürlichen Netzwerken die Regel sind.
In der mathematischen Netzwerktheorie nennt man diese Struktur „Heavy Tail“, nach den in einem Koordinatensystem mit y = „Anzahl der Akteure“ und x = „Anzahl der Verbindungen“ weit rechts der Gaußschen Normalverteilung angesiedelten wenigen Knotenpunkte der „soziometrischen Stars“. Sie tritt bei allen bekannten Modellversuchen dieser Art auf, wie den Six Degrees of Kevin Bacon, die den Grad an Verbundenheit zwischen den Schauspielern eines Films und Kevin Bacon messen, oder der ähnlich funktionierenden Erdős-Zahl, die den Kollaborations-Abstand zwischen einem beliebigen Mathematiker und dem Mathematiker Paul Erdős misst. In diesen und ähnlichen Versuchen gibt es immer sehr wenige Individuen, deren Verbindungen den Gaußschen Durchschnitt der untersuchten Gruppe so weit übertreffen, dass man sagen kann, diese außergewöhnlichen Einzelfälle und nicht der Durchschnitt, seien für das Verstehen des betreffenden Netzwerks ausschlaggebend.
Das Vorkommen solcher Heavy Tails erklärt sich daraus, dass soziale Beziehungen exponentiell rekursiv anwachsen, da jede neue Verbindung die Wahrscheinlichkeit von weiteren neuen Verbindungen erhöht.
Heavy Tails sind dabei nicht nur auf soziale Strukturen beschränkt, sondern finden sich auch in vielen unbelebten Netzwerken wie Eisenbahn- oder Stromnetzen, die eine Tendenz zeigen, über wenige, extrem dicht verknüpfte Knotenpunkte zu funktionieren. Der Flughafen Frankfurt wird beispielsweise mit jeder zusätzlichen Verbindung, die er im Vergleich zum Flughafen Mainz hat, ein wahrscheinlicherer Zielpunkt für weitere Linienflüge, da seine Bedeutung für den Transport von weiteren Passagieren mit jeder neuen Verbindung zunimmt. Eine Grenze findet dieser Akkumulationsprozess in den Kapazitäten des Flughafens und steigenden Flughafengebühren, die einen Anflug wieder weniger attraktiv machen.
Es ist keine Überraschung, dass das Internet als eine nahezu unkörperliche und daher weitgehend barrierefreie, nicht zentral organisierte, sondern gewachsene Form durch ein Heavy Tail bestimmt ist. Der Erfolg von Facebook, Amazon, Wikipedia und Google hat also nicht unbedingt etwas mit Verteilungskämpfen und der malignen Durchsetzungskraft kapitalistisch motivierter Akteure zu tun, wie oft aus der Ähnlichkeit zwischen prä-digitalen und digitalen Monopolen geschlossen wird, sondern mit einer allgemeinen Tendenz von natürlichen Netzwerken zu einem gewissen Grad der Konzentration.
Der exponentiell rekursive Grund des Wachstums von Google sieht etwa so aus, dass Google – da es von Userclicks lernt – mit jedem neuen User besser und damit attraktiver für weitere User wird. Bei Facebook ist es darüber hinaus die Eigenschaft als Kommunikationsmedium, die es mit jedem Nutzer zu einem attraktiveren Kommunikationsmittel für weitere macht.
Natürlich ist es wahrscheinlich, dass etwa Google seine Stellung im Heavy Tail auf illegale und kartellrechtlich bedenkliche Weise unterstützt, insofern es die eigenen Produkte bevorzugt. Aber letztlich wäre im digitalen Bereich ein total zentrumsloses Rhizom nicht im Interesse der User, da diese nur dann das bestmögliche Produkt bekommen, wenn es eine gewisse Verdichtung gibt. Monopolisierung im digitalen Bereich verbessert außerdem das Produkt intrinsisch, ohne dass die Herabsetzung seiner Qualität mit einem Kostenvorteil für den Anbieter verbunden wäre, insbesondere was die durch eine hohe Frequenz der Nutzerinteraktion optimierten Algorithmen anbelangt.
Popularität ist die Bedingung der Funktionalität eines Kommunikationsmediums. Ein digitales Kommunikationsprodukt, das nur von einer Minderheit benutzt wird, ist nicht cool und exotisch wie eine seltene Jeansmarke oder ein handgemachter Hamburger, sondern nutzlos wie eine Autobahn, die ins Nirgendwo führt, oder ein Flug, der auf einem freien Feld ohne Anschluss an weitere Verkehrsmittel landet.
Besonders wirksam sind diese intrinsischen Tendenzen des digitalen Produkts zur Zusammenballung deswegen, weil digitale Monopole jenseits der Massenproduktion funktionieren. Während Coca Cola und Pepsi Millionen identische, aber separate Dosen in die Supermarktregale stellen, deren Erfolg und Wert von letztlich separaten Kaufentscheidungen abhängen, bieten Facebook und Google in gewisser Hinsicht ein und dasselbe virtuelle Produkt auf Milliarden Rechnern an, dessen Wert von jeder einzelnen Entscheidung für dieses Produkt aufgewertet wird, insofern sich diese in Form seiner Popularität als Kommunikationsmedium und in den durch eine hohe Frequenz der Nutzerinteraktion verbesserten Algorithmen in einem einzigen virtuellen Objekt akkumulieren.
Wegen dieser Eigenschaften geht die Marktkonzentration gerade im digitalen Bereich noch über die Ungleichmäßigkeit gewöhnlicher durch das Heavy Tail charakterisierter Netzwerke hinaus. Dies zeigt sich in der Geschwindigkeit der Konzentration des digitalen Markts, aber auch in der Abgeschlagenheit der Kehrseite des Heavy Tails, des „Long Tails“, das all jene unzählbar vielen Orte im Netz bezeichnet, die fast überhaupt nicht gefragt sind, fast überhaupt nicht aufgesucht werden und im Fall des „Darknet“ auch kategorisch nicht auf Suchmaschinen auftauchen.
Nimmt man dagegen Versuche vom Zuschnitt des Small-World-Problems, die sich in der Welt alltäglicher Soziabilität abspielen, findet man eine doch relativ stabile Verkettung zwischen den Gliedern der Kette, die keine „soziometrischen Stars“ sind, die sich außerhalb der Anomalie des Heavy Tails befinden und innerhalb der Gaußschen Normalverteilung liegen. Immerhin liefen auch bei Travers und Milgram 52 Prozent der Ketten, das heißt mehr als die Hälfte, nicht über die drei „soziometrischen Stars“, die Knotenpunkte des untersuchten Netzwerks.
Schaut man sich das typische Surfverhalten eines beliebigen Internetnutzers an, erkennt man, dass die Internetsessions, die nicht irgendwann über Google, Facebook etc. führen, einen noch sehr viel kleineren Prozentsatz ausmachen. Geschätzte 90 Prozent aller Surfsessions beinhalten mindestens eine Suchanfrage und von diesen laufen nahezu 90 Prozent über Google. Die verbleibenden 19 Prozent aller Surfsessions müssten dann noch um diejenigen gemindert werden, die nur bei Facebook, aber nicht bei Google vorbeischauen, was selbst sehr großzügig geschätzt zu einem Anteil von nur etwa 15 Prozent aller Surfsessions führt, die nicht über die digitalen Monopole laufen, die wegen ihrer essentiellen Funktion für Netzverbindungen auch häufig als „Strongly Connected Core“ bezeichnet werden.
Noch dramatischer verhält es sich mit der Anzahl der auf eine Webseite verweisenden Links, die wesentlich dafür sind, inwiefern man die These vom Internet als einem eher horizontal als vertikal organisierten Medium überhaupt noch aufrechterhalten kann.
Schon 2000 fanden Broder und Kumar in ihrem viel zitierten Aufsatz über die Graphenstruktur des damals noch viel weniger monopolisierten Internets heraus, dass die Wahrscheinlichkeit eines auf eine Webseite verweisenden Links für jede Anzahl von Links i > 1 negativ exponentiell mal die Konstante 2,1 ist, was zur Formel führt: 1/i2,1.
Schon bei zwei auf eine Webseite verweisenden Links liegt diese bei 1/22,1, und damit dezimal ausgedrückt bei nur 0,23. Das bedeutet, dass die durchschnittliche Zahl der von außen auf eine Webseite führenden Links für abseits der konzentrierten „Star“-Bereiche des Internets liegende, also für über 70 Prozent der Seiten, unter Eins liegt. Im Unterschied zum Bereich realer Soziabilität ist hier jede Nischenromantik verfehlt, die nach dem Muster argumentiert, dass auch quantitativ minoritäre Kommunikationsvorgänge die Welt verändern können. Da die Zahl der durchschnittlich auf eine im unpopulären Long-Tail-Bereich angesiedelte Seite verweisenden Links annähernd Null ist, findet hier in den allermeisten Fällen überhaupt keineKommunikation statt, sondern Veröffentlichungen bleiben auf Selbstspiegelung und Kommunikation mit Bots beschränkt. So zerschellt die durch die Rhizom-Metapher geprägte Utopie der schranken- und hierarchielosen Kommunikation im Internet an dessen stets fortschreitender und deutlicher werdender Zweiteilung in das extrem unpopuläre Long Tail und das extrem populäre Heavy Tail.
IV. PALIMPSEST STATT ARCHIV: WESHALB DIE MONOPOLE BLEIBEN (SOLLEN)
Wer denkt, dass sich Monopole in diesem beschleunigten System ebenso rasant gegenseitig ablösen werden wie sie entstehen, übersieht einen wesentlichen Unterschied zwischen physischen Netzwerken und digitalen. Während die letzten fünfhundert Jahre medientechnisch durch eine immer weiter gehende Beschleunigung und einen entsprechend immer ephemereren Charakter gekennzeichnet waren – wie etwa Buchdruck, Zeitung, Fernsehen und Radio –, bringt das Internet die überwunden geglaubte Durabilität und Immobilität von Pergament, Stein und Marmor zurück.
Solche, von Harold Innis als „Zeitmedien“ gekennzeichneten Medien tendierten historisch nicht zur Demokratisierung und Liberalisierung, wie man dies dem Internet in Anlehnung an den Buchdruck immer wieder nachsagt, sondern – da sie relativ teuer und dauerhaft sind und nicht leicht aus ihrem spezifischen Herrschaftskontext gelöst werden können – zu einer Verfestigung von Hierarchien.
Es kam historisch überhaupt nur einmal zum Wechsel weg von einem Raummedium hin zu einem Zeitmedium, als zu Ende der Antike das ephemere, stets zirkulierende Papyrus der Bürokratie des römischen Imperiums von dem an sicheren Orten verwahrten Pergament der frühchristlichen Klöster abgelöst wurde. Das Internet ist kein aus gedruckten, leicht in einen anderen, neutralen Kontext transportierbaren Materialien bestehendes, öffentlich zugängliches Archiv, wie es seit der Französischen Revolution eines der wichtigsten Merkmale demokratisch überprüfbarer Verwaltungsarbeit ist. Die sich häufig an abgelegenen Gegenden befindlichen Speicher der digitalen Elite gleichen nur Priestern zugänglichen Chroniken, die hinter Klostermauern fernab der Augen der Öffentlichkeit verwahrt werden und gerade in ihrer Unzugänglichkeit ihre Macht bedingen.
An der Oberfläche sind die digitalen Zeichen zu zahlreich und flüchtig, um erinnert zu werden und eine Geschichtsschreibung zu ermöglichen. Darin ähneln sie der weitgehend in Vergessenheit geratenen oralen Volkskultur des Mittelalters. Im Unterschied zu Zeitungen oder sogar Flugblättern werden die täglich wechselnden Aggregatszustände des öffentlich zugänglichen Internets nicht archiviert. Ihre Geschichte überlebt nur in der Tiefe, fernab der Zugänglichkeit durch Öffentlichkeit und Wissenschaft innerhalb des institutionellen Kontexts der digitalen Monopole.
Schon aufgrund der nur für die firmeneigenen Analysten Sinn machenden Form dieser rein privaten Daten wird es nie zu ihrer öffentlichen, im eigentlichen Sinne archivarischen Aufarbeitung kommen, die, wenn man etwa an die gesammelten Google-Anfragen und Gmails denkt, ebenso zu banal wie juristisch zu problematisch wäre. Bevor eine verführerische und theoretisch mögliche Totalgeschichte Wirklichkeit wird, werden die betreffenden, sich ausschließlich in privater Hand befindlichen Userdaten aus Energiespargründen gelöscht und durch neue überschrieben werden, wie das auch für das öffentlich zugängliche Internet die Regel ist. Das Palimpsest des mittelalterlichen Pergaments, nicht das Archiv der Druckmedien ist Paradigma der digitalen Speicherung.
Im Konkreten bedeutet die Verschlossenheit dieser Datensammlungen, dass diejenigen Hierarchien in der digitalen Welt, die sich während ihrer ersten 25 Jahre gebildet haben, noch für sehr lange Zeit bestehen werden. Entgegen einem weitverbreiteten Irrglauben ist es schon allein aus demographischen Gründen zumindest in der westlichen Welt unwahrscheinlich, dass sich User wieder so jugendlich naiv und euphorisch in die Netzwelt stürzen wie in den letzten 25 Jahren. Bei Wikipedia gehen die Interaktions- und Nutzerzahlen bereits zurück. Facebook wird niemals wieder über 150 Prozent pro Jahr wachsen wie in seiner Anfangsphase. Ein weiterer Faktor, der digitale Monopole begünstigt, könnte ironischerweise gerade die zunehmende Bewusstheit datenrechtlicher Vorbehalte sein, die das Datensammeln schon in nächster Zukunft erschweren könnte. Gerade die Kritik an digitalen Monopolen könnte sich damit zugunsten derjenigen Monopole auswirken, die bislang so gut wie ungestört sammeln konnten.
Aus diesen Gründen hat die digitale Akkumulation heute ein kritisches Ausmaß erreicht, das bewirken wird, dass die bisher „disruptive“ Geschichte digitaler Technologie ein Ende findet. Die Datenmenge, über die Google, Facebook, Amazon und Yahoo heute als Vorsprung aus der goldenen Zeit der Netzhysterie verfügen, werden aller Wahrscheinlichkeit nach stets größer sein als die eines beliebigen Newcomers. Aufgrund der das Heavy Tail verstärkenden Natur digitaler Netzwerke werden wir uns mit den digitalen Monopolen arrangieren müssen. Das ist frei von jeder Wertung die Sachlage, der sich die Vorstellung vom Internet als einem Rhizom angleichen muss. Sie ist auch politisch, wie etwa Yochai Benkler unterstrichen hat, nicht ausschließlich negativ zu bewerten. Ein Internet mit starken Zentren, die sich mehr und mehr ihrer editorischen Verantwortung stellen müssen, ist möglicherweise einem Internet als Rhizom vorzuziehen, das den zumindest von Habermas gefürchteten Effekt der „Balkanisierung“ erzeugt, nach dessen Eintreten kein gesamtgesellschaftlicher Diskurs mehr möglich ist, da aus Mangel an gemeinsamen Bezugszentren nicht über dieselben Dinge geredet werden kann.
Wenn „das“ imaginäre Internet, wie Jodi Dean schreibt, zwar keine klassisch bürgerliche Öffentlichkeit ist, aber als „Institution Zero“ heute die Bedingung der Möglichkeit eines globalen politischen Diskurses darstellt, dann ist das nur der Tatsache zu verdanken, dass es eben kein Rhizom, sondern konzentriert ist. Die digitalen Monopole haben infrastrukturell und epistemisch erst den Grund bereitet, auf dem alle weiteren politischen Fragen debattiert werden können. Eher als Widersacher sind sie Giganten, deren Schultern die Kritik noch erklimmen muss.
V. NORMCORE: KONZENTRIERTES LEBEN UNTER DEM BLICK DES GROSSEN ANDEREN
Der Begriff der Neuroplastizität bezeichnet die Veränderung neuronaler Verbindungen im Gehirn in Relation zu angenommenen Gewohnheiten. So wurden etwa bei Probanden, die eine Sportart begonnen hatten, bereits nach ein paar Wochen Veränderungen in der Struktur des Gehirns festgestellt. Was die subjektiv erlebbare Steigerung der Konzentrationsfähigkeit durch Meditationstechnik anbelangt, lässt sich auch diese objektiv durch eine Verdichtung der grauen Substanz im Stammhirn belegen. Daher ist der Begriff der Konzentration auch in physischer Hinsicht, als Beschreibung einer zentripetalen Bewegung treffend.
Aus der Perspektive der Neuroplastizität scheint, was das Internet betrifft, die Trennung zwischen Mensch und Maschine zunehmend willkürlich. Es besteht ein komplexer Rückkopplungseffekt zwischen den neuronalen Mustern im Hirn und den Verdichtungen im digitalen Netzwerk. Dieser wird hinsichtlich seiner physischen Dimension nur oberflächlich mit dem Begriff der „Noosphäre“ beschrieben, bezeichnet das altgriechische νοῦς doch eher den immateriell vorgestellten Verstand als einen physischen Zusammenhang.
Selbst das bloß passive Agieren im Internet, das Liken, Sharen und Klicken, schafft neue Verdichtungen im digitalen Netzwerk und damit neue kognitive Realitäten. In diesem Sinn lässt sich davon sprechen, dass Marktkonzentration, die mich am Ende aufgrund meiner vorangegangenen Präferenzen in eine Filterblase aus Buzzfeed, Facebook und Google einsperrt, hinsichtlich ihres Resultats, der Betonung einiger Inhalte bei gleichzeitiger Ausblendung anderer, sogar gleichbedeutend ist mit individueller Konzentration – nur, dass es im einen Fall um die zentripetale Strukturierung von Nervenzellen, im anderen um diejenige von Schaltkreisen geht.
Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass hier ein Antagonismus vorliegt. Google und sogar die per Google angebotenen Nachrichten aus den Boulevardzeitungen nisten sich genau dann in Gewohnheiten ein, wenn man am wenigsten konzentriert ist, wenn man also einer gewissen geistigen Trägheit nachgibt und etwa Neuigkeiten über den Arsch von Kim Kardashian oder den nächsten Listicle über die sieben gefährlichsten Pastasorten der Welt anklickt anstatt einer tiefgründigen Reportage über seine Rechte am Arbeitsplatz. Irgendwann wird Google dann nur noch Triviales ausspucken, was die unkonzentrierte Trägheit noch verstärken wird. Overfitting nennen das die Statistiker, wenn es unangenehm auffällt.
Es gibt jedoch einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem unbedachten Umgang mit Filtern und einem herkömmlichen TV-Programm. Ganz egal, auf welche Art die Daten über das Verhalten digitaler Konsumenten gesammelt werden: im Unterschied zu den klassischen Medien beeinflussen die wie auch immer getroffenen, realen Entscheidungen der Konsumenten die Filter und nicht bloß die Einschätzung ihrer Person durch Redakteure und Marktforscher.
Dasselbe ist auf einer kollektiven Ebene wahr für die Dominanz von Google, Facebook und Konsorten, die in gewisser Weise ebenso die Trägheit der Masse repräsentieren wie eine von der Masse getroffene, und jeden Tag überraschenderweise auf die gleiche Weise getroffene Entscheidung, die in ihrer Legitimität den demokratischen Wahlergebnissen in nichts nachsteht und im Unterschied zur Entscheidung etwa für Strom- oder Wasseranbieter mit Monopolstellung nichts mit Zwang zu tun hat.
In einem weiteren Schritt könnte man daher behaupten, dass es auch für den Durchschnittsuser nicht schwer ist, jede vorgefundene Konzentration, was etwa den Inhalt der einem zugespielten Werbung im Internet betrifft, auf bewusste oder unbewusste Häufungen im eigenen Verhalten zurückzuführen. Die durchschnittliche Netznutzerin weiß schon lange, dass sie, wenn sie etwa Babybilder postet, mit Werbung für Babynahrung überhäuft wird, und dass sie, wenn sie das Wort „Bodybuilder“ selbst in privaten Facebook-Messages oder Google-Mails häufig benutzt, mit Eiweißpräparaten bombardiert wird. Ebenso weiß fast jeder, dass Facebook grundsätzlich Posts bevorzugt, die das Wort „Congratulations“ beinhalten, und solche, die von permanent aktiven Accounts kommen.
Entscheidend ist nun, dass in den nachvollziehbaren Resultaten von Filteralgorithmen nicht nur die Funktion von Algorithmen vor Augen geführt wird, sondern auch die Struktur des eigenen Verhaltens, die einem zumeist – was beispielsweise eine Tendenz anbelangen könnte, Artikel über Kim Kardashians Arsch anzuklicken – vor der Einführung der Personalisierung aller Inhalte durch die Monopole noch gar nicht klar war. Es sind ja eben die unbewussten, automatisierten und instinkthaften Bereiche, die solche Präferenzen ausmachen. Die Struktur des im Internet Dargebotenen ist eben nicht „eine Verkehrung des Lebens und eigenständige Bewegung des Unlebendigen“, wie dies Debord teilweise zu Recht in Bezug auf die klassischen Massenmedien konstatierte, sondern eine durchaus lebendige, sogar erschreckend lebendige Rückkopplung des Subjektverhaltens.
Sicher ist auch diese Rückkopplung nicht akkurat und von der für alle Dispositive der Selbsterkenntnis im Kapitalismus typischen Verzerrung zum Warenmäßigen hin geprägt. Das zeigt etwa der erwähnte Vorzug von Facebook-Posts mit der Zeichenfolge „Congratulations“ und derjenigen besonders aktiver User-Accounts.
Dennoch ist zunächst das Naheliegende zu bemerken: Die immer populärere gedankliche Voraus-Kategorisierung künftiger Situationen durch die zu erwartenden Bilder, Kommentare, Likes, Updates und Hashtags auf Facebook, Instagram und Twitter ist nur das deutlichste Symptom der grundlegenden Veränderung der Selbstwahrnehmung im digitalen Zeitalter.
Kurz gesagt wird in der totalen Rückkopplung aus dem digitalen Es ein digitales Ich, die Seinslichtung tut sich auf. Man ist an dem Punkt angelangt, an dem das Surfen eine Selbstschau wird, an dem das Gnothi seauton, das nach Carolus Linnaeus Markenkern des Homo Sapiens ist, uns trivial und vielleicht auch aufdringlich wie eine Fliege am Frühstückstisch in der Form eines Selfie-Wahns begleitet und dies auf eine Weise, die endlich vollkommen säkular ist, jegliche Erweckungsmystik ad absurdum führt. Das kommerzielle TV hat uns zynischer und ironischer gemacht. Das kommerzielle Internet sorgt dafür, dass wir uns selbst mit den alles registrierenden Augen unseres selbstgeschaffenen Leviathan-Panoptikums zu sehen lernen.
Genauso wie das TV die Literatur, die Künste und auch die Zuschauer sicher nicht per se schlechter gemacht hat, ist auch das digitale Panoptikum nur scheinbar reine Dystopie. Schon der Netztheorie-Pionier Howard Rheingold hat in einem beispiellosen Queer-Reading das Benthamsche Panoptikum als erstrebenswerten Zustand verstanden, solange es nicht staatlich kontrolliert wird. Die Möglichkeit permanenter Überwachung werde uns letztlich disziplinieren und zu ethischeren, achtsameren Menschen machen, so Rheingold. Als einziger der frühen Netztheoretiker teilte er den für dieses Umfeld typischen Laissez-faire-Libertarismus nicht uneingeschränkt, sondern erwies sich als illusionsloser Realist der Hobbesschen Tradition. Gerade deswegen konnte er den Erfolg auf gegenseitiger Beobachtung und Bestrafung basierender Plattformen wie Airbnb und eBay schon vor deren Existenz erklären.
Ebenso wie das TV die Romantik vollendete, insofern es die universelle Ironie als Grundlage der Kunst popularisierte, popularisiert das Internet die absolute Konzentration als permanentes Bewusstsein seiner selbst in Form des Selfie-Grundrauschens. Das Être suprême, unter dessen alles durchdringendem Regard die Menschheit während der Aufklärung genesen sollte, hat sich in den Konsumdispositiven der digitalen Monopole auf jene erschreckend banale Weise materialisiert, die für gewöhnlich das Kennzeichen wirklichen historischen Fortschritts im Unterschied zu seiner heroisierten utopischen Vorwegnahme ist. Es ist das Verdienst der digitalen Monopole, eine Apparatur entwickelt zu haben und in jedes Wohn- und sogar Schlafzimmer, ja in jede Hosentasche gebracht zu haben, die Faulheit und Selbstschau verbindet und sogar das erstere in der Form des trägen und zerstreuten Herumklickens zur Voraussetzung für Selbsterkenntnis werden ließ.
Diese permanente Gewissheit um die Möglichkeit der Rückkopplung wirkt nun geradezu als Gegengift zur permanenten Zerstreuung des Dauerklickens, aus der sie hervorgegangen ist. Sie verleiht Digital Natives und nachfolgenden Generationen jene wie aus der Geschichte gefallene, oft geradezu puritanisch wirkende Reduktion und Konzentration, die früheren Generationen vollkommen fremd bleibt und die unter dem Begriff des „Normcore“ ebenso gut beschrieben ist wie damit eine neuroplastische Mutation zu einer bloßen Mode verharmlost ist.
Wer fast all seine Beziehungen über das Internet beginnt und mit der Möglichkeit aufwächst, mit jedem wie auch immer gearteten ungeplanten Partyausrutscher in den globalen Chroniken der Netzgiganten zu landen, zeichnet sich möglicherweise äußerlich und auch durch den Alltag der „Funemployed Playbour“ durch permanente Zerstreuung aus, im Innern kann er nicht anders als eine permanente Achtsamkeit an den Tag zu legen, die durchaus mit derjenigen eines tiefreligiösen Quäkers vergleichbar ist, der sich stets von den strengen Augen seines Gottes beobachtet glaubt.
Die von Ayn Rand inspirierte digitale Avantgarde mag vor allem atheistisch gewesen sein, das Hirn des Menschen im Zeitalter der digitalen Monopole ist strukturell gesehen frömmlerisch. Der Social-Network-Islamismus und der durch Hologramme befeuerte Hindu-Nationalismus sind nur die deutlichsten Symptome dieses strukturell ernsten Faktums, das hinter all dem vermeintlichen Hedonismus des Meme-Zeitalters lauert. Das Zeitalter des Internets ist das Zeitalter des großen Anderen, den man sich in einer Vorstellung von Gott, des Schwarms, der Konkurrentin in punkto Instagram-Popularität imaginieren mag, als vorausgeworfenen Schatten der Singularität oder als unpersönlich erhabenen Algorithmus, wie er ja auch schon in Lacans Anamorphose-Seminar in Form der kaltblütig konstruierten Perspektive der eigentlich mathematische und vor allem ganz und gar unmenschliche Ausgangspunkt des Regard ist: der große Andere ist niemals ein wirklicher anderer Mensch. Bis auf diese Einschränkung kann er allerdings jede beliebige Form annehmen.
Ebenso wie in der klassischen Freudschen Psychoanalyse, während der sich Patient und Analytiker nie in die Augen sehen, gedeiht das Phantasma des großen Anderen gerade im Internet besonders gut, weil nie klar ist, ob man wirklich beobachtet wird oder ob man sich dies nur einbildet – die Austauschbarkeit von beidem ist die Pointe des Panoptikums.
VI. RES EXTRA COMMERCIUM: KONZENTRATION IM JURIDISCHEN AUSNAHMEZUSTAND
Bevor man die im Raum stehende Frage nach der Autonomie des Einzelnen als einem Knotenpunkt der Netzwerkgesellschaft sinnvoll stellen kann, gilt es, die leichter belegbare Konzentration wirtschaftlicher und staatlicher Knotenpunkte und ihre Auswirkung auf die Autonomie dieser Bereiche zu untersuchen. Tatsächlich scheint die Konzentration des digitalen Markts nur die Spitze des Eisbergs darzustellen, insofern sie machtrelevante Konzentrationen auf ganz anderen Feldern begünstigt:
·Mit den Enthüllungen Snowdens hat sich gezeigt, dass digitale Monopole, da sie relativ leicht durch einzelne Regierungen, vor allem die US-Regierung, kontrolliert werden können, die Macht der Geheimdienste in einem historisch unbekannten Ausmaß verstärkt haben.
·Auch die enorme Konzentration der Finanzmärkte in den letzten zwanzig Jahren ist teilweise ein Resultat der digitalen Vernetzung, insofern das digitale Vernetzung voraussetzende Highspeed-Trading nur einen Vorteil für sehr große Investoren bedeutet, da es nur diesen zugänglich ist.
·Ähnlich ist digitale Kommunikation Voraussetzung für das massive Offshoring der wirtschaftlichen Produktion, da sie die Echtzeit-Koordination zwischen Stammland und Produktionsstätte ermöglicht. Offshoring ist vor allem für größere Firmen rentabel und erlaubt es diesen wiederum, billiger als kleinere Marktteilnehmer zu produzieren.
·Die beispiellose wirtschaftliche Konzentration unserer Tage wiederum hat seit den um 2008 begonnenen Krisen zur Konzentration an eher technokratisch ausgerichteten Machtzentren wie der Europäischen Kommission und den Zentralbanken geführt, die mit ihren Rettungs- und Verteidigungsmaßnahmen zunehmend in einem Bereich der reinen Souveränität außerhalb des Rechts agieren.
·Wie ein schwarzer Morgenstern dieser neuen Epoche der Zusammenballung gewaltiger souveräner Knotenpunkte leuchtet auch der IS, der sich in seiner Ablösung von den Strukturen des ultra-postmodernen, rhizomatischen Netzwerks Al-Qaida wieder schlicht als souveräner Staat mit eigenem Sozial- und Finanzsystem behaupten möchte. Er stellt lediglich den zeittypischen Versuch dar, die durch digitale Netze ermöglichte Zusammenballung fanatischer Kreise in einem Heavy Tail des Terrors zu zementieren.
·Der Einsatz von Drohnen durch Staaten, der zur Zeit durch die USA in der AfPak-Region gerade nicht in Form eines Kriegs gegen einen souveränen Staat, sondern in der Form eines sich unterhalb der Kriegsschwelle abspielenden Policing (von πόλις, „Stadt“) in de jure von anderen Souveränen kontrollierten Lufträumen erprobt wird, ist nur die Vorbereitung für die totale Polizeikontrolle der stetig wachsenden Armutsviertel urbaner Ballungsräume. Entsprechend dem minimalen personellen Aufwand, der zur Bedienung dieser Kontrollmechanik erforderlich ist, ist die natürliche Hegung der Macht der Oberschicht heute praktisch ausgeschaltet und die Verteilungsungleichheit lässt sich unendlich erhöhen.
Diese durch die Digitalisierung bewirkten oder begünstigten Verschiebungen auf den verschiedensten Ebenen hin zu Konzentration und verdichteter Entscheidungssouveränität sind eine klare Widerlegung jeder Form des technologischen Determinismus, der ein Bild der Geschichte zeichnet, in dem politische Akteure durch die Weiterentwicklung der technischen Produktionsmittel zur Dezentralisierung, Kommunikation, Auflösung, Aufweichung von Herrschaftsstrukturen gezwungen werden. Wie bei Marx und Engels ist die „Verdampfung“ alles Fixen nur eine Narrative, hinter deren Oberfläche die Machtgegensätze nur umso deutlicher und verhärteter wurden. Widerlegt sind alle Gleichungen des technologischen Determinismus, die dem Muster „Mehr Internet =Mehr Gleichheit“, „Mehr Blogger = Mehr Demokratie“, „Mehr Digitalisierung = Weniger Macht an den Zentren“ oder „Mehr Internet = Mehr freies Unternehmertum“ folgen.
Ebenso naiv ist der „Akzelerationismus“ als eine von subversiver Affirmativität geprägte Form des technologischen Determinismus. Er fußt auf der mit apokalyptischer Koketterie versetzten, von Marx übernommenen Annahme, es bestehe eine strukturelle Tendenz des Kapitalismus hin zu Geschwindigkeit und Fortschritt, die nur in sozial verantwortliche Bahnen gelenkt werden müsse. Dies mag vor zwanzig Jahren richtig gewesen sein. Tatsache ist, dass der heutige Monopolkapitalismus grundsätzlich gegen Innovation und Geschwindigkeit arbeitet.
Das zeigt sich in dem massiven Engagement Disneys zugunsten der endlosen Verlängerung des Copyrights, die diesen Großkonzern, einen der wichtigsten Produzenten globaler Kultur, praktisch davor bewahren soll, jemals wieder kreative Arbeit leisten zu müssen und immerwährende ökonomische Renten ermöglichen soll. Die sich dem Fortschritt entgegenstemmende Tendenz des Kapitalismus zeigt sich ebenso in der vergleichsweise niedrigen Übertragungsgeschwindigkeit des Internets in dem diesbezüglich praktisch monopolisierten Markt der USA sowie in den von Spekulanten gewünschten und bewusst herbeigeführten Phasen der durchaus negatives Realwachstum erzeugenden Volatilität an den Börsen, aber auch in dem allgemeinen Bestreben des produzierenden Gewerbes, jedem Produkt eine geplante Obsoleszenz einzuschreiben, was deren technische Qualität auf einem im Vergleich zum Möglichen lächerlich niedrigen Niveau verharren lässt – eine Entwicklung, die 1924 mit der gewollten Herabsetzung der Lebensdauer von Glühbirnen durch das Phoebuskartell begann und bis hin zu Monsantos Patentierung der widernatürlichen Sterilität genetisch manipulierter Getreidesorten reicht. Der Monopolkapitalismus will nicht die Beschleunigung, sondern die Einfrierung der wirtschaftlichen, technologischen, politischen und biologischen Entwicklung.
Was die digitalen Monopole angeht, werden sich auch diese, entgegen ihrer heutigen Rhetorik, so strukturkonservativ verhalten, wie dies jeder mächtig gewordene Akteur der Geschichte getan hat. Die Entwicklung des Internets kann also mit seiner Monopolisierung schon fast als beendet betrachtet werden. Entgegen der allgemeinen Fieberträume werden wir keine „disruptiven“ Quantensprünge mehr auf diesem Gebiet erleben, sondern nur noch solche Entwicklungen, die von den Monopolen behände an ihre bestehende Produktpalette angepasst worden sind und dazu dienen, ihre Macht zu festigen. Google mag heute die berüchtigten „Moonshot“-Projekte ankündigen, um seinen Aktienkurs in die Höhe zu pumpen, letztlich wird es aber alles dafür tun, dass die Welt genau so bleibt, wie sie zum Zeitpunkt war, als Google mächtig wurde. Bis zur nächsten industriellen Revolution wird sich an diesen Verhärtungen nichts ändern.
Es bleibt die Frage: Was bedeutet die Konzentration in der digitalen und nicht-digitalen Wirtschaft und auf dem Gebiet des Staats nun für den Einzelnen? Zumindest auf dem vagen und unsicheren Terrain des Analogieschlusses sieht es vollkommen kontraintuitiv ganz danach aus, als ob der Mensch, da er zumindest als Kollektivauch ein Knotenpunkt ist, vielleicht sogar der grundlegendste der digitalen Netze, in seiner Souveränität bestärkt werden könnte, wie dies für die zuvor genannten Knotenpunkte zweifellos der Fall ist.
Was in die ebenso wohlfeile wie richtige Warnung vor dem schwarzen Virus des digitalen Totalitarismus münden kann, der in der heutigen Marktkonzentration heranreift, könnte also auch zu ganz anderen Resultaten führen. Allgemein gesprochen, bewirkt die Konzentration in Heavy-Tail-Verteilungen, die eher durch lokale Zusammenballung als gleichmäßige Streuung gekennzeichnet sind, eine Neuauflage der Frage nach der Entscheidungsmacht. Diesbezüglich ist klar, dass selbst die Extremfigur des digitalen Panoptikums zwar totale Unterdrückung beinhalten könnte, sich aber vor allem dahingehend von der Unterdrückungsmechanik der Vergangenheit unterscheidet, dass die digitalen Monopole als Kontrolldispositive auf die Entscheidungen der User angewiesen sind, die ihrerseits über die Vernetzung mit diesen Dispositiven eine zwar wie auch immer verzerrte, aber doch irgendwie geartete Selbsterkenntnis und daraus folgende Konzentration entwickeln.
Angesichts dieser Ausgangsposition wäre es zwar unwahrscheinlich, aber immerhin denkbar, dass sich auch am andern Ende des Spektrums, dem des Einzelnen, eine Heavy-Tail-Verdichtung bildet und dass ihre Gegenüberstellung zu den digitalen Monopolen jenen Bewusstseinssprung mit sich bringt, den Marx, aber auch der späte Heidegger, als eine Aufhebung der Verdinglichung in den Grenzbereichen der Industriegesellschaft konzipierten. Wenn die Konzentration des Users heute tatsächlich die vorherrschende Kapitalform ist, die über ihre Akkumulation bei den digitalen Monopolen die Machtkonzentration auf allen anderen Bereichen erst ermöglicht, dann bedeutet dies auch eine Verschiebung der Machtverhältnisse weg von den Monopolen und Institutionen zugunsten des Einzelnen, die im Prinzip schon vollzogen wurde, deren Realisierung durch den Einzelnen nur noch aussteht.
Kommt es zu dieser Realisierung, dann bedeutet dies die Aufhebung der willkürlichen Grenze zwischen digitalen und neuronalen Netzen und die damit verbundene Aufhebung der Grenzen zwischen dem Einzelnen und dem großen, tatsächlich materiell vorhandenen Geist, der, unter Ermangelung eines besseren Worts, als „Noosphäre“ beschrieben werden könnte. In diesem großen corpus mysticum jenseits des naturalistischen Essentialismus, konstituiert sich dann die Posthumanität als ein autonomes Subjekt, das sowohl digitale als auch neuronale Netzwerke umfasst, also als ein einziges Supermonopol, das alle anderen Monopole bedingt. In dieser Realisierung liegt das Potential, die Bildung neuer neuroplastischer Muster und ihrer Konsequenzen als posthumane Gattung so bewusst zu unternehmen, wie der sich auf sich selbst konzentrierende Einzelne.
Angesichts dieser fantastisch wirkenden Vision mag es trivial klingen, aber erste Anzeichen einer solchen autonomen Massenkonzentration könnten bereits in den heute immer wichtiger werdenden Konsumentenboykotten, virtuellen Sit-ins und den Aktionen von Anonymous bestehen, die, vor dem Hintergrund der Heideggerschen und Marxschen Geschichtsteleologie, wie prophezeite Vorboten der aktiven Selbsterkenntnis einer autopoietischen Posthumanität leuchten.
In einem weiteren Schritt könnten sich die Einzelnen als der wahre politische Souverän der Geschichte erkennen, der in der Macht der digitalen Monopole lediglich repräsentiert ist und der diese in einem viel deutlicheren Sinne kontrolliert als die Staaten der Vergangenheit, die ihre Macht nicht so sehr vom Einzelnen, sondern vor allem von militärischer Infrastruktur herleiteten.
So lange nun klar ist, dass die Masse die digitalen Monopole kontrolliert, wäre deren Existenz eine zweitrangige Frage. Sollten Zweifel bestehen an der Agenda und der Kontrollierbarkeit der digitalen Monopole, bliebe den Einzelnen nur noch der Schritt zur konkreten Souveränität, die sich im Ausnahmezustand außerhalb des positiven Rechts beweist. Auch hier kann man davon sprechen, dass dieser Ausnahmezustand bereits Alltagsrealität ist, insofern heute fast jeder gestohlenes Material auf seinem Rechner hat, was die Verurteilung von Einzelnen schon längst zu einer Frage der bloßen staatlichen Willkür werden ließ und die Rule of Law zu einer rein fiktiven Größe geschrumpft hat.
Im Hinblick auf die heutige Situation des Eigentumsbegriffes scheint sich die Marxsche Prognose bewahrheitet zu haben, dass dieser ab einer bestimmten Entwicklungsstufe der technischen Infrastruktur nicht mehr angemessen ist, wie dies bereits der Fall war, als durch die Entwicklung der zivilen Luftfahrt die bis dahin geltende Rechtsvorstellung abgeändert werden musste, ein Privatgrundstück beinhalte auch den darüber liegenden Luftraum, was Anfang des letzten Jahrhunderts zu hitzigen Debatten führte.
Die Digitalisierung hat heute den Eigentumsbegriff vor allem im Hinblick auf Software-, Buch- und Musikpiraterie bereits an so vielen Fronten ausgehöhlt, dass sich auch konservative Kreise die Frage stellen, inwiefern die traditionelle Auffassung vom Eigentum noch geboten ist, wenn sie den Gattungsinteressen nach Bildung und Fortschritt derart im Weg steht, dass sich sagen lässt, jeder einzelne Gang in eine physische Bibliothek sei ein Opfer der Wissenschaft und des Fortschritts auf dem Altar eines fetischisierten Eigentumsbegriffs – hinsichtlich seiner Widersinnigkeit vergleichbar mit der Änderung einer Flugschneise wegen des Einspruchs einzelner Eigentümer der dabei überflogenen Privatgrundstücke.
Gleichermaßen ist es nicht schwer, in der den digitalen Monopolen heute vertrauensvoll bis leichtfertig überlassenen outgesourcten Neuroplastizität ein Gut zu erkennen, das, ähnlich wie menschliche Organe, denen es ja tatsächlich gleicht oder posthumanistisch betrachtet sogar angehört, jenseits bestehender Eigentumsverhältnisse gedacht werden muss: ein Gut, das schlechthin nicht handelbar, schlechthin eine Res Extra Commercium sein sollte, da es die ureigene Essenz der Gattung beinhaltet.
Die globale Neuroplastizität, die sich heute in den digitalen Monopolen manifestiert, wäre demnach an die Gattung zu übergeben, was gemäß einem Modell funktionieren könnte, das die gesamte Noosphäre in einen unveräußerlichen globalen Digital-Fund umwandelt, dessen stimmberechtigter Anteilseigner jeder User wäre. Da es sich um eine nicht-exklusive Ressource handelt und im Bereich der Schwarmintelligenz Quantität der Nutzung sogar Qualität erzeugt, ist keine Tragödie der Allmende zu befürchten, sondern ihr Gegenteil.
Ob dies nun angesichts der von den digitalen Monopolen durchaus geleisteten Arbeit und getätigten Investitionen gerecht ist oder nicht, ist für denjenigen, der die ontologische Tiefe der neuroplastischen Frage in ihrem Grund verstanden hat, nicht relevant. Da die Neuroplastizität der Menschheit der formlos formende Urgrund aller Konzepte von Gerechtigkeit ist, wird ihre Legitimität unmöglich durch diese Konzepte selbst begrenzt. Vielmehr ist es gerade ein Kennzeichen wirklicher Konzentration, jenseits der Einengung durch derlei normative Ideen denken zu können. Durch die Zuspitzung auf Nullen und Einsen im digitalen Raum herrscht in den ihn betreffenden Fragen nunmehr der reine Dezisionismus, der, anders als der parlamentarische Diskurs, keinen abwägenden Kompromiss erlaubt.
KUNST UND LITERATUR IM INTERNET
Im Zuge der letzten Jahre entwickelte sich das Internet zum Hauptschauplatz für das Schreiben, wozu auch die Literatur gehört, und die Verbreitung des auf diese Weise Verschriftlichten. Doch auch für künstlerische Praktiken und ganz allgemein für die Archive der Kultur wurde es zum wesentlichen Faktor.
Eine solche Verschiebung wird von vielen Kulturschaffenden zweifellos als befreiend begriffen, ist das Internet doch kein selektives Medium – zumindest weit weniger selektiv als ein Museum oder ein traditionelles Verlagshaus. Schließlich trieb Künstler und Schriftsteller stets die Frage um: Was sind denn dort die Auswahlkriterien? Warum schaffen es einige Kunstwerke ins Museum, andere aber nicht? Warum werden bestimmt Texte veröffentlicht, andere wiederum nicht? In diesem Zusammenhang kennen wir nun – wenn man es einmal so ausdrücken möchte – katholische Theorien, nach denen Kunstwerke verdienen, von einem Museum oder einem Verlag auserwählt zu werden: Diesen zur Folge sollen sie gut, schön, inspirierend, originell, kreativ, kraftvoll, ausdrucksstark, geschichtlich bedeutsam sein – und man könnte hier nun weitere hundert ähnliche Kriterien auflisten. Derlei Theorien sind jedoch historisch überholt, da keine dazu in der Lage war, überzeugend darzulegen, warum ein Kunstwerk nun schöner, origineller et cetera als ein anderes sein sollte. Oder warum ein bestimmter Text besser als ein anderer geschrieben war. Deshalb setzten sich die eher protestantisch, ja sogar calvinistisch ausgerichteten Theorien durch. Ihnen zufolge werden Kunstwerke ausgewählt, weil sie ausgewählt werden. Wir haben es mit einem Konzept göttlicher Macht zu tun, die völlig souverän handelt und keiner Legitimierung bedarf. Ein solches Konzept wurde auf die Museen und andere tradierte Kultureinrichtungen übertragen. Diese protestantische Theorie der Erwählung, die die uneingeschränkte Macht dessen betont, der wählt, ist Vorbedingung für eine Institutionenkritik. Museen und andere Kultureinrichtungen wurden für die Art und Weise kritisiert, wie sie ihre angebliche Macht gebrauchten und missbrauchten.
Eine solche Institutionenkritik macht indes im Fall des Internets nicht viel Sinn. Es gibt zwar Beispiele für politische Zensur im Netz, wie sie von einigen Staaten praktiziert wird, doch das ist eine andere Geschichte. Stattdessen erhebt sich nun aber eine neue Frage: Was geschieht mit der Kunst und dem literarischen Schreiben, wenn sie aus den traditionellen Kulturinstitutionen ins Internet abwandern?
Für gewöhnlich rechnet man Literatur und Kunst zum Bereich der Fiktion. Ich werde versuchen darzustellen, inwieweit die Nutzung des Internets als primäres Medium der Herstellung und Verbreitung von Kunst und Literatur zu ihrer Entfiktionalisierung führt. Traditionellerweise präsentieren Institutionen wie Museum, Theater oder Buch die Fiktion als Fiktion, indem diese Institutionen sich selbst unkenntlich machen. Der Besucher sollte im Theater in einen Zustand der Selbstvergessenheit versetzt werden – und alles über die Bühnenmaschine und den Ort, an dem er sich gerade befand, vergessen. Das ermöglichte es dem Zuschauer, die Alltagsrealität spirituell zu verlassen und sich ganz in die fiktionale Welt zu versenken, die ihm auf der Bühne vor Augen geführt wurde. Man musste vergessen, dass es sich bei einem Buch um einen materiellen Gegenstand wie jeden anderen handelte, wenn man dem literarischen Motiv, das es beinhaltete, folgen und es wahrhaft genießen wollte. Und man musste vergessen, dass man sich in einem Kunstmuseum befand, wenn man sich geistig in die Kunst vertiefen wollte. Mit anderen Worten: Vorbedingung für das Funktionieren von Fiktion als Fiktion ist die Unkenntlichmachung des materiellen, technischen und institutionellen Rahmenwerks, das ein solches Funktionieren möglich macht.
Seit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts jedoch versuchte die Kunst der historischen Avantgarde, die faktische, materielle und nicht-fiktionale Dimension der Kunst zu thematisieren und aufzudecken. Die Avantgarde suchte das institutionelle und technische Rahmenwerk der Kunst zu thematisieren – indem sie sich gegen dieses Rahmenwerk wandte und es auf diese Weise sichtbar, für den Betrachter, Leser oder Zuschauer erfahrbar machte. Bertolt Brecht versuchte die theatrale Illusion zu zerstören. Futuristische und konstruktivistische Kunstbewegungen verglichen die Künstler mit Industriearbeitern und Ingenieuren, die handfeste Gegenstände herstellen, selbst wenn diese Objekte als etwas interpretiert werden können, das sich auf eine Fiktion bezieht. Dasselbe lässt sich für das Schreiben feststellen. Zumindest seit Mallarmé, Marinetti und Zdanevič versteht man unter der Produktion von Texten die Produktion von Gegenständen. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass Heidegger die Kunst gerade als Widerstand gegen das Fiktionale begriff. In seinem Spätwerk spricht er vom Gestell1, das sich hinter dem Weltbild* verbirgt. Das Subjekt, das über das Weltbild auf vermeintlich souveräne Weise sinniert, übersieht unvermeidlich die Rahmung eines solchen Bildes. Auch die Wissenschaft kann einen solchen Rahmen nicht in Erscheinung treten lassen, da sie von ihm abhängt. Heidegger ging davon aus, dass einzig und allein die Kunst es vermöge, das verborgene Gestell zum Vorschein zu bringen und so das fiktionale und illusionäre Wesen unserer Weltbilder deutlich zu machen. Hier dachte Heidegger zweifellos an die Kunst der Avantgarde. Diese Avantgarde jedoch war keineswegs in der Lage, Heideggers Suche nach dem Realen vollständig zu verwirklichen, weil die Realität der Kunst – also ihre materiell-gegenständliche Seite, welche die Avantgarde herausstellen wollte – refiktionalisiert wurde, indem sie wieder den Grundbedingungen der Kunstrepräsentation unterworfen wurde.
Genau das hat sich nun unter den Bedingungen des Internets geändert. Die Daten des Internets sind virtuell, aber nicht fiktional. Das Internet funktioniert unter der Voraussetzung der eigenen Nichtfiktionalität; es unterhält einen Bezug zur Offline-Wirklichkeit. Man spricht vom Internet als einem Informationsmedium, von einer Sphäre also, in der Informationen flottieren – doch die Information ist immer eine Information von etwas. Dieses Etwas hält sich stets außerhalb des Internets auf, ist also offline. Wäre es anders, wären alle ökonomischen Operationen im Netz unmöglich. Oder militärische Operationen. Oder die Sicherheitsüberwachung. Das Internet ist per definitionem der Ort der Wahrheit. Virtuell sein, über virtus verfügen, bedeutet neben anderem, wahrhaftig sein. Selbstverständlich besteht die Möglichkeit, etwas Fiktives zu kreieren, zum Beispiel einen fiktiven Nutzer im Netz. Doch in diesem Fall wird die Fiktion zum Betrug, der aufgedeckt werden kann, ja aufgedeckt werden muss. (Der Film Catfish führt exemplarisch vor, wie die reale Geschichte hinter einer Fake-Identität aufgedeckt wird.)
Entscheidend ist aber, dass im Internet Kunst und Literatur nicht vom institutionellen Rahmen festgestellt werden, wie das in der Welt des Analogen der Fall war. Hier die Fabrik, dort das Theater. Hier die Börse, dort das Museum. Im Internet operieren Kunst und Literatur in derselben Sphäre wie die militärisch-strategische Planung, Reiseanbieter, Kapitalflüsse und andere mehr. Google stellt nicht zuletzt unter Beweis, dass es im Reich des Internets keine Trennwände gibt. Natürlich gibt es spezialisierte Websites und Blogs für die Kunst, doch man erlangt Zugang zu ihnen, indem man sie anklickt, sie auf der Oberfläche des Computers, iPads oder Mobiltelefons rahmt. Auf diese Weise wird die Rahmung entinstitutionalisiert und die gerahmte Fiktion wird entfiktionalisiert. Der Nutzer kann den Rahmen gar nicht übersehen, weil er ihn ja zuallererst selbst geschaffen hat. Der Rahmen – und die Operation des Rahmens – werden explizit und bleiben es auch während der Erfahrung der Betrachtung und des Schreibens. Die Unkenntlichmachung des Rahmens, der unsere Erfahrung des Fiktionalen durch die Jahrhunderte hinweg bestimmt hat, endet hier. Kunst und Literatur können sich weiterhin auf Fiktion und nicht auf Wirklichkeit beziehen. Als Nutzer aber tauchen wir nicht länger in diese Fiktion ein, wir reisen nicht wie Alice durch den Spiegel, sondern nehmen die Kunstproduktion als realen Vorgang wahr und das Kunstwerk als ein reales Ding. Man könnte sogar sagen, dass es im Internet keine Kunst oder Literatur gibt, sondern nur Informationen über Kunst und Literatur – neben anderen Informationen über andere menschliche Aktivitäten. So finde ich zum Beispiel literarische Texte oder Kunstwerke von einem bestimmten Autor im Internet, wenn ich ihren oder seinen Namen google, und diese Ergebnisse werden mir im Kontext von gänzlich anders gearteten Informationen gezeigt, die ich über diesen Autor finden kann: Biografie, andere Arbeiten, politisches Engagement, Rezensionen und Details über ihr oder sein Privatleben. In diesem Fall wird der „fiktionale“ Text in die Informationen über den Autor als echter Person integriert. Durch das Internet finden die Bestrebungen der Avantgarde, welche die Kunst und das Schreiben seit Beginn des 20. Jahrhunderts angetrieben haben, ihre Vollendung, ihren telos. Kunst wird im Internet als eine bestimmte Art von Wirklichkeit gezeigt; als Arbeits- oder gar Lebensprozess, der in der wirklichen Offline-Welt stattfindet. Das bedeutet allerdings nicht, dass ästhetische Kriterien keine Rolle bei der Präsentation von Daten im Internet spielen. Hier wiederum haben wir es dann aber nicht mit Kunst zu tun, sondern mit Datendesign, mit der Aufbereitung von Dokumentationen wirklicher Kunstereignisse und nicht mit der Produktion von Fiktion.
Der Begriff „Dokumentation“ ist hier ausschlaggebend. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurde in Ausstellungsräumen und Museen die Dokumentation der Kunst in zunehmendem Maße miteinbezogen und den traditionellen Kunstwerken zur Seite gestellt. Eine solche Nachbarschaft schien jedoch äußerst problematisch. Kunstwerke sind Kunst, sie bezeugen sich selbst unmittelbar als Kunst. Deshalb können sie auch verehrt, emotional erfahren und dergleichen mehr werden. Und solche Kunstwerke sind fiktional. Sie können nicht als Beweismittel bei Gerichtsverfahren herangezogen werden. Sie garantieren nicht die Wahrheit dessen, was sie darstellen. Diese Aufgabe übernimmt die dokumentarische Fotografie. (Man könnte allerdings auch ein Gemälde als Dokument benutzen, wenn man keine Fotografie zur Verfügung hat; man kann sich in eine schöne Frau verlieben, nur weil man sie auf einem Portraitgemälde gesehen hat.) Die Kunstdokumentation ist aber nicht fiktional: Sie stellt ein Kunstereignis oder eine Ausstellung oder eine Installation oder ein Projekt dar, von denen wir annehmen müssen, dass sie wirklich stattgefunden haben. Kunstdokumentationen beziehen sich auf Kunst, ohne Kunst zu sein. Deshalb können sie auch immer wieder neu formatiert, umgeschrieben, ausgeweitet oder gekürzt werden. All das kann mit Dokumentationen der Kunst gemacht werden, verbietet sich hingegen bei Kunstwerken, da diese Operationen die Form des Kunstwerks verändern würden. Die Form eines Kunstwerks ist institutionell garantiert, weil einem ausschließlich die Form dieses Kunstwerks Reproduzierbarkeit und Identität der Fiktion garantiert. Im Gegensatz dazu kann jede Dokumentation verändert werden, weil deren Reproduzierbarkeit und Identität durch einen „echten“ externen Referenten garantiert wird und nicht durch die jeweilige Form der Dokumentation. Doch selbst wenn das Auftauchen der Kunstdokumentation dem Auftauchen des Internets als Kunstmedium zeitlich vorangeht, hat erst die Einführung des Internets der Kunstdokumentation ihren legitimen Platz gesichert (wie es Benjamin für die Montage hinsichtlich der Kunst und des Kinos feststellte).
Unterdessen haben Kultureinrichtungen selbst begonnen, das Internet als wesentlichen Raum für ihre Selbstdarstellung zu nutzen. Museen präsentieren dort ihre Sammlungen, denn schließlich ist es viel kompakter und gestaltet sich weitaus billiger, wenn man virtuelle Aufbewahrungsräume für Kunstbilder entwickelt, als sie in öffentlichen Räumen der traditionellen Kunstmuseen zu unterhalten. Auf diesem Wege bietet sich den Museen die Möglichkeit, Teile ihrer jeweiligen Sammlung zu zeigen, die für gewöhnlich unter Verschluss bleiben würden. Gleiches könnte man auch von den Verlagshäusern sagen, die in immer größeren Umfang Teile ihres Verlagsprogramms elektronisch zugänglich machen. Und man kann das auch von den Websites der Künstler selbst sagen, wo man zumeist die umfangreichsten Darstellungen ihres Schaffens finden kann. Während Atelierbesuchen stellt die Künstlerin oder der Künstler für gewöhnlich einen Laptop auf den Tisch und präsentiert Dokumentationen ihrer oder seiner Aktivitäten. Dazu gehören ebenso die Herstellung von Kunstwerken, Teilnahme an Langzeitprojekten, kurzzeitige Installationen, Interventionen im öffentlichen Raum, politische Aktionen und anderes mehr. Das Internet bietet Autoren die Möglichkeit, ihre Kunst beinahe jedem Menschen auf dieser Welt nahezubringen – und gleichzeitig schaffen sie so Archive ihres eigenen Kunstschaffens.
Dergestalt führt das Internet zur Globalisierung des Autors, der Person des Autors. An dieser Stelle beziehe ich mich abermals keineswegs auf ein fiktionales Autor-Subjekt, das sich angeblich mit Absicht und Bedeutung ihre oder seine künstlerische Arbeit füllt, die hermeneutisch entziffert und aufgedeckt werden sollen. Ein solches Autor-Subjekt wurde bereits dekonstruiert und viele Male für tot erklärt. Was ich hingegen meine, ist die reale Person, die in der Offline-Wirklichkeit existiert und auf die die Daten im Internet Bezug nehmen. Dieser Autor nutzt das Internet nicht bloß dazu, Romane zu schreiben oder Kunst zu machen, sondern auch dazu, Tickets zu kaufen, einen Tisch im Restaurant zu reservieren, Geschäftsabschlüsse zu tätigen und so weiter. All das findet im selben integrierenden Raum des Internets statt und alle diese Handlungen sind potenziell anderen Internet-Nutzern zugänglich.
Zweifellos versuchen die Autoren genauso wie alle anderen Individuen und Organisationen, der totalen Sichtbarkeit zu entgehen, indem sie ausgeklügelte Systeme zu entwickeln suchen, um ihre Passwörter und Daten zu schützen. Subjektivität ist heute nichts anderes als ein technisches Konstrukt: Das zeitgenössische Subjekt definiert sich als der Eigentümer einer Reihe von Passwörtern, die es selbst kennt und die die anderen nicht kennen. Deshalb ist auch das zeitgenössische Subjekt in erster Linie Geheimnisträger. In gewisser Weise ist dies eine sehr traditionelle Definition des Subjekts: Das Subjekt wurde schon immer als dasjenige beschrieben, das etwas über sich selbst weiß, wovon – außer vielleicht noch Gott – kein anderer eine Ahnung hat, weil wir ontologisch außer Stande sind, „die Gedanken des je anderen zu lesen“. Heute haben wir es aber weniger mit ontologisch als mit technisch geschützten Geheimnissen zu tun. Das Internet ist der Ort, wo das Subjekt ursprünglich als ein transparentes, beobachtbares Subjekt konstituiert wurde, das erst nachträglich beginnt, seine – im ersten Schritt enthüllten – Geheimnisse technisch zu schützen. Doch jede technische Schutzmaßnahme kann umgangen werden. Der Hermeneutiker von heute ist Hacker. Das Internet, mit dem wir es gegenwärtig zu tun haben, ist der Schauplatz eines Cyberkriegs, der um das Geheimnis geführt wird. Wer das Geheimnis kennt, bringt das Subjekt, das durch eben dieses Geheimnis konstituiert wird, unter seine Kontrolle; und deshalb schlagen Cyberkriege Schlachten der Subjektivierung und Entsubjektivierung. Doch solche Kriege können nur stattfinden, weil das Internet zuallererst Schauplatz von Transparenz und Referenz ist.
Nichtsdestotrotz beklagen sich sogenannte Contentprovider oftmals darüber, dass ihr künstlerisches Schaffen im Datenstrom, der das Internet durchzieht, einfach untergeht. In der Tat funktioniert das Internet als gewaltiger Mülleimer, in welchem alles eher verschwindet als in Erscheinung tritt. Nichts scheint den Grad öffentlicher Aufmerksamkeit zu gewähren, den man sich von ihm verspricht. Im Grunde durchsucht jeder das Internet nur deshalb, um herauszufinden, was aus den eigenen Freunden und Bekannten wurde. Man folgt bestimmten Blogs, informativen Websites, E-Magazinen, Websites – und ignoriert alles andere. Ein zeitgenössischer Autor vollzieht demnach nicht mehr die Bewegung vom Lokalen zum Globalen, sondern bewegt sich vom Globalen zum Lokalen. Traditionellerweise entwickelte sich die Karriere künstlerischer Autorschaft – mag es sich dabei um einen Schriftsteller oder um einen bildenden Künstler handeln – vom Lokalen zum Globalen. Zuerst musste man in seiner unmittelbaren Umgebung bekannt werden, um sich später dann global etablieren zu können. Heute beginnt man mit der Selbstglobalisierung. Stellt man seinen eigenen Text oder das eigene Kunstwerk ins Internet, dann adressiert man direkt ein globales Publikum und vermeidet dabei jedwede lokale Vermittlung. Das Persönliche wird hier global – und das Globale wird persönlich. Im selben Zug bietet das Internet die Möglichkeit, den globalen Erfolg eines Autors zu quantifizieren, weil das Internet eine gewaltige Maschine ist, die Leser und Lektüren gleichschaltet. Es folgt der Regel, dass eine Lektüre einem Klick entspricht. Um jedoch in der zeitgenössischen Kultur überleben zu können, muss man die Aufmerksamkeit des lokalen Offline-Publikums auf die eigene globale Publizität lenken – um nicht bloß global präsent zu sein, sondern sich auch lokal bekannt zu machen.
Hier stoßen wir auf eine allgemeinere Frage: Wer ist der Leser, oder eben, wer ist der Betrachter des Internets? Es kann sich dabei um kein menschliches Wesen handeln, denn kein menschlicher Blick vermag die Gesamtheit des Internets zu erfassen. Es dürfte aber auch kein Gott sein, denn der göttliche Blick ist ein unendlicher und das Internet ist endlich. Oft genug statten wir das Internet mit Begrifflichkeiten aus, die dann von unendlichen Datenströmen sprechen, welche die Grenzen individueller Kontrolle übersteigen. Tatsächlich aber ist das Internet gar kein Ort der Datenströme – es ist eine Maschine, die Datenflüsse anhält und umkehrt. Die Unbeobachtbarkeit des Internets ist ein Mythos. Das Medium des Internets ist Elektrizität. Der Vorrat an Elektrizität ist endlich. Deshalb kann das Internet keine immerwährenden Datenströme gewährleisten. Das Internet besteht aus einer festgelegten Anzahl von Kabeln, Bildschirmen, Rechnern, Mobiltelefonen und anderen Ausrüstungseinheiten. Die Effizienz des Internet basiert gerade auf seiner endlichen Verfasstheit und deshalb auch auf seiner Beobachtbarkeit. Suchmaschinen wie Google beweisen das. Man hört heute, gerade wenn es um das Internet geht, oft die Klage über die Zunahme der Überwachung, doch weder ist die Überwachung dem Internet äußerlich, noch handelt es sich bei ihr um eine spezifisch technische Nutzung des Internets. Das Internet ist seinem Wesen nach eine Überwachungsmaschine. Sie teilt den Datenfluss in kleine, nachverfolg- und umkehrbare Operationen und setzt auf diese Weise jeden Nutzer der Überwachung aus – sei diese nun eine tatsächliche oder mögliche. Das Internet erzeugt ein Feld vollständiger Sichtbarkeit, Zugänglichkeit und Transparenz. Es ermöglicht, dass das Verhalten aller Internetnutzer nachverfolgt werden kann. Der Blick, der das Internet sieht, ist ein algorithmischer. Und dieser algorithmische Blick kann, zumindest potenziell, alles sehen und lesen, was ins Internet eingespeist wurde und wird.
Doch was bedeutet eine derartige Transparenz für den Künstler? Ich vermute, dass das wahre Problem nicht darin liegt, dass man das Internet als Ort für die Verteilung und Präsentation von Kunst nutzt, sondern in seiner Nutzung als Arbeitsplatz. Unter den traditionellen institutionellen Bedingungen wurde Kunst an einem Ort geschaffen – im Atelier des Künstlers, in der Schreibstube des Autors – und an einem anderen gezeigt: im Museum oder im veröffentlichten Buch. Das Auftauchen des Internets hat diesen Unterschied zwischen Kunstproduktion und Kunstausstellung verwischt. Der Vorgang der Kunstproduktion ist, soweit das Internet ins Spiel kommt, immer schon von Anfang bis zum Ende ausgestellt. Früher haben nur Fabrikarbeiter unter dem Blick des Anderen gearbeitet – unter der permanenten Kontrolle, die Michel Foucault so eloquent beschrieben hat. Schriftsteller und Künstler arbeiteten zurückgezogen, abseits der panoptischen Kontrolle. Wenn jedoch der sogenannte Kreativarbeiter das Internet nutzt, so ist sie oder er einem ebensolchen oder sogar einem noch größeren Grad der Überwachung unterworfen als der Arbeiter bei Foucault.
Die Ergebnisse der Überwachung werden von den Konzernen, die das Internet kontrollieren, verkauft, weil diese die Produktionsmittel, die materiell-technischen Grundlagen, eben dieses Internets besitzen. Man sollte niemals außer Acht lassen, dass das Internet Privatbesitz ist. Profit lässt sich vornehmlich mit gezielt gesetzter Werbung machen und deshalb taucht hier ein spannendes Problem auf: die Monetisierung der Hermeneutik. Die klassischen Hermeneutiker, die den Autor hinter dem Werk suchten, wurden von den Theoretikern des Strukturalismus und des New Criticism scharf kritisiert, wobei beide davon ausgingen, dass es sinnlos sei, ontologische Geheimnisse enthüllen zu wollen, die qua Definition nicht zugänglich sind. Heute erleben wir die Wiedergeburt dieser alten traditionellen Hermeneutik und zwar in Gestalt zusätzlicher ökonomischer Ausbeutung der im Internet tätigen Subjekte, wo alle Geheimnisse von Beginn an enthüllt sind. Das Subjekt verbirgt sich hier nicht länger hinter ihrem oder seinem Werk. Der Mehrwert, den ein solches Subjekt produziert und der von den Internetkonzernen abgeschöpft wird, ist sein hermeneutischer Wert. Das Subjekt schafft nicht nur etwas im Internet, sondern es entblößt sich selbst als menschliches Wesen mit bestimmten Interessen, Wünschen und Bedürfnissen. Die Monetisierung der klassischen Hermeneutik ist einer der bemerkenswertesten Vorgänge, mit denen wir es im Laufe der letzten Jahrzehnte zu tun bekommen haben.
Auf den ersten Blick scheint es so, als ob die ununterbrochene Entblößung mehr positive als negative Aspekte für den Künstler besitzt. Die neue Synchronisierung von Kunstproduktion und dem Herzeigen im Internet scheint die Lage zu verbessern und nicht zu verschlechtern. Und tatsächlich bedeutet diese neue Synchronisierung ja, dass man als Künstler kein endgültiges Produkt mehr vorzulegen braucht, dass man kein Werk mehr schaffen muss. In diesem Fall ist bereits die Dokumentation des Vorgangs der Kunstproduktion das Kunstwerk. Kunstproduktion, Präsentation und Verteilung fallen zusammen. Der Künstler wird zum Blogger. Fast jeder in der zeitgenössischen Kunstwelt agiert als Blogger: die Künstler selbst, aber auch die Kunsteinrichtungen und im Grunde auch die Museen. Ai Weiwei ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Balzacs Künstler, der sein Meisterwerk nicht vorzeigen konnte, hätte unter diesen neuen Bedingungen keine Probleme: Die Dokumentation seiner Bemühungen, ein Meisterwerk zu schaffen, wären bereits sein Meisterwerk. In dieser Hinsicht funktioniert das Internet mehr wie eine Kirche als ein Museum. Als Nietzsche seinen berühmten Satz „Gott ist tot!“ formulierte, fügte er hinzu, dass wir damit auch des Beobachters verlustig gegangen seien. Das Internet bringt uns nun den allgemeinen Seher und Hörer zurück. Es scheint also so, dass wir wieder im Paradies gelandet wären und gleich den Heiligen die immaterielle Arbeit reiner Existenz unter dem göttlichen Blick verrichten. In der Tat kann man ja das Leben der Heiligen als Blog beschreiben, den Gott liest und der auch weiterbesteht, wenn der Heilige gestorben ist. Weshalb brauchen wir noch irgendwelche Geheimnisse? Warum lehnen wir uns gegen die totale Transparenz auf? Die Antwort auf diese Fragen hängt von einer viel grundsätzlicheren Frage ab, die mit dem Internet zusammenhängt: Bewirkt das Internet die Rückkehr Gottes oder des malin génie mit seinem bösen Blick?
Ich schlage vor, dass das Internet nicht das Paradies ist, sondern schon eher die Hölle – oder, wenn Ihnen das besser gefällt, Paradies und Hölle zugleich. Jean-Paul Sartre hat bereits gesagt, dass die Hölle die anderen sind – das Leben unter dem Blick der anderen. (Und Jacques Lacan meinte später, der Blick des anderen sei immer der böse Blick.) Sartre argumentierte, dass uns der Blick des anderen „objektifiziere“ und auf diese Weise die Möglichkeit der Veränderung zunichte mache, die Grundlage unserer Subjektivität ist. Sartre bestimmte die menschliche Subjektivität als „Projekt“, das der Zukunft zugewandt ist. Ein solches Projekt ist ein ontologisch garantiertes Geheimnis, weil es im Hier und Jetzt nicht enthüllt werden kann, sondern ausschließlich in der Zukunft. Mit anderen Worten begriff Sartre das menschliche Subjekt im Kampf mit der Identität, die ihm von der Gesellschaft auferlegt wurde. Das erklärt, warum er den Blick des anderen als Hölle empfand: Im Blick des anderen wird uns gewahr, dass wir die Schlacht verloren haben und Gefangene unserer gesellschaftlich kodifizierten Identität bleiben müssen.
Wir suchen den Blick des anderen gerade deshalb für eine gewisse Zeit zu meiden, um unser „wahres Selbst“ nach einer bestimmten Zeit des Rückzugs öffentlich in neuer Form und Gestalt in Erscheinung treten lassen zu können. Dieser Zustand der zeitweiligen Abwesenheit ist Grundlage für das, was wir kreativen Prozess nennen – in der Tat ist dieser zeitlich begrenzte Rückzug der kreative Prozess. André Breton erzählt die Geschichte eines französischen Dichters, der immer dann, wenn er schlafen wollte, ein Bitte-nicht-stören-Schild an seiner Tür anbrachte, auf dem zu lesen stand: „Der Dichter arbeitet!“ Diese Anekdote fasst das herkömmliche Verständnis kreativer Arbeit zusammen: Diese Arbeit ist deshalb kreativ, weil sie abseits der öffentlichen Kontrolle geschieht, ja sogar ohne bewusste Kontrolle des Autors selbst. Eine solche Zeit des Rückzugs kann Tage, Monate, Jahre dauern – oder ein ganzes Leben. Erst am Ende eines solchen Zeitraums erwartete man vom Autor ein Werk (das sich vielleicht erst in seinem Nachlass auffinden lässt), dass man gerade deshalb als ein kreatives akzeptierte, weil es so, wie es war, aus dem Nichts aufzutauchen schien. Mit anderen Worten bedeutet kreatives Schaffen ein Schaffen, das die Ungleichzeitigkeit der Zeit der Arbeit und der Zeit, in der die Ergebnisse präsentiert werden, voraussetzt. Kreatives Schaffen wird in einer Parallelzeit des Rückzugs, des Geheimnisses praktiziert, woraus sich dann ein Überraschungseffekt einstellt, wenn diese Parallelzeit mit der Zeit des Publikums wieder synchronisiert wird. Deshalb wollten Künstler ehemals im Verborgenen arbeiten, unsichtbar werden. Der Grund, warum sie sich vom Blick der anderen fernhalten wollen, begründet sich nicht damit, dass diese Künstler Verbrechen begangen haben oder schmutzige Geheimnisse hüten wollen. Der Blick der anderen wird nicht deshalb als böser Blick verstanden, weil er in unsere Geheimnisse eindringen und sie aufdecken will (ein solcher Blick ist eher schmeichelnd und aufregend) – sondern weil er uns alle Geheimnisse abspricht und uns auf das reduziert, was er sieht und registriert. In dieser Hinsicht kann man auch unter dem algorithmischen Blick leiden, selbst wenn der algorithmische Blick – anders als der menschliche oder göttliche – uns nicht richtet.
Selbstverständlich sprechen wir heute über das Internet, so wie wir es kennen. Doch ich gehe davon aus, dass der augenblickliche Zustand des Internets sich im Laufe der bevorstehenden Cyberkriege radikal verändern wird. Diese Cyberkriege wurden bereits erklärt, und sie werden das Internet zerstören oder zumindest schwer beschädigen, soweit wir es als Kommunikationsmittel und beherrschenden Markt betrachten. Die Gegenwart ähnelt sehr stark der Welt des 19. Jahrhunderts. Einer Welt, die von der Politik der freien Märkte bestimmt wurde, dem anwachsenden Kapitalismus, einer Kultur der Berühmtheiten und der Rückkehr von Religion, Terrorismus und Gegenterrorismus. Der Erste Weltkrieg löschte diese Welt aus und verunmöglichte eine Politik offener Märkte. Letzten Endes erwiesen sich die geopolitischen und militärischen Interessen der jeweiligen Nationalstaaten als weitaus mächtiger als ihre wirtschaftlichen. Darauf folgte eine lange Zeit der Kriege und Revolutionen. Warten wir ab, was uns in naher Zukunft bevorstehen mag.
Ich möchte aber mit einer etwas allgemeiner gehaltenen Überlegung bezüglich der Beziehung zwischen dem Archiv und der Utopie abschließen. Wie ich zu zeigen versucht habe, hat der utopische Antrieb immer mit dem Begehren des Subjekts zu tun, aus der eigenen, historisch definierten Identität auszubrechen, den Platz zu verlassen, der ihm von einer historischen Klassifizierung zugewiesen wurde. Auf gewisse Weise verleiht das Archiv dem Subjekt die Hoffnung, die eigene Zeitgenossenschaft zu überwinden und sein wahres Selbst in der Zukunft entfalten zu können, denn das Archiv verspricht, die Texte oder Kunstwerke des Subjekts nach ihrem oder seinem Tod weiterhin zu bewahren und zugänglich zu halten. Dieses utopische – oder zumindest heterotopische, um Foucaults Begriff zu benutzen – Versprechen des Archivs für das Subjekt ist für seine Fähigkeit entscheidend verantwortlich, Abstand und kritische Haltung gegenüber seiner eigenen Zeit und seinem unmittelbaren Publikum einnehmen zu können.
Archive werden oftmals nur als Möglichkeit der Konservierung und Darstellung der Vergangenheit in der Gegenwart interpretiert. In der Tat sind die Archive jedoch zur selben Zeit und sogar in erster Linie Maschinen, welche die Gegenwart in die Zukunft transportieren. Künstler schaffen ihre Werke nicht bloß für ihre eigene Zeit, sondern auch für die Archive, und das bedeutet für eine Zukunft, in der ihre Werke immer noch da sein werden. Das macht den Unterschied zwischen der Politik und der Kunst aus. Künstler und Politiker teilen gemeinsam den je gegenwärtigen öffentlichen Raum und beide wollen sie Zukunft gestalten. Dies eint die Kunst und die Politik. Politik und Kunst gestalten die Zukunft aber auf verschiedenartige Weise. Die Politik versteht die Zukunft als das Ergebnis von Handlungen, die hier und jetzt gesetzt werden. Die politische Handlung muss effizient sein, wenn sie zu Resultaten führen soll, und das gesellschaftliche Leben verändern. Mit anderen Worten formt die politische Praxis die Zukunft, doch dabei bringt sie sich selbst auch zum Verschwinden. Sie wird vollständig von den eigenen Ergebnissen und Konsequenzen geschluckt. Ziel der Politik ist es, überflüssig zu werden und Platz für eine zukünftige Politik zu machen.
Künstler hingegen arbeiten nicht nur im öffentlichen Raum ihrer Zeit, sondern auch für den heterogenen Raum der Kunstarchive, wo ihre Werke neben denen der Vergangenheit und der Zukunft stehen. Die Kunst, so wie sie in der Moderne und auch heute noch funktioniert, verschwindet nicht, nachdem die Arbeit getan ist. Es ist vielmehr so, dass das Kunstwerk in der Zukunft gegenwärtig bleibt. Und genau diese antizipierte zukünftige Gegenwart der Kunst garantiert ihren Einfluss auf die Zukunft, auf ihre Möglichkeit, die Zukunft zu gestalten. Politik gestaltet die Zukunft durch ihr eigenes Verschwinden. Kunst gestaltet die Zukunft durch ihre eigene verlängerte Gegenwart. Diese Spaltung zwischen Kunst und Politik wurde im 20. Jahrhundert zur Genüge durch die tragische Geschichte der Beziehung zwischen linker Kunst und linker Politik manifestiert.
Es ist wahr, dass unsere Archive historisch aufgebaut sind und unsere Nutzung dieser Archive immer noch von der Tradition des Historismus aus dem 19. Jahrhundert bestimmt wird. Deshalb neigen wir dazu, Künstler nach ihrem Tode wieder in die geschichtlichen Kontexte einzuschreiben, denen sie zu entfliehen versuchten. Aus diesem Grunde wirken die Sammlungen, die dem Historismus des 19. Jahrhunderts vorhergingen – also Sammlungen, die zum Beispiel Sammlungen des reinen Schönen sein wollten –, nur auf den ersten Blick naiv. Tatsächlich bleiben sie dem ursprünglichen utopischen Antrieb in weit höherem Maße treu als ihre verfeinerten historizistischen Gegenstücke. Ich habe den Eindruck, dass wir mehr und mehr an einem nicht-historischen Zugang zu unserer Vergangenheit interessiert sind. Wir interessieren uns mehr für die Dekontextualisierung und das Reenactment individueller Phänomene der Vergangenheit als um ihre historische Wiedereinordnung. Wir kümmern uns mehr um die utopischen Bestrebungen, die jene Künstler aus ihren geschichtlichen Kontexten herausgeführt haben, als um diese Kontexte selbst. Vielleicht liegen die spannendsten Aspekte des Internets als Archiv gerade bei den Möglichkeiten zur Dekontextualisierung und Rekontextualisierung, die den Nutzern durch die Cut-and-Paste-Operationen geboten werden. Auf gewisse Weise stellt das Internet, und ganz besonders Google, die Verwirklichung des Programms dar, das darin bestand, die Worte zu befreien, wie es Marinetti schon so prominent zu Beginn des 20. Jahrhunderts proklamiert hatte. Indem er nach bestimmten Worten und Wortkombinationen fragt, versetzt sich der Nutzer in die Lage, seine eigenen Kontexte zu schaffen, er durchbricht die historisch verfestigten Narrative und Diskurse.
Das scheint mir eine gute Entwicklung zu sein, weil es die utopischen Potenziale des Archivs stärkt und dem Risiko entgegenwirkt, diese zu verraten. Und ein solches Potenzial gehört zu jedem Archiv, auf welche Weise auch immer es strukturiert sein mag.
1Hier und im Folgenden bedeutet * im Original Deutsch. A.d.Ü.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 11. September 2012
Hunter S. Thompson tippte Romane von Hemingway und Fitzgerald ab. „Ich wollte wissen, wie es ist, wenn man diese Worte schreibt.“
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 11. September 2012
Jonathan Franzen ist der größte Romancier Amerikas … aus den 50er Jahren.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 18. September 2012
Die Neue Literatur: Worte – weniger für Menschen, sondern um Interaktion und Verkettung zu beschleunigen.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 22. September 2012
Mit dem alphanumerischen Kode, vom Schreiben nicht zu unterscheiden, hat das Internet seinen Zugriff auf die Literatur verstärkt.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 28. September 2012
Die Zukunft des Lesens ist das Nicht-Lesen.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 28. September 2012
Die Zukunft des Schreibens ist der Hinweis.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 2. Oktober 2012
Zeitgenössisches Schreiben ist Evakuierung des Inhalts.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 3. Oktober 2012
Individuelle Kreativität ist das Dogma des heutigen Soft-Kapitalismus und nicht die Domäne nonkonformistischer Künstler: Fiktion ist überall.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 10. Oktober 2012
Aus der China Daily: Ein junger Arbeiter hat dutzende Romane abgeschrieben, signiert und als Sammlung „seiner Werke“ veröffentlicht.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 10. Oktober 2012
Kurze Aufmerksamkeitsfähigkeit ist die neue Stille.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 2. Dezember 2012
Früher war ich Künstler, dann wurde ich Dichter, dann Schreiber. Wenn man mich heute fragt, bin ich ein Textverarbeitungssystem.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 3. Dezember 2012
Schreiben sollte so unaufwendig sein wie der Abwasch – und genauso interessant.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 12. Dezember 2012
Es gibt nichts, was man nicht „Schreiben“ nennen könnte, egal wie wenig es auch wie „Schreiben“ aussehen mag.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 29. Dezember 2012
Kreativität ist unkreativ.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 4. Januar 2013
„Schließlich habe ich entschieden, unehrliche Arbeiten machen zu müssen.“ – Marcel Broodthaers
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 15. Januar 2013
Vom Produzenten zum Reproduzenten.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 29. Januar 2013
Aneignung ist literarischer Kommunismus.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 30. Januar 2013
Leidenschaft führt dich in die Irre.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 11. Februar 2013
Kreativität ist ein Gefängnis.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 16. Februar 2013
„Textverarbeitungssysteme“ können Schriftsteller ersetzen – Vilém Flusser, 1983
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 25. Februar 2013
Die Avantgarde ist unbeliebt, weil sie demokratisch ist.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 24. März 2013
Unsere neuen Biografien sind unsere Browserchroniken.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 5. Juli 2013
Jedes Kind könnte tun, was ich tue, es bräuchte jedoch nicht zu befürchten, dass es jemand wagt, es blöd zu nennen.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 12. Juli 2013
„Eine wahre Geschichte erzählen ist ein unnatürlicher Akt“ –@RichardPrince4
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 16. August 2013
Schreiber ähneln heute mehr Programmierern als leidenden Genies. Sie begreifen Schreibmaschinen, bedienen sie glänzend, halten sie am Laufen.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 25. August 2013
Worte werden nicht geschrieben, um gelesen zu werden, sondern um geteilt, bewegt und manipuliert zu werden.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 30. September 2013
Man stelle sich den Autor als Mem-Maschine vor.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 13. Dezember 2013
Hunter S. Thompson tippte Romane von Hemingway und Fitzgerald ab. „Ich wollte wissen, wie es ist, wenn man diese Worte schreibt.“
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 14. Dezember 2013
Schreiben sollte so unaufwendig sein wie der Abwasch – und genauso interessant.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 14. Dezember 2013
Individuelle Kreativität ist das Dogma des heutigen Soft-Kapitalismus und nicht die Domäne nonkonformistischer Künstler: Fiktion ist überall.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 16. Dezember 2013
Wer Kunst nicht mit der Absicht macht, dass sie kopiert wird, macht keine Kunst für das 21. Jahrhundert.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 22. Dezember 2013
Schreiber, die eher wie Programmierer funktionieren und nicht wie traditionelle Schreiber.
Uncreative Writing @UncreativeWriti, 2. Januar 2014
Ein Ethos, für den die Konstruktion oder Konzeption eines Textes genauso wichtig ist wie das, was der Text sagt oder tut.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 15. Februar 2014
Kurze Aufmerksamkeitsfähigkeit ist die neue Avantgarde.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 18. Februar 2014
Das Internet ist das größte Gedicht, das je geschrieben wurde. Unlesbar vor allem wegen seiner Größe.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 24. Februar 2014
Die menschliche Einheit – früher bekannt unter dem Namen „Der Leser“.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 25. Februar 2014
Die Zukunft des Lesens ist das Nicht-Lesen.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 28. August 2014
Authentizität ist List.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 21. September 2014
Das Internet zerstört die Literatur (und das ist nicht übel).
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 2. Oktober 2014
Zitieren ist das neue close reading. #Infrathin
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 26. Oktober 2014
Vom Produzenten zum Reproduzenten.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 27. Oktober 2014
Zerstreutes Multitasking ist der neue Surrealismus.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 27. Oktober 2014
#Ablenkung ist die neue #Konzentration.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 3. November 2014
Die Zukunft des #Schreibens ist das #Zeigen.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 9. November 2014
Inhalt spielt keine Rolle mehr. Wie wir Ideen verteilen ist wichtiger als die Ideen selbst. Das Zitat übertrumpft die Kreation.
Kenneth Goldsmith @kg_ubu, 20. November 2014
Im digitalen Zeitalter ist die aktuelle Avantgarde Mainstream. Wir sind jetzt alle Dichter.
Es fing damit an, dass meine Mutter mir ihr Grundstück zeigte. Wir gingen in den hintersten Winkel des Gartens, wo es im Schatten der groß gewordenen Fichten Pflaumen- und Mirabellenbäume gab, von denen ich nichts mehr wusste. Sie bestand auch darauf, durch eine Pforte, die ich nie benutzt hatte, auf ihr brachliegendes Baugrundstück nebenan zu gehen. Dort war die Krume fest und grasbewachsen. Man lief darüber wie über Steine. Mir fiel eine Pflanze auf, deren Stängel und Blätter rot waren. Sie wuchs in mehreren Exemplaren aus dem harten Boden hervor. Im Netz lernte ich, dass es eine Blutpflaume war. Am nächsten Tag kam ich wieder, um sie auszugraben. Einige der Stängel sprossen aus einer dicken Querwurzel, die ich zunächst für ein Ethernet-Kabel hielt. Meine Mutter, die ich dazuholte, riss die Wurzel mit einem Handgriff heraus. Wir schnitten sie in drei Teile, aus jedem von ihnen wuchs ein roter Spross, und stellten sie zur Wurzelbildung in Wasser. Einen anderen Trieb stach ich rund um sein Erdreich aus. Wir setzten ihn in einen mit reicher Erde halb gefüllten Topf, füllten die Ränder aus und gossen ihn kräftig. Am Tag ließ die Pflanze ihre Blätter hängen, um Kraft zu sparen, doch nachts erholte sie sich. Beim Rundgang waren mir auch die reifen Beeren an Brombeerbüschen aufgefallen, die auf dem Totholzhaufen unter den Tannen und den Zaun entlang wuchsen. Doch ich unterschätzte die Kunst des Pflückens. Meine Schuhe versanken in den trockenen Tannennadeln, meine nackten Beine verbrannten sich an den Brennnesseln, ich fing mir Kratzer und Dornensplitter ein.
Und trotzdem war es unmöglich, kehrtzumachen, um mich umzuziehen. Zuallererst wollte ich noch diese und jene Beere pflücken. Oft waren sie klein, unterentwickelt, verschrumpelt oder fielen auseinander, wenn ich nach ihnen griff. Über meine Hände lief ihr Saft, meine Finger, meine Nägel waren davon getränkt wie ein Stempelkissen. Ich aß keine einzige, ich wusste nicht einmal, wie sie schmeckten. Das Sammeln war genug. Wenn aus den kleinen, verstreut wachsenden Früchten eine Menge geworden war, würde ich etwas mit ihnen anfangen und ihre Essenz erfahren. Am Nachmittag ging ich wieder hinaus, diesmal auch auf die andere Seite des Zauns. Ich hatte mich klüger gekleidet, in Anorak, Stiefel und Denimhose. Aber immer noch griffen die Zweige mir nach dem Kopf, zerrten an meinem Haar, kletteten sich an die Nylonjacke und stachen in den Hosenstoff. Die Hälfte der Zeit war ich mit der Abwehr der Dornen beschäftigt. Ich hielt sie mit angewinkeltem Ellbogen in Schach oder trat mit einem hohen Schritt möglichst viele von den Zweigen nieder. Immer wieder riss ich mir durch den Griff nach einer lockenden Beere tief im Gebüsch den Handrücken auf. Ich kam nicht auf die Idee, das Pflücken aufzugeben. Ich ging mit der Automatik einer Biene vor, die von Blüte zu Blüte summt. Sobald ich einen neuen Standpunkt erkämpft hatte, war ich entschlossen, keine Frucht zu übersehen. Erst als ich auch alle jungen Büsche auf dem Baugelände nach ersten Beeren abgesucht hatte, gab ich Frieden.
Dann wies meine Mutter mich auf eine Brombeerhecke hin, die an das Haus gegenüber grenzte. Sie lief entlang des nachbarlichen Hofes den Postberg hinauf, eine asphaltierte Straße, auf der früher die Depeschenkutsche ins Elbtal gekommen war und durch ihr Hornsignal die Fähre vom Ablegen abgehalten hatte. Es war nicht ganz klar, ob diese Hecke den Nachbarn gehörte oder öffentlicher Besitz war. Ich pflückte so lautlos wie möglich, schon um die Collies nicht zu wecken, die die Nachbarin züchtet. Hier waren die Brombeeren reichlicher, der Busch lag den ganzen Tag in der Sonne, die Früchte waren prall und bildeten Rispen. Aber die Hecke war auch tückisch, ihre Zweige über- und ineinander gewachsen. Wie ein Mikadospiel musste man sie entwirren, um voranzukommen. Wenn sie zurückschnellten und ich mich durch einen großen Schritt, der sie zu Boden drückte, rettete, wurden die Hunde aufmerksam. Aber die Hecke war so dick und dicht, dass sie nicht hindurchgekommen wären. Das Dickicht dämpfte die Geräusche, und auch sehen konnte man mich nicht. Als ich sie nach meinen Möglichkeiten abgelesen hatte, entdeckte ich Brombeeren auf der anderen Straßenseite. Dann gab ich auf und fuhr mit dem Fahrrad ein Eis essen.
Auf der Ostseite der Elbe sah ich am Wegrand weitere Brombeerbüsche. Doch ich hatte kein Gefäß dabei und musste weiterfahren. Am Tag darauf nahm ich Gefäße mit. Ich fuhr die Strecke zur Eisdiele in umgekehrter Richtung, so dass der Deich jenseits der Elbe zu meinem Rückweg wurde. Ich kam durch einen Wald und entdeckte schon auf den ersten Metern Brombeeren unter den Bäumen: zarte, niedrige Gewächse mit prallen Früchten. Die Ausbeute war gering, obwohl ich viel Zeit darauf verwandte. Später sah ich im tieferen Wald größere, wie Hünengräber gewölbte Büsche, doch die Angst vor Schlangen hinderte mich, zu ihnen vorzudringen.
Bei meinem nächsten Besuch auf dem Land zog ich Turnschuhe und Hosen an. Die Brombeeren im Garten waren schon nach einer Woche wieder reif. Ich deckte mich für die Radtour mit Plastikgefäßen ein. Noch bevor ich den dichten Wald erreichte, fand ich Brombeerhecken am Straßenrand. Sie waren in einem Graben gewachsen, der an höhergelegene Felder grenzte. Ich füllte alle Gefäße und hatte doch erst einen der Büsche abgelesen. Ich gewöhnte mich ans unwegsame Gelände, an die überwachsenen Gräben, die ich überspringen musste, an das hohe Unkraut am Feldrand, das niedergetreten werden wollte, bevor ich Zugang zu den Büschen erhielt. Schon im Garten war es mir so vorgekommen, als würden die Brombeerhecken sich auf kokette Art wehren. Mir kam der Gedanke, dass dem Pflücken eine erotische Dimension beiwohnte. Mit jeder Beere, die ich vom Stängel winden musste, berührte ich den Busch auf intime Weise, trat in Kontakt, kommunizierte. Offenbar gab es mehr Formen der Sexualität, als das Internet wusste. Wenn ich die Gefäße in der Küche abstellte, waren die Brombeeren von quicklebendigen Mikrowesen übersät. Ich stellte sie in einem Sieb auf die Terrasse, um ihnen die Flucht zu ermöglichen. Doch warum sollten sie flüchten? Sie gehörten ja zu den Brombeeren.
In der Nacht begann ich kurz vor dem Tiefschlaf von den Brombeeren zu träumen. Ich befand mich in ihrem Reich. Sie läuteten mir mit prächtigen, violetten Rispen den Weg, es gab keine Dornen mehr, nur diesen tiefen Raum, in dem sie wie Perlenohrgehänge leise schwankten. Je mehr ich pflückte, desto tiefer öffnete sich im Traum der Brombeerraum, immer neue Früchte kamen in Sicht. Ich griff danach wie ein Räuber in Ali Babas Höhle. Sie waren Geschmeide, transfiguriert, keine vergänglichen Früchte mehr, sondern Kunstgebilde. Nur Schwalbenschwärme, die mich beim Radfahren aufgeregt umflogen, sind so bis in mein Unbewusstes vorgedrungen.
Am nächsten Morgen war das Wetter trüb. Ich begab mich auf eine kurze Radtour, nahm aber die Gefäße mit, denn vor dem Einschlafen hatte ich an einen Busch an der Straße kurz vor dem Wald gedacht, den ich noch nicht inspiziert hatte. Vor der Fahrt hatte ich vergessen, meine Lesebrille gegen Kontaktlinsen auszutauschen, so dass der Busch mir zunächst leer erschien. Ich wollte schon umkehren, machte noch ein paar Schritte und bemerkte die ersten Beeren. Dann begann ein Sog, aus dem ich erst zwei Stunden später wieder auftauchte. Mehr und mehr Brombeeren wurden sichtbar. Es war wie im Traum. Und ich hatte inzwischen gelernt, die Dornen zu meiden. Meine Hand glitt durchs Dickicht, ohne anzuecken. Meine Furcht vor Schlangen war verschwunden. Ich arbeitete mich immer weiter in die dunklen Zonen der Hecke vor, und in jeder Schicht ihrer Untiefen gab es neue Beerenrispen. So einen Reichtum hatte ich vorher nirgends angetroffen. Meine Schritte wurden sehr vorsichtig, denn auch auf dem Boden, im Gras vergraben, wuchsen die Früchte. Die ganze Hecke war wie ausgestopft mit den Halmen vertrockneter Gräser. Mit diesem natürlichen Heu glich sie einem Erdbeerbeet. Es kam der Moment, in dem ich nicht mehr glaubte, den Reichtum erschöpfen zu können. Die Brombeeren hatten gewonnen.
Während ich wie ein Jäger reglos dastand, einen Fuß auf Zweige gedrückt, einen Arm zu ihrer Abwehr ausgestreckt, mein Auge ans Dickicht gewöhnend, rasten Autos, Busse und Lastwagen an mir vorbei. Dabei entstand ein surreales Gefühl zweier extrem voneinander unterschiedenen Zeitebenen. Ich war mehr der Schmetterling, das Kleinstzellenwesen, das auf den Rispen balancierte, als ein unsteter Mensch, der von Ort zu Ort unterwegs war. Ich hatte die Welt der Pferdestärken verlassen, meine Sinne folgten einem anderen Takt, meine Notwendigkeiten waren von dieser Hecke diktiert, ich war in ihren Kosmos eingetreten, vor dem Einschlafen von ihr gerufen worden und befand mich unter ihrer Obhut. Sie tat mir nicht mehr weh, es gab ja sonst keinen, den sie mir hätte vorziehen können.
Wir machten Gelee aus den Früchten. Brühten sie mit einem gleichen Teil Wasser auf, ließen sie durch ein Leinentuch tropfen, kochten den Saft mit Gelierzucker ein, gossen das Gelee bis zum oberen Rand in Gläser. Es steckte alles in seinem Geschmack. Das Gelee war ein Elixier. Tagelang entfernte ich Dornen aus Händen und Armen, sie taten nicht wirklich weh, es war eher ein Geschicklichkeitsspiel. Einige trug ich noch im nächsten Frühling mit mir herum, als der kommunale Bauhof die Brombeerhecken vor dem Wald schon kassiert hatte. Ich brachte ein Geleeglas zu einem Geburtstag in der Hauptstadt mit. Du musst dich unbedingt mit Till austauschen, sagte das Geburtstagskind: Es gibt eine Frau im Elsass, die Marmeladen ganz ohne Gelierzucker kocht. Das dauert drei Tage, aber es klappt. Ich schämte mich für meine Brombeeren und hätte das Glas gern wieder mitgenommen.
Nichts auf dieser Welt ist aufmerksamer als Transkriptionsfaktoren, auch TFs genannt. TFs sind Proteine, welche die Wände zwischen Zellprotoplasmen durchdringen und sich anschließend im Zellkern festsetzen, der wiederum die Aufgaben unterschiedlicher Gene kontrolliert. Damit das erfolgreich gelingen kann, müssen die TFs an speziellen Stellen der DNA andocken, die für die Genaktivität verantwortlich sind. Diese Landezonen der unterschiedlichen Gene unterscheiden sich deutlich voneinander, und es gibt tausende von TFs, die zur selben Zeit die jeweiligen Genaktivitäten steuern. Für eine präzise Landung muss der TF seine gesamte Aufmerksamkeit auf ein paar Buchstaben des Alphabets der DNA konzentrieren. Ohne TFs gäbe es kein Leben auf diesem Planeten und viele von uns sterben, weil die TFs aufhören so zu funktionieren, wie sie es sollten.
Als Ryan begann, seinen Körper entlang einer Tangente auf den Raum zwischen der vieldimensionalen Falte von Lynn Mendelmanns kraftlosem Becken und ihres sich dazu exponentiell vergrößernden Schambeins zuzubewegen, richtete sich seine gesammelte Aufmerksamkeit konzentriert auf die innere Bremse, die ihn sein Therapeut sachgerecht im Inneren seines Penis anzubringen geraten hatte und die seinen vorzeitigen Samenerguss verhindern sollte. Diese Bremse sollte die solide Form einer harten Olive haben, und Ryan würde sie im Zuge der Erregungssteigerung langsam anschwellen lassen, um den Samenfluss zu unterbinden, was ihm auch die, im gegenteiligen Falle eintretende, zwecklose Ausscheidung seiner rohen DNA außerhalb der frustrierten Eierstöcke von Lynn ersparen würde. Achtsamkeit auf die Details und Konzentration auf die Bremse waren dazu bestimmt, Ryan Selbstsicherheit zu geben, die auch für seine Karriere von so großer Bedeutung war.
Ein winziges Chamäleon schob sich über die Falten einer bunten Tapete, die sich von der Wand zu lösen begann. Wie es sich für eine Mann in seinem Zustand gehörte, lag Tarum, der vor zwei Wochen seinen Job als Buchhalter bei Goldmann & Sachs verloren hatte, im Bett und betrachte den langsam verlaufenden Wandel der Farbe auf der Haut des Chamäleons, während sich dieses mit der Präzision eines Samsung-Kopiergeräts vor dem Hintergrund immer wieder neu camouflierte. Die gesprenkelte Aufmerksamkeit des Chamäleons hinsichtlich der Details war hübsch anzusehen, ehe Tarum aufstand und mit aller Kraft seiner äquinoktialen Arme eine mit Bedacht gefaltete Zeitung gegen den Punkt warf, an dem das Tier und die Wand eine gespaltene Identität teilten. Ein winziger Tropfen grünlicher Flüssigkeit, die aus dem zerquetschten Chamäleon austrat, wurde augenblicklich Teil der ansehnlich dekorierten Wand und steuerte das ihre zur lebendigen und sorgfältig ausgewählten Tapete bei.
Was soll das heißen – genau sein?
Man muss einfach Bescheid wissen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um die versiegelte Sendung zu öffnen.
Or brauchte ein Weile um zu begreifen, dass er ein ziemlich schwerfälliger und untalentierter Scharfschütze war. Der Kerl hatte die Flucht ergriffen, seine Extremitäten steckten in den Jabs oder Knabs oder wie auch immer diese neuen Markendinger seines intelligenten Endoskeletts heißen mochten. Or konnte sich nicht länger auf den Abzug konzentrieren, da der Kerl einen selbstgebastelten und ferngesteuerten Debrator benutzte, der im selben Maße Konzentration aussendet, mit der diese ihn trifft. Es wäre ein sicherer Schuss geworden, hätte Or einen Biss von dem Hasch-Marshmallow genommen, der heute früh beim Soldatentreffen übriggeblieben war. Der Schuss wäre dann intuitiv ausgefallen und eben nicht konzentriert, und besser kann man einfach nicht töten. „Wer Posthumans erledigen will, muss wie ein Posthuman denken“, lautete einer der Sprüche des Hauptmanns aus Weißrussland, auf Apps versessen und vertrottelt. Und den flüsterte er den Scharfschützen auch gerne ins Ohr. „Ich scheiß auf dich Herr Hauptmann und auf euch Posthumans gleich mit! Vielleicht allerdings nicht auf Dora mit ihr/sein/en wulstigen Rundungen und zappeligen Bewegungen, die durch die Myelitis sanfter ausfallen, die sich im Nervengewebe des Rückenmarks breitmacht.“
Herr McGuire: Ich möchte Ihnen nur eines sagen. Eine Sache nur.
Benjamin: Jawohl, Sir!
Herr McGuire: Hören Sie zu?
Benjamin: Ja.
Herr McGuire: Plastik.
Benjamin: Wie meinen Sie das?
Herr McGuire: Plastik hat Zukunft. Denken Sie darüber nach! Werden Sie das tun?
Myelitische Roboter. Das klingt wie Kind, vom Hund zerfleischt. Wie ging die Geschichte nochmal mit dem Borschtsch Gürtel?
„Ein Bär (hochgradig konzentriert) schnappt sich an einem Urlaubsort in den Catskill-Bergen ein Kleinkind aus Brooklyn (unkonzentriert) aus dem Kinderwagen und zerfleischt es zu Tode (beide konzentriert dabei). Wie die Behörden bekanntgaben, ereignete sich der Vorfall gestern. Entsetzte Zeugen (unkonzentriert), darunter auch der Vater des Mädchens (konzentriert) verjagten das Tier (konzentriert), ehe es von einem Polizisten (konzentriert) erschossen wurde. Zu der Bärenattacke auf die fünf Monate alte E. kam es, als deren Mutter R. die beiden anderen Kinder – den Sohn, J., vier Jahre alt und die Tochter, C., zwei Jahre alt (autistisch) – in ihrem Ferienhäuschen in der Machne Ohel Feigl Siedlung in Woodridge, die etwa siebzig Meilen nordwestlich der Stadt liegt, in Sicherheit bringen wollte.“
Ich werde nun im Nachfolgenden den Text nach Zufallsprinzip auslöschen und sehen, ob das irgendwie sinnvoll ist. Ich muss mich dafür bloß wie ein Ei konzentrieren, das in sich verschlossen das Bild eines Vogels aus einem Gemälde von Magritte enthält.
„Das Baby schlief in seinem Kinderwagen vor dem Ferienhäuschen, als der bösartige Schwarzbär plötzlich aus dem Wald herauskam und sie zu beißen begann. Der Vater des Kindes wurde verletzt, als er und seine Freunde – Gegenstände schwenkend IIIIIIIIIIIIIIIII und schreiend – den Bären in den IIIIIIIIIIIIIIIIIdas kleine Mädchen. Aber es war zu spät. Behördenvertreter gaben bekannt, dass das Baby, dessen Kopf und Hals vom Bären zerfetzt, bereits bei seiner Einlieferung für tot erklärt IIIIIIIIIIIIIIIII örtlichen Krankenhaus. IIIIIIIIIIIIIIIIIreisten zum Ausflugsort Sullivan County – ein Ort, der von chassidischen Juden aus New York gerne aufgesucht wird – von ihrem Wohnort in Williamsburg aus an. Staatliche IIIIIIIIIIIIIIIII ließen verlautbaren, dass es sich wohl um den ersten IIIIIIIIIIIIIIIII – der einzigen Rasse, die es in diesem Staat gibt – IIIIIIIIIIIIIIIII jeder in New York.“
„Der Polizeichef von Fallsburg, Brent Lawrence, sagte, der Bär sei ein junger 150-Pfünder gewesen, der unerwartet aufgetaucht IIIIIIIIIIIIIIIII etwa fünfundfünfzig Familien, was IIIIIIIIIIIIIIIIIPanik entsprach. Die Mutter des Babys hörte Leute IIIIIIIIIIIIIIIII Bär! Bär! und rannte mit ihren Kindern in das IIIIIIIIIIIIIIIII sagte. ,Als IIIIIIIIIIIIIIIIIBaby weg war.‘“
„Isaac Abraham, ein Sprecher der Satmar-Gemeinschaft der chassidischen Juden Williamsburgs sagte, IIIIIIIIIIIIIIIIIdas Kind aus dem Kinderwagen IIIIIIIIIIIIIIIIIsich selbst in den Wald. Die Leute fingen an IIIIIIIIIIIIIIIII Steine und andere IIIIIIIIIIIIIIIIIauf ihn zu werfen. Jeder war außer sich vor Panik.‘“
„Der Sprecher des Ministeriums für Naturschutz, Mike Fraser, sagte, E.s Vater, P. S. S., wurde verletzt, als er versuchte den Bären XXXX im Weg.“
„Lawrence erklärte, dass es einem der Polizeibeamten gelang, sich dem Bären auf fünfzig Schritt zu nähern, XXXX umdrehte und XXXX. Polizist David XXXX einen Schuss ab, das Tier war sofort tot. Wildhüter XXXX, der zuständige Amtstierarzt, teilte mit, dass man die Überreste des Bären für eine Autopsie noch im Laufe der letzten Nacht ins Labor gebracht habe. Er sagte: ,Die große Frage, die sich stellt, lautet, ob man bei dem Bären irgendwelche Abnormalitäten feststellen kann – Tollwut zum Beispiel. XXXX“
Die Besucher der Hochzeitsfeier wurden in mehreren Notfallrettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Die ganz in Rosa gekleidete Braut war bereits tot, als der schwerverletzte Bräutigam mit einer zweiten Gruppe kurz vorher noch fröhlich feiernder Bauern eingeliefert wurde, die alle gemeinsam die Hochzeit einer der ihren mit dem Arzt aus der Stadt gefeiert hatten. Unzählige Flaschen, zerfressen vom trüben Fusel des Selbstgebrannten, standen auf dem Tisch herum. Daneben die halbverdauten und rohen Überreste der Produkte aus den genossenschaftlich-landwirtschaftlichen Fleischverarbeitungsbetrieben der Umgebung; in der Mitte des Tisches fanden sich Einmachgläser in Form von Vaginas, gefüllt mit in Essig eingelegten Pilzen. Die Party war in vollem Gange, als etwa 19 Mikrogramm des äußerst giftigen und hochkonzentrierten Pilzgifts Ergotamin sich gleichmäßig unter den Gästen verteilte (entlang der Y-Achse) und sich auf diese Weise gegen die Zeit stellte (auf der X-Achse), gegen die Trinksprüche auf die lang verlorenen Söhne und die abwesenden oder verstorbenen Freunde. Diese Trinksprüche wurden durch die Sirenen der Krankenwagen verlängert; später dann waren es die Autohupen, die beim Begräbnis das letzte Geleit gaben.
In der Schule dachte ich gerne über Osmose nach. Der Klang des Wortes erinnerte mich an etwas Weiches, vielleicht an eine kleine Schnecke, die zwischen meinen Lippen (os) in mich hineingleitet, durch die Peristaltik des Ösophagus (mo) nach unten geschoben wird und unten dann, in meinem Magen (sis), sich niederlässt. Diese sich zurücknehmenden Laute passten ausgezeichnet zum Vorgang selbst, bei welchem die Dinge sich gelassen durch den unsichtbaren Gleichmut der Zeit bewegten, nur um zu Bosonen verdünnt zu werden.
Gesteigerte Konzentration erzeugt einen Mangel an Konzentration.
Zeichen kümmerlicher Konzentration:
Auf Deutsch: Offener Hosenstall1
Auf Ukrainisch: Ausgelassener Salo2
Zeichen ausgezeichneter Konzentration:
Gewaltige Schwarze Löcher
Auf Ukrainisch: Salo in dicken Scheiben
1Im Original Deutsch
2Salo, in Salz und Gewürzen gereifter Rückenspeck, ist ein ukrainisches Nationalgericht.
Die Erzählerin, eine junge Frau, steht in einem kugelförmigen Raum, der einer Höhle gleicht, auf einer stillstehenden Tretmühle. Sie ist allein. Nachdem eine gewisse Zeit verstrichen ist, streckt sie ihren Finger ins Nichts vor ihr und beginnt Bewegungen zu machen, so als arbeite sie an einem unsichtbaren Interface, durch das sie mit kleinen Gesten die Tretmühle steuerte. Diese setzt sich alsdann in Bewegung. Jeder neue Abschnitt ihres Übungsprogramms wird vom Interface her angekündigt; die vom Echo zurückgeworfene Stimme klingt im Raum nach. Die Erzählerin spricht in Kapiteln, bringt eine Geschichte der Vergangenheit, der Zukunft und des immerwährenden Jetzt zum Vortrag. Während die Frau läuft, macht sich ihre körperliche Erschöpfung in ihrer Stimme bemerkbar.
PROFIL: SCHLECHT ANGEPASSTER PRIMAT
Das Konzept des Cyborgs wurde ursprünglich entwickelt, um das Überleben im Weltraum zu gewährleisten. Im Laufe der Zeit jedoch wandte man es mehr und mehr für das Überleben auf der Erde an. Beim Über-Leben ging es nicht um bloßes Weiterleben, sondern um die Überwindung des Lebens. Es ging um ein Leben des Mehrwerts, ein Leben mit permanenter Überversorgung durch Hämoglobin und Antigene. Die Schwelle für das nackte Leben wurde beständig angehoben. Die Pupillen erweitern sich.
FERTIGKEITEN ERWERBEN
Auf ähnliche Weise wurden Vergrößerungslinsen entwickelt, die man sich vor die Augen hielt, um das All zu beobachten. Doch beinahe übergangslos wurden diese Gläser umgewendet und dienten nun zur Betrachtung unserer selbst. Aus dem Teleskop wurde ein Mikroskop. Wir entdeckten Blutzellen. Wir entdeckten Spermatozoen.
Später investierten wir etwa 20.000 Dollar, um uns selbst an die firmeneigenen, achtkanaligen EEG-Verstärker anzuschließen, die mit maßgeschneiderten Gehirntrainingsprogrammen ausgestattet waren. In sieben Tagen lernten wir, unser Gehirn in einen mentalen Zustand zu versetzen, für dessen Erreichung man unter herkömmlichen Umständen einundzwanzig bis vierzig Jahre tägliche Zen-Meditation benötigt. Für diesen Zustand wurden Stressmanagement-Vorrichtungen zur Verfügung gestellt, was zur Steigerung des IQ und der Kreativität führte.
WÄHLE EINEN LEVEL: KUGELSICHERE EXEKUTIVE
Es gab nur diejenigen mit zugelassenen Behinderungen und diejenigen, die die ihren bislang noch nicht gefunden hatten. Ermutigt durch die Fortschritte der Künstlichen Intelligenz und den Medizinwissenschaften, fingen wir an davon zu träumen, die ganze Wetware unseres menschlichen Wesens hinter uns zu lassen.
Die einflussreichen Narrative des Fortschritts blieben jedoch arthritisch. Geschichten von steifen Gelenken und schwächlichen Blutkreisläufen, Trainingsprogramme und Paläodiäten. Wir konzentrierten uns weit mehr auf die Architektur als auf die Infrastruktur, ausgesteift wurde der Flow und kristallisierte sich aus.
LEBENSERHALTUNG / LEBENSSTIL
Menschen mussten, da sie im Grunde eine tropische Säugetierart sind, ihre Lebensräume immer schon unterjochen. Technologien wie Kleidung und Schuhwerk, Gore-Tex und Neopren, Häuser, Zimmer und Klimakammern stellen die notwendigen Medien dar, die es uns erlauben, Jahrtausende der evolutionären Anpassung an frostige und unerträglich heiße Temperaturen zu überspringen. Klimaanlagen gestatten es der Menschheit, sich unbesehen der Klimaschwankungen zu entwickeln.
ÖKO-HERAUSFORDERUNG
Das Mikroskop machte ganze Populationen anderer Lebewesen sichtbar, die in unseren Körpern leben. Deshalb säuberten wir uns und unsere Lebensräume, um sicher sein zu können. Hochentwickelte sanitäre Versorgung führt allerdings auch zu hochentwickelten Allergien. Kinder aus keimfreiem Haus bekommen Asthma. Wir kolonisierten unsere Körper, während wir die Welt kolonisierten. Desinfektionsmittel traten aus den verwesenden Körpern aus und gelangten so in den Erdboden. Die Erde entwickelte eine Allergie. Der Wirt reagierte auf das Implantat.
KONTROLLFELD
Komplexe Emergenzsysteme wie Körper/Planeten/Städte wurden zu kybernetisch gebeugten Inputs/Outputs/Kontrolleinheiten. Architektur wurde Information, Wärme, Wetter, Luft, Sex. Architektur konnte gedownloaded, gegessen, geschnupft, installiert, kopiert, gepfropft, übertragen, genetisch verändert, transplantiert werden. Gleich dem Begehren existierte die Architektur ohne Objekt.
ABWICKLUNG …
Die Information, die sich in den Blutbahnen finden ließ, war per se nicht mehr von besonderer Bedeutung. Einsichten gewann man nicht durch die Zählung der eigenen Zellen, Kalorien, Schritte, sondern durch die Kombination dieser Zahlen mit den Ergebnissen, die man bei anderen festgestellt hatte. Das Mikroskop wurde zum Makroskop, eine Linse, die sich auf ganze Bevölkerungsgruppen richtete und deren Ziel es war, massenhaft Daten zu sammeln. Das Makroskop ließ uns nicht durch eine optische Vorrichtung sehen, sondern durch digitale Algorithmen; es transformierte Myriaden von Bits an Information in größere, lesbare Muster.
TROPFENZÄHLUNG: 3
Wir waren zusammen. Allwissend und impotent. Die tägliche Wettervorhersage wurde aus einer Cloud des Kollektivbewusstseins herausgezogen, die man in Echtzeit über eine Karte gelegt hatte, die den Einfluss des Gruppenbewusstseins auf die physisch verfasste Umgebung nachzeichnete. Chaotisch veranlagte Bewusstseinszustände wurden Zufallszahlgeneratoren und es war nicht länger möglich, die Überwachungsmonitore auszutricksen. Die Weiterentwicklung der Zivilisation wurde nicht in Form von Energie gemessen, sondern in Form von Daten. Wir verfügten nicht bloß über einen Überschuss an Hämoglobin, sondern auch einen Überschuss an Möglichkeiten, die Zellen zu zählen.
SPERMIENZÄHLUNG: -1
Wie wir mit unseren Körpern verfuhren, war unsere größte ethische Sorge. Überwältigt von der Anzahl an Informationen, die es zu bewältigen galt – Koordinaten, Handbücher des Shuttle-Pendelverkehrs, kunstvolle Verfahren –, wurde die ganze Menschheit zum Mitarbeiterstab der Rechtsreferendare, die versuchten, mit den immer höher werdenden Aktenbergen zurande zu kommen.
Die Mächte des Raumdesigns manövrierten den Körper seiner Umgebung gegenüber in eine immer passiver werdende Rolle. Die Haut wurde abgeschottet. Eigenheime vom Katastrophenschutz optimiert. Der Planet selbst entwickelte eine Kalkschale aus Satelliten. Der Körper wurde zum Cursor, der eine Choreografie der Klicks aufführte.
FEHLER
Der Crash war die einzige echte Erfahrung, die der Computer seit Jahren machen musste. Zum ersten Mal stand er in körperlicher Auseinandersetzung mit seinem Körper, eine unerschöpfliche Enzyklopädie von Schmerzen und Entladungen unter dem feindseligen Blick anderer Maschinen und verbunden mit der unleugbaren Tatsache des unausweichlichen Todes. Der Computer entdeckte Blutzellen. Er entdeckte Spermatozoen.
AUTOMATIK-MODUS
Apatheia: Befreiung von Leidenschaften
Aponia: Überwindung von physischem Schmerz
Ataraxia: Ausschaltung aller mentalen Beunruhigungen
Wozu braucht man Sperma im Weltraum? Antischwerkraftejakulat buchstabiert eine Sprache, die auf der Suche nach Objekten ist, die Anfänge einer neuen Sexualität, die von jedwedem körperlichen Ausdruck geschieden ist. Elegante, aus Aluminium gefertigte Belüftungsöffnungen in den Wänden der Abteilung für Röntgenstrahlen locken ebenso einladend wie die verführerischsten Öffnungen aus organischem Material.
DAS DEMO-FELD VERLASSEN
Der Raum des Weltraums verhält sich zum Raum des Architekten als dessen Gegenteil. Der Weltraum ist ein Raum, in den sich der Mensch im Grunde nicht hineinbewegen kann, ohne zu sterben, und deshalb kann er ihn auch nur unter Zuhilfenahme von technischen Hilfsmitteln betreten.
Die kompakte Kabine des Raumschiffs, das dem bizarren Fahrzeug eines extremen Krüppels ähnelt, für den es angefertigt wurde, ist das passende Modul für unsere sich beschleunigende Zukunft. Ein riesenhaftes, luxuriös ausgestattetes Raumschiff. Letzten Endes wird es sich in einen Sarkophag verwandeln und der Körpercontainer wird seine logische Erfüllung gefunden haben.
Der Weltraum bietet beste Gelegenheit und liefert die Entschuldigung dafür, den Körper in einer hermetischen Umgebung zu quantifizieren – entweder ist er einer der vollständigen Isolation oder einer, der vollständig mit allen anderen verschmolzen ist.
Die Erzählerin erhebt sich in die Luft, wird schwerelos – eine Pause, ehe es im Programm weitergeht. Als die Tretmühle sich wieder in Gang setzt, wird aus der Szenerie herausgezoomt und vor uns breitet sich die Aussicht auf den Asteroiden aus, in welchem sie reist.
Aus dem Drehbuch des Video-Essays When you moved (2014). Mit Bezugnahme auf die Werke von J. G. Ballard, Michael Crichton, Nicholas de Monchaux und Beatriz Preciado.
VON KIPPSCHALTERN, MADELEINE-EFFEKTEN UND DON QUICHOTE-SYNDROMEN BEI DER IMMERSION IN TEXTWELTEN
Es beginnt ganz spontan, und es hält an, solange ich lese ... Ich muss mich konzentrieren und mich involvieren ... Ich gehe sofort im Lesen auf, und all die Probleme, die mich sonst bedrängen, verschwinden ... Es beginnt, sobald etwas Besonderes meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, etwas, das mich interessiert ... Das entsteht, sobald ich Gelegenheit habe, ungestört zu lesen ... Man fühlt sich gut, ruhig, friedlich ... Ich fühle mich, als würde ich ganz in die Situation gehören, die im Buch beschrieben wird ... Ich identifiziere mich mit den Charakteren und nehme Anteil an dem, was ich lese ... Ich fühle mich, als hätte ich das Buch in meinem Kopf gespeichert.
Fausto Massimini, Mihaly Csikszentmihalyi und Antonella delle Fave: „Flow and Biocultural Evolution” In Mihaly Csikszentmihalyi und Isabella Selega Csikszentmihalyi (Hrsg.), Optimal Experience: Psychological Studies of Flow in Consciousness. Cambridge: Cambridge University Press, 1988
So verwandelten sich beim Lesen und Weiterlesen meine Anschauungen in die Wörter des Buches und die Wörter des Buches in meine Anschauungen. Meine vom Licht geblendeten Augen konnten die Welt im Buch und das Buch in der Welt nicht mehr voneinander unterscheiden. Es war, als sei eine einzige Welt, alles Existierende, jede mögliche Farbe und Sache in dem Buch unter den Wörtern enthalten, und dennoch ließ ich während des Lesens glücklich und erstaunt alle nur erdenklichen Dinge in meinem eigenen Verstand Wirklichkeit werden.
Orhan Pamuk: Das neue Leben. Aus dem Türkischen von Ingrid Iren. München: Hanser, 1994
Ich sitze am Schreibtisch, die Ellbogen auf die Buchseiten gestützt, das Kinn in den Händen, ich nehme nicht wahr, wie sich draußen das Licht verändert, und ich höre nicht den Straßenlärm, sondern sehe, höre verfolge eine Geschichte, eine Beschreibung, einen Widerstreit. Nichts außer meinen Augen und meiner Hand, die ab und zu umblättert, bewegt sich, und doch ist da etwas, was durch das Wort „Text“ nicht genau beschrieben ist, was sich entfaltet, fortschreitet, wächst, Wurzeln schlägt, während ich lese. Wie aber vollzieht sich dieser Prozess?
Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Aus dem Englischen von Helmut Heinrich. Berlin: Volk und Welt, 1998
EINLEITUNG
Die obigen „Lesezeugnisse“ berichten von einer Welt von Bildern und Gefühlen, von Figuren und Objekten, die so wirklich erscheinen wie die Umwelt, vom Zauber einer Geschichte, die derart fesselt und mitreißt, dass man alles um sich herum vergisst. Solche Erlebnisse des „Eintauchens“, „Sich-Versenkens“ und „Sich-Verlierens“ in eine Textwelt berichten Personen, wenn sie gefragt werden, was das Lesen narrativer Texte (Fiktion) bei ihnen auslöst. Aus den obigen Zitaten geht einerseits hervor, dass Konzentration der Aufmerksamkeit und emotionale Involvierung dabei ebenso eine Rolle spielen wie Interesse, Selbstvergessenheit, Eskapismus, Identifikation, Empathie und Glück. Andererseits wird die Frage nach dem Wie des Vorgangs aufgeworfen, und tatsächlich weiß die empirische Wissenschaft nur wenig über dieses doch so alltägliche, universelle Phänomen.
Victor Nell (1988) hat dieses Phänomen in seinem Buch Lost in a book als Absorption (i. S. v. Aufsaugen der Aufmerksamkeit, volle Inanspruchnahme der Konzentration) bezeichnet und mit der Lust am Lesen (ludic reading; vgl. Anz, 1998) und – ähnlich wie Freud – mit der Literatur als Spiel verknüpft. Andere Literaturwissenschaftler, Sozialpsychologen und Leseforscher wie Hakemulder, Green und Gerrig sprechen von Transportierung (in Textwelten). In unserem Buch Gehirn und Gedicht (Schrott & Jacobs, 2011) haben wir diese Eindrücklichkeit des Lesens einer bestimmten Art von Literatur in Anlehnung an Bela Balazs’ Filmtheorie Immersion (d. h. das vollständige Ein- und Untertauchen eines Objekts in eine Flüssigkeit) genannt, weil sich unser Auge beim Lesen ähnlich wie eine Filmkamera bewegt, die laut Balazs „mein Auge, und damit mein Bewusstsein, mitnimmt: mitten in das Bild, mitten in den Spielraum der Handlung hinein. Ich sehe nichts von außen. Ich sehe alles so, wie die handelnden Personen es sehen müssen. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung. Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit - obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe“.
Ganz ähnlich beschreibt der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser (1976) den „Akt des Lesens“ als Mittendrin-Sein: Anders als beim normalen Wahrnehmungsvorgang, bei dem wir einem Objekt gegenüberstehen und mit ihm eine Beziehung eingehen, „bewegt sich der Leser als perspektivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich hindurch“. Dies macht, so Iser, das Besondere bei der Erfassung von ästhetischer Gegenständlichkeit in fiktionalen Texten aus. Dass ein Text im Unterschied zu vielen anderen visuellen Wahrnehmungsobjekten nie als Ganzes erfasst werden kann, sondern stets nur als eine Abfolge von Lektüremomenten – als wandernder Blickpunkt –, hat kognitive Konsequenzen. Das bereits Gelesene verblasst in der Erinnerung, nur das gerade Gelesene wird wahrgenommen, das noch nicht Gelesene jedoch schon vor dem Hintergrund des Erinnerten und Wahrgenommenen antizipiert. In Isers Worten: „Jeder Augenblick der Lektüre ist eine Dialektik von Protention (Erwartungen, die auf Kommendes zielen) und Retention (Erinnerung), indem sich ein noch leerer, aber zu füllender Zukunftshorizont mit einem gesättigten, aber kontinuierlich ausbleichenden Vergangenheitshorizont so vermittelt, dass durch den wandernden Blickpunkt des Lesers ständig die beiden Innenhorizonte des Textes eröffnet werden, um miteinander verschmelzen zu können“.
SPIELARTEN DER IMMERSION
Transportierung, Absorption, Präsenz oder flow sind Begriffe für immersive Phänomene, die erfahrungswissenschaftlich kaum untersucht und daher noch nicht aufgeklärt sind. Trotzdem gibt es eine Reihe Theorien aus den verschiedensten Disziplinen, die zur hypothetischen Erklärung herangezogen werden. In den Humanwissenschaften sind beispielsweise die klassische Einfühlungstheorie von Lipps (1903/06), die Virtuelle Realitätstheorie von Ryan (2001) oder das triadische Modell (Reales, Fiktives, Imaginäres) fiktionaler Rezeption von Iser (1993) populär (vgl. Voss, 2008).
Aus Lipps’ ästhetischer Theorie wird insbesondere die Hypothese abgeleitet, dass Leserin und Text durch die Einfühlung in denselben, d. h. den zustande kommenden Eindruck, dieser sei belebt und innerlich von Kraft und Energie durchströmt, „qualitativ verschmelzen“; eine Art „Selbstentleerung des Ichs“ in eine Fiktion hinein stattfindet (Voss, 2008). Für die Film- und Theaterwissenschaftlerin Robin Curtis (2008) ist Immersion ebenfalls ein ästhetischer Effekt, der gerade durch die Verlebendigungsimpulse der Einfühlung im Sinne Lipps’ zu vielfältigen Möglichkeiten der Involvierung führt – und das auch jenseits einer naturalistischen Abbildstrategie. Für sie liegt es nahe, Immersion und Einfühlung als synonym zu betrachten.
Der niederländische Leseforscher Rolf Zwaan (1993) beschreibt die beim immersiven Lesen ablaufenden Prozesse allerdings als weit über einfache Einfühlung hinausgehend (z. B. Inferenzprozesse, mentale Situationsmodellbildung) wie folgt: „Wenn Leser Geschichten lesen, konstruieren sie eine reiche mentale Vorstellung der Geschichten-Welt. Sie haben eine Idee davon, wie die des Protagonisten aussieht, und können sich – falls ihnen diese Umwelt vertraut ist – zusammen mit ihm durch diese Welt bewegen. Der Leser stellt sich weiterhin die Ziele des Protagonisten vor und führt mental Buch über die erfolglosen und erfolgreichen Versuche, diese zu erreichen. Oft inferiert der Leser auch physische Ursachen, beispielweise wenn er sein Wissen über Feuer und Wasser mobilisiert, um zu schließen, dass das Feuer ausging, weil jemand Wasser darüber schüttete. Zudem rekrutiert der Leser sein reiches emotionales Wissen, um zu inferieren, dass der Protagonist frustriert ist, wenn er sein Ziel nicht erreicht. Der Leser ist in einer zeitlichen Abfolge von Ereignissen so gefangen, dass diejenigen Ereignisse, welche in der Geschichten-Welt nahe bei uns sind, auch zugänglicher in unserem Gedächtnis sind als solche, die weiter zurückliegen. Jedoch geht die phänomenologische Erfahrung der Immersion in eine Geschichten-Welt weit über dies hinaus. Beim Lesen einer Geschichte können wir kalten Wind ‚erleben‘, der in unser Gesicht bläst, den Geruch von schalem Bier, einen Kuss auf unsere Lippen oder ein heißes Stück Pizza in unserem Mund.”
Ryans Buch Narrative as Virtual Reality definiert Immersion als eine imaginierte Beziehung zu einer Textwelt, einem Bedeutungskosmos, einem Fenster auf etwas, das jenseits der Sprache existiert und sich raum-zeitlich weit über den Fensterrahmen ausdehnt. Um immersiv wirken zu können, muss ein Text ihr zufolge vertraut und „mimetisch“ sein, d. h. einen virtuellen Raum mit individuellen Personen, Objekten oder Ereignissen schaffen, auf die eine Leserin sich beziehen und an denen sie teilhaben kann. Diese imaginierte Welt muss räumlich-zeitliche Konturen besitzen, damit sich die imaginierten Objekte auch plastisch vorstellen lassen. Solche mimetischen Texte können Leser „gefangen nehmen“, vollends in künstliche Welten eintauchen (Immersion), fremde Länder bereisen (Transportierung) und „sich verlieren“ lassen. Ryan unterscheidet dabei in Anlehnung an Gerrigs (1993) Buch Experiencing Narrative Worlds zwischen einer minimalen, schwachen und einer reichen, starken Form der Transportierung. Erstere umfasst lediglich die Vorstellung eines konkreten in der Raumzeit verorteten Objektes (liest man beispielsweise das Wort „Texas“, kann man, laut Gerrig, nicht umhin, mental nach Texas transportiert zu werden), letztere dagegen nicht nur den Gedanken an ein konkretes Objekt, sondern auch denjenigen an seine Umgebung, die Welt um es herum inklusive der Vorstellung, sich selbst darin, in Gegenwart des Objekts, zu befinden. Die starke Form der Transportierung bezeichnet Ryan, ähnlich wie Iser, auch als ästhetische Immersion, weil sie von ästhetischen Textmerkmalen wie plot, narrativer Präsentierung, Bildweltqualität und Stil abhängt. Laut Iser befindet sich der wandernde Blickpunkt der Leserin eines perspektivisch aufgebauten Textes ja in jedem Lektüremoment in einer von vier Perspektiven: Erzähler, Figuren, Handlung (plot) oder Leserfiktion (eine zusätzliche Perspektive, die das Bild des Lesers widerspiegelt und vorwiegend dazu dient, seine Einstellungen zum erzählten Geschehen zu umreißen). Die Qualität dieser Merkmale und Perspektiven(wechsel) trägt entscheidend zur Lust am Lesen und damit zur ästhetischen Seite der Immersion bei. Perspektivwechsel können laut Iser dem gestaltpsychologischen Gesetz der guten Fortsetzung folgen, wenn der „gefühlte und erwartete Zusammenhang“ zwischen aufeinanderfolgenden Satzkorrelaten gegeben ist. Sie können aber auch den „mühelosen Strom des Satzdenkens“ beim flüssigen Lesen unterbrechen, wenn eine unerwartete Wendung passiert, und damit die momentane Immersion ausbremsen.
Ryan unterscheidet überdies vier Intensitätsgrade der Transportierung beim Lesen: i) Konzentration, d. h. die Form von Aufmerksamkeit, die man nicht-immersiven Texten widmet und die noch sehr ablenkbar durch Umweltreize ist, ii) imaginative Involvierung (imaginative involvement), eine Form der geteilten Aufmerksamkeit, die die Leserin zwar in die Textwelt transportiert, aber auch weiterhin eine distanzierte ästhetische oder epistemologische Betrachtung erlaubt, iii) Verzückung (entrancement), d. h. das nicht-reflektive Lesevergnügen, welches den Leser vollends absorbiert, ihn sowohl die ästhetischen Qualitäten der Autorenleistung als auch den (logischen) Wahrheitswert der Aussagen vergessen und die Sprache verschwinden lässt, ohne dass er allerdings vergisst, dass die Textwelt nicht die Wirklichkeit ist, und iv) Sucht (addiction), eine Art zwanghaften Lesens zum Zwecke der Flucht vor der Realität, die zum Verlust derselben führen kann, was Ryan das Don Quichote-Syndrom nennt.
Iser (1993) rückt in seinem triadischen Modell fiktionaler Rezeption das Imaginäre in den Vordergrund, das er als ein Vermögen sieht, die im Text angebotenen latenten Bedeutungsstrukturen zu aktualisieren, wobei der aktive Vorgang der imaginären Sinngestaltergänzung (des systematisch Ausgelassenen) zentral ist. Realitätsbezogenes Erfahrungswissen wird dabei mit phantasiehaften Abweichungen anhand der Materialkonstellation der Textvorlage zu einer imaginären Darstellungsform eigener Realität und Intentionalität transformiert (Voss, 2008).
Zusammenfassend kann man sagen, dass es nicht an Definitionen und theoretischen Erklärungsansätzen immersiver Phänomene mangelt. Jedoch stellt sich für einen Erfahrungswissenschaftler die Frage nach dem Wie der Immersion. Wie funktioniert Immersion beim Lesen, nicht nur auf der verbal mitteilbaren Ebene des subjektiven Erlebens, sondern auch auf den nicht direkt beobachtbaren Ebenen der kognitiv-affektiven Prozesse und ihrer neuronalen Grundlagen. Die bewusst mitteilbaren Vorgänge des Lesens, auf die sich die meisten Literaturwissenschaftlerinnen und Psychologen beziehen und die gewöhnlich mit Fragebögen und psychometrischen Skalen gemessen werden (z. B. Transportationsskala von Appel et al., 2002; Busselle & Bilandzic, 2009; Green & Brock, 2000), bilden ja nur die Spitze eines Eisbergs, der aus vielen unbewussten kognitiven und affektiven Prozessen besteht, welche die Leseforschung mit Methoden der Blickbewegungs- und Hirnaktivitätsmessung auszuleuchten versucht (Jacobs, 2006a). Zwei neuronale Grundlagen des Immersionsphänomens haben wir in Gehirn und Gedicht postuliert (Schrott & Jacobs, 2011), die Bestandteil eines allgemeinen Modells der neurokognitiven Poetik sind, welches noch weitere diskutiert (Jacobs, 2011; 2014a,b; 2015; Jacobs et al., 2013; Lüdtke et al., 2014): Symbolverankerung (symbol grounding), Neuronale Neuprägung (neuronal recycling). Diese werden im folgenden erläutert.
NEUROKOGNITIVE GRUNDLAGEN DER IMMERSION
Woher kommt diese erstaunliche Eindrücklichkeit des Lesens? Wie kann es sein, dass vermeintlich abstrakte Symbole und evolutionär extrem junge kulturelle Objekte wie Worte „Sinnestäuschungen“ und „quasi-echte Gefühle“ auslösen und uns im Kopfkino fesseln können?
Ein Blick zurück in die Geburtsjahre der Psychologie weist auf mögliche Antworten. So waren für Freud (1891) Wörter für das Gehirn nichts anderes als andere Objekte und er sah keinen Grund dafür, dass sie irgendwie anders kodiert werden sollten als über ihre perzeptiven und motorischen Merkmale, d. h. in erster Linie über das Lautbild und das artikulatorische Programm. Auch Karl Bühler (1934) erkannte nach Beobachtungen an Kindern bereits, dass Wörter einen „Sphärengeruch“ haben: Kommt in einem Text beispielsweise das Wort „Radieschen“ vor, dann ist der Leser sofort an den Esstisch oder in den Garten versetzt, eine ganz andere Sphäre also, als wenn etwa das Wort „Ozean“ vorkommt. Ein Leser ist, um Bühlers auf Sprechen bezogenen Ausdruck zu verallgemeinern, „bei den Dingen, von denen gesprochen wird, und lässt die konstruktive oder rekonstruierende innere Tätigkeit zum guten Teil vom Gegenstand selbst, den man schon kennt oder soweit er durch den Text bereits angelegt und aufgebaut ist, gesteuert werden“. Deshalb „hört“ eine Leserin eigentlich in ihrem Kopf das Knacken, sie „sieht“ die rot-weiße Farbe und „riecht“ möglicherweise sogar den erdigen Geruch, wenn sie „Radieschen“ liest. Wörter haben Bühler zufolge einen „Stoff“ – sie sind verkörperte Kognitionen –, und die Tätigkeiten, denen sie dienen – Sprechen und Lesen, Denken und Fühlen –, sind stoffgesteuert (vgl. Jacobs, 2014b; Jacobs & Kinder, 2015).
Stellen Sie sich vor, ein Kind hört den Satz: „Lisa stieß sich am Tisch und weinte.“ Könnte es diesen Satz verstehen, wenn es sich nicht vorstellen kann, wie es selbst an einen Tisch gestoßen ist oder jemanden dabei beobachtet hat? Auf Piaget und Wittgenstein aufbauend, kann man sogar annehmen, dass die Bedeutung des Wortes „Tisch“ aus nichts anderem besteht als dem (neuronalen) Muster von mit diesem Objekt verbundenen Handlungen. Die verkörperte Bedeutung – das sensomotorische Konzept „Tisch“ – setzt sich aus früher damit gemachten Erfahrungen und daraus resultierenden Einschätzungen zusammen. Dazu zählen etwa folgende Bestimmungen: wie weit ist er von mir weg; wo ist die Kante; was muss ich tun, um mich nicht daran zu stoßen; wie ist seine Form; wie groß, schwer und aus welchem Material ist er; wie viel Kraft brauche ich, um ihn zu umgehen; wie fühlt er sich an? Empirische Studien in unserem Dahlem Institute for Neuroimaging of Emotion (D.I.N.E.) der FU Berlin haben ergeben, dass Wörter sich neben linguistischen und affektiven Merkmalen auch in den Attributen „Körper-Objekt-Interaktion“ und „Sensorische Erfahrung“ unterscheiden lassen: Wörter wie „Meer“ oder „Honig“ weisen einen hohen „Verkörperungsindex“ auf, „Zweck“ oder „Zufall“ dagegen einen geringen (Jacobs et al., 2015). Dichtung macht sich seit jeher solches Wissen um das senso-motorische und affektive Assoziationspotenzial von Wörtern zunutze und verbindet dieses stilvoll mit ihren lautlichen Eigenschaften (Jakobson, 1960; Schrott & Jacobs, 2011).
Die Hypothese der Symbolverankerung besagt nun einfach ausgedrückt nur, dass Wörter und Sätze, die wir hören oder lesen, in uns ähnliche Erinnerungsbilder hervorrufen wie die Dinge, die sie bezeichnen. Dieses von Ryan in Anspielung an Proust als Madeleine-Effekt bezeichnetes Phänomen weist darauf hin, dass beim Lesen wie beim Sprachverstehen Prozesse im Spiel sind, die auf denselben oder ähnlichen neuronalen Mechanismen beruhen wie beim direkten Erleben. Diese mentale Simulation verbal oder schriftlich beschriebener Situationen bewirkt demnach – unter bestimmten Randbedingungen – eine mit der realen Wahrnehmung vergleichbare, bisweilen sogar stärkere Eindrücklichkeit. Damit steht diese Hypothese im Gegensatz zu traditionellen Auffassungen der kognitiven Psychologie, die von einer strikten Trennung zwischen Sprache und Wahrnehmung oder Handlung ausgehen, weil ihrer Auffassung nach Sprache sich – im Gegensatz zu Letzteren – auf die Manipulation abstrakter Symbole stützt. Dabei wird jedoch übersehen, dass das Schriftbild von Wörtern und Sätzen dieselbe Art von sensorischen Reizen darstellt wie Objekte oder Gesichter. Zugleich werden sie auch automatisch mit ihrer Klanggestalt assoziiert. Licht- und Schallwellen wirken so – transformiert in neurochemische Signale – auf unser Gehirn, dass diese Wellen dann in komplexen Zwischenschritten zu (multimodalen) „Symbolen“ umgewandelt werden: in Buchstaben/Grapheme und die ihnen entsprechenden Laute/Phoneme. Ein Wort wird demnach symbolisch verankert (symbol grounded) durch jene sensomotorischen Aktivitäten, mit denen im Verlauf der individuellen Lerngeschichte seine Rezeption (Sehen, Hören) und Produktion (Sprechen, Schreiben) miteinander verbunden wurde. Was auf den ersten Blick als abstraktes, amodales Objekt von Schriftzeichen erscheint, erhält erst über viele mühsame Jahre des Lernens hinweg seine gewohnte, beinahe selbstverständliche Bedeutung – die Schwierigkeiten dabei kann jeder feststellen, der Kinder oder erwachsene Patienten mit Hirnläsionen beim Lesen- und Schreibenlernen beobachtet. Den Bühler’schen „Sphärengeruch“ von Worten kann man heute mit den Mitteln der Neurowissenschaft tatsächlich nachweisen. Beim Lesen der Buchstabenfolge „Radieschen“ werden verschiedenen Sinnesareale im Gehirn aktiv, bei „Ball“ auch Bewegungszentren und bei „Kuss“ Nerven, die Emotionen verarbeiten. Das Gehirn erlebt mit, was es doch eigentlich nur abliest und diese Simulationskraft (Mimesis, Nacherleben) ist eine wichtige Grundlage der Immersion, das neuronale Substrat des Kopfkinos.
Die zweite Hypothese der Neuronalen Neuprägung besagt, dass im Gehirn Strukturen, die evolutionsbiologisch eigentlich nicht dafür vorgesehen waren, sich letztlich doch an die Umwelt so anpassen, dass kulturell geprägte Prozesse wie das Lesen dann schließlich über diese Strukturen ablaufen. Das heißt, dass kulturelle Erfindungen wie die Schrift evolutionär ältere Netzwerke im Gehirn okkupiert haben, indem sie deren strukturelle Rahmenbedingungen zumindest teilweise übernommen haben und eine Art „neuronaler Nische“ bilden. Die Evolution hatte in den etwa 6000 Jahren seit der Entwicklung der Schrift ja kaum Zeit, vollkommen neue, lesespezifische Strukturen zu entwickeln, die sich auf die Konstruktion solcher amodaler Symbole spezialisieren konnten. Da schon allein beim Erkennen eines einzelnen Wortes neuronale Netzwerke in allen vier Hirnlappen und im Kleinhirn sowie in weiteren subkortikalen Strukturen aktiv sind, ist davon auszugehen, dass hier Strukturen genutzt werden, die bei unseren Vorfahren vergleichbare Funktionen erfüllten (z. B. Muster-, Objekt- und Gesichtserkennung).
Der Paläontologe Stephen Jay Gould schlug für solche Prozesse den Begriff Exaptation vor. Gemeint ist damit eine Art kreativer Zweckentfremdung der Evolution: die Nutzbarmachung einer Eigenschaft für eine Funktion, für die sie ursprünglich nicht vorgesehen war. Auf eine der größten Leistungen der menschlichen Zivilisation und eine der komplexesten Funktionen des menschlichen Gehirns bezogen – das Lesen –, geht der Neuropsychologe Stanislaw Dehaene (2009) in seiner Hypothese der Neuronalen Neuprägung davon aus, dass ein bestimmter Teil des Gyrus fusiformis der linken Hirnhälfte – einer Struktur im unteren Schläfenlappen – ein solches exaptiertes Gehirnareal darstellt. Das oft Jahre dauernde Lesenlernen prägt dessen neuronale Schaltkreise neu und überformt damit in dieser Region das, was evolutionär zunächst ausschließlich der Objekt- und Gesichtserkennung diente: ein Musterbeispiel dafür, wie das Gehirn plastisch auf neue kulturelle Erfindungen reagieren kann. Dieses sogenannte Visuelle Wortform-Areal besitzt eine Reihe von neuronalen Schaltkreisen, die einerseits hinreichend nahe an den ursprünglichen Funktionen der Muster-, Objekt- und Gesichtserkennung liegen, auf die andere Teile des Gyrus fusiformis spezialisiert sind, die andererseits aber auch hinreichend plastisch sind, um signifikante Ressourcen für neue kulturabhängige Aufgaben wie die Buchstaben- und Worterkennung rekrutieren zu können. Man kann also mit der Sprach- und Leseforscherin Maryanne Wolf (2007) davon ausgehen, dass „die Struktur des Gehirns das Lesen möglich machte und die Struktur des Lesens das Gehirn auf vielfache, entscheidende und noch immer sich entwickelnde Weise veränderte“.
Eine dritte Annahme, die sog. Panksepp-Jakobson-Hypothese (Jacobs & Schrott, 2013; Jacobs et al., 2015), fußt auf der Überlegung, dass die Evolution keine Zeit hatte, eigens für Kunstrezeption oder gar Literatur spezifische Emotionsschaltkreise und „Genusszentren“ zu entwickeln. Vielmehr spricht vieles dafür, dass die beim Lesen entstehenden Gefühle, egal ob „stellvertretende Angst“ (um den Protagonisten) oder ästhetische Lust an einer schönen Metapher (d. h. Jakobsons berühmte poetische Funktion der Sprache), auf den uralten Affektschaltkreisen beruhen, die wir mit allen Säugetieren teilen (sog. limbisches System), wie der Neurowissenschaftler Jaak Panksepp (1998) gezeigt hat.
Auf der neuronalen Beschreibungsebene demonstriert die Mehrheit der Studien zunächst, dass flüssiges Lesen primär das Lesesystem der linken Hirnhälfte, insbesondere die „schnelle“ untere (ventrale) Route, rekrutiert. Bei normal entwickelten, guten Lesern umfasst dieses System große Teile der linken Hemisphäre und kann grob in drei Regionen gegliedert werden. Eine aus zwei Netzwerken bestehende hintere Region im Scheitel- und Schläfenlappen des Gehirns und eine vordere Region im Stirnlappen. Die von den visuellen Arealen über die unteren und mittleren temporalen bis hin zu den frontalen Arealen verlaufende untere Route beinhaltet das Visuelle Wortform-Areal, das mit hochautomatisiertem flüssigem Lesen assoziiert ist. Der vordere Teil umfasst den unteren Frontalgyrus, der eine besondere Rolle bei der phonologisch- artikulatorischen Rekodierung von Wörtern zu spielen scheint. Der obere (dorsale), von den visuellen Arealen in der Sehrinde über die oberen Bereiche im Schläfenlappen und die unteren im Scheitellappen bis hin zu den frontalen Arealen laufende Leseschaltkreis ist mit der relativ langsamen, regelbasierten und aufmerksamkeitsintensiven Dekodierung weniger vertrauter Wörter assoziiert.
Das effiziente Dekodieren geschriebener Informationen durch dieses schnelle linkshemisphärische Lesesystem bildet die Voraussetzung dafür, dass komplexe Inferenz-, Interpretations- und Verständnisprozesse, die eine bilaterale Hirnaktivierung benötigen, zum Zuge kommen können. Maryanne Wolf bringt dies überzeugend auf den Punkt:
„Wenn die Entzifferungsprozesse nahezu automatisch ablaufen, lernt das Gehirn, mit jeder hinzugewonnenen Millisekunde mehr metaphorische, folgernde, analogische, affektive Hintergrundinformationen und Erfahrungswissen zu integrieren. Zum ersten Mal in der Leseentwicklung arbeitet das Gehirn so schnell, dass es Denken und Fühlen trennen kann. Dieses Zeitgeschenk ist die physiologische Grundlage für unsere Fähigkeit, eine endlose Reihe immer vollkommenerer Gedanken hervorzubringen. Es gibt beim Lesen nichts, was wichtiger wäre.“
Für die erwähnte Iser’sche Sinngestaltergänzung scheint ein Bereich im vorderen Schläfenlappen wichtig zu sein: Da dieser multimodale Assoziationsareale enthält, ist es wahrscheinlich, dass durch diese Region semantische, syntaktische und episodische Informationsquellen integriert werden, um den Textinput in bedeutungstragende Repräsentationen umzuwandeln. Die sparsamste Annahme ist, dass der vordere rechte Schläfenlappen Propositionalisierung vollzieht: er übersetzt Worte vermutlich in größere semantische Inhaltseinheiten, die den Iser’schen Sinngestalten entsprechen könnten.
Wie das Gehirn sich einfache Sinngestalten erarbeitet, haben wir im Magnetresonanztomographen (scanner) des D.I.N.E. anhand von sog. Einwortmetaphern untersucht, d. h. Komposita, die aus zwei Nomen ein Wort machen (Nomen-Nomen Komposita/NNK) und auf den beiden Dimensionen Vertrautheit (bekannt vs. unbekannt) und Bildhaftigkeit (wörtlich vs. metaphorisch) manipuliert waren. Handschuh oder Angsthase sind typische Beispiele für vertraute Einwortmetaphern, die auch als „tote“ oder „schlafende“ Metaphern bezeichnet werden, um der Vermutung Ausdruck zu geben, dass diese Wörter in der Regel nicht „bildhaft“ wahrgenommen und gebraucht werden, sondern „wörtlich“. Das Deutsche erlaubt nun praktisch unbegrenzt mit solchen NNKs „Klang- und Bildspiele“ zu betreiben: „Schattenratten“, „Ideenhagel“ oder „Seelenfarben“ sind nur ein paar Beispiele aus unserer Studie (Forgacs et al., 2012). „Campingpeitsche“, „Dachhase“ oder „Rasenküsser“ sind Beispiele, deren Bedeutung man dem Jugendsprachlexikon entnehmen kann. Die NNKs aus unserer Studie waren in vier Gruppen eingeteilt: konventionelle Metaphern (KM) wie „Flughafen“ oder „Rampensau“; konventionelle, „wörtliche“ NNKs wie „Lehrjahr“ oder „Reisepass“ (KW); neue Metaphern wie „Neidfieber“ oder „Mensakoma“ (NM) und schließlich neue, „wörtliche“ NNKs wie „Stahlhemd“ oder „Sofaladen“ (NW). Mit neuesten computerlinguistischen Methoden wurden dabei die semantischen Beziehungen zwischen den beiden Worten jedes NNKs mittels eines Algorithmus, der hochdimensionale semantische Distanzen berechnet, konstant gehalten, um zu verhindern, dass mögliche Effekte der „Metaphorizität“ mit solchen der semantischen Relatiertheit konfundiert werden. In einer Hirnregion, die systematisch mit Sprachverarbeitung und Bedeutungskonstruktion in Verbindung gebracht wird, dem linken unteren Frontalgyrus (LUFG), zeigten sich klare Unterschiede zwischen den Gruppen, die eine Rangreihe der graduellen semantischen Verarbeitung und Sinngestalt-Konstruktion anzeigt: NMs > NW > KM > KWs. Wie die Autoren vermutet hatten, spiegelt die Aktivität im LUFG die relative „neuronale Arbeit“ wider, die benötigt wird, um die Bedeutung der NNKs zu berechnen: je neuer, ungewöhnlicher und bildhafter ein NNK, desto mehr semantischer Integrationsaufwand muss betrieben werden, um eine Bedeutungsgestalt zu konstruieren. Das Gehirn hat es dabei offenbar einfacher mit Wörtern wie Reisepass als mit Neologismen wie Mensakoma.
Für die bei komplexeren, teilweise über mehrere Sätze oder Paragraphen reichende Konstruktion von Sinngestalten höherer Ordnung zentrale Kohärenzbildung und logische Überprüfung beim Lesen scheinen außerdem der obere seitliche (dorsolaterale) präfrontale Kortex und der hintere sog. cinguläre Kortex wichtig zu sein sowie der Übergang vom Scheitel- zum Schläfenlappen (die sog. temporo-parietal junction/TPJ). All diese Regionen spielen auch bei der Empathie und theory of mind eine Rolle, jener Fähigkeit, eine Annahme über Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzunehmen, diese in der eigenen Person wiederzuerkennen und Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten.
Neben Symbolverankerung, neuronaler Neuprägung und den gerade erwähnten neuronalen Prozessen spielen jedoch noch eine Reihe anderer Faktoren eine Rolle bei der Immersion, die ja auch ein genre-abhängiges Phänomen ist, z. B. Interesse, Neugier, Überraschung, Spannung, Vergnügen und ästhetische Vorgänge (s. dazu Jacobs, 2011).
NEUROWISSENSCHAFTLICHE STUDIEN ZUM IMMERSIONSPOTENZIAL
Das Immersionspotenzial einer Text-Leser Begegnung hängt von Texteigenschaften ebenso ab wie von Lesermerkmalen. Setting (räumliche Aspekte), plot (zeitliche Aspekte) und Emotionen der Charaktere, die eine Geschichte füllen, treffen beim Begriff des Immersionspotenzials also auf Persönlichkeitsfaktoren, welche bestimmen, ob eine Leserin sich dank eines hohen bildhaften Vorstellungsvermögens gut räumlich in das setting hineinversetzen kann, ob ein anderer Leser vielleicht eher am plot, d. h. an den Handlungssträngen und der Frage, was passiert als nächstes, interessiert ist oder wie gut jemand sich mit den Protagonisten identifizieren, in ihre Innenwelt (Gedanken, Gefühle, Absichten) einfühlen und an ihren emotionalen Konflikten Anteil nehmen kann (Empathie). Diese drei Aspekte der Immersion, räumlich, zeitlich und emotional (vgl. Ryan, 2001) sind auch wichtige Bestandteile mentaler Situationsmodelle. Ein immersiver Text, so unsere These, bietet dem Leser ein hohes Potenzial an (bekannten) Situationsmodellen an, die zu seinen während der individuellen Lerngeschichte etablierten kognitiv-affektiven Schemata passen und ihm ein flüssiges Lesen innerhalb einer „vertrauten Textwelt“ erlauben. Solche mentalen Skripte sind dynamische beim Lesen automatisch-implizit gebildete, fünf-dimensionale Repräsentationen, die räumliche, zeitliche, kausale, motivational/intentionale und personen/objektbezogene Informationen umfassen. Sie arbeiten die Frage nach dem Wo, Wann, Warum/Wie, Wer und Was einzelner Ereignisse auf und stellen verkörperte Kognitionen dar, gestützt auf psychosomatische Erfahrungen und die automatisch mit Wörtern assoziierten sensomotorischen, kinästhetischen und affektiven Empfindungen. Immersives Lesen involviert somit die Konstruktion einer Abfolge von Situationsmodellen, die umso enger zusammenhängen, je stärker die fünf erwähnten Dimensionen sich überlappen. Ergibt sich ein Bruch in einer Dimension – beispielsweise wenn der Protagonist den Ort wechselt –, wird das Situationsmodell jedes Mal wieder aktualisiert (vgl. Jacobs, 2011; Zwaan, 1993).
Ein immersiver Text muss nun mit den Situationsmodellen der Leserin spielen, um immersionsfördernde Neugier zu wecken, Überraschung zu erzeugen und Spannung anzuregen (Brewer & Lichtenstein, 1982), beispielweise durch unerwartete Brüche in einer oder mehreren der fünf Dimensionen. Im D.I.N.E. haben wir dies beim Lesen der sog. black stories untersucht, einer Sammlung von makabren Kurzgeschichten, deren Protagonisten in Bedrängnis und Notlagen geraten und am Ende meist sterben, wie im folgenden Beispiel:
„Ein Mann war Landwirt und fuhr seinen Mähdrescher in das Maisfeld, in dem seine Kinder Verstecken spielten. Als die Maschine stockte, stieg er aus, um nachzusehen, wo der Fehler lag. Als er erkannte, dass er seine Kinder überfahren hatte, nahm er sich das Leben.“
Unsere Hypothese war, dass die Empathie für Protagonisten einer Geschichte und die damit verbundene emotionale Immersion (die sog. Fiktionsgefühle) größer für Geschichten mit starken negativen Inhalten ist als für Kontrollgeschichten mit neutralen (unemotionalen) Inhalten. Die Befunde stützen diese These und zeigen, dass ein ganzes Netzwerk von Hirnregionen aktiv ist (mit dem medialen Präfrontalkortex als Zentrum), wenn Leserinnen Empathie und Fiktionsgefühle erleben (Altmann et al., 2012). Diese spezifische Hirnaktivität war dabei von der Empathiefähigkeit der Probanden abhängig, die mit einer psychologischen Skala gemessen wurde. Um die Kippschaltertheorie fiktionalen Lesens zu testen wurde der Hälfte der Probandinnen vor dem Lesen der Geschichten erzählt, es handle sich dabei um pure Fiktion, die andere Hälfte wurde glauben gemacht, es handle sich um Fakten (Zeitungsberichte). Die Kippschaltertheorie von Gerrig besagt, dass die Coleridge’sche These der willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit (willing suspension of disbelief) bei der Kunstrezeption eine Illusion ist. „Kippe den Schalter, der Ungläubigkeit aussetzt, wenn du Fiktion liest, und kipp ihn wieder um, wenn du Fakten liest“ wäre demnach für unser Gehirn keine Option. Tatsächlich fanden wir jedoch deutliche Unterschiede in den Hirnaktivitäten beider Gruppen: in der „Faktgruppe“ indizierten die Hirnaktivitätsmuster, dass der Geist im Gehirn eine handlungsbezogene Rekonstruktion der geschilderten Ereignisse probiert, während in der „Fiktionsgruppe“ primär Netzwerke aktiv waren, die mit Fantasieren und der mentalen Simulation zukünftiger Ereignisse assoziiert sind. Da die Probanden sich dieser Aktivitäten weder bewusst waren, noch angaben, sie willentlich herbeigeführt zu haben, und die Fiktionsgefühle sich zudem nicht zwischen den Gruppen unterschieden, sprechen die Befunde zumindest nicht direkt für die Coleridge’sche These. Sie sprechen aber für Oatleys Satz (1999), dass „Fiktion wahrer sein könnte als Fakt“, weil die mentalen Simulationsvorgänge, die fiktionale Literatur erfordert, Individuen ein tieferes Verständnis ihrer eigenen Emotionen ermöglicht (vgl. Green et al., 2012).
Die literarische Erzeugung von Fiktionsgefühlen haben wir im D.I.N.E auch beim Lesen von Textabschnitten aus den Harry Potter Romanen untersucht (Hsu et al., 2014). Die subjektiv berichtete Immersion der Leserinnen war am höchsten in Abschnitten, die durch Beschreibungen von Schmerz bzw. emotionalem Stress der Protagonisten Angst erregten. Dabei war eine Hirnregion im mittleren cingulären Kortex spezifisch aktiv, die bei körperlichem und psychischem Schmerzempfinden eine zentrale Rolle spielt und mit den motorischen Komponenten affektiver Einfühlung in Verbindung gebracht wird (Craig, 2009). Ein Vergleich der Hirnaktivitäten beim Lesen deutschsprachiger Abschnitte mit dem der englischen Originale (bei zweisprachigen Probanden) ergab, dass Fiktionsgefühle in der Muttersprache nicht nur intensiver, sondern neuronal auch differenzierter zu sein scheinen (Hsu et al., 2015a). Die Rolle von Überraschung und Lesevergnügen bei der Immersion überprüften wir in der gleichen Studie anhand von Textabschnitten, die magische, weltwissenverletzende Inhalte aufwiesen. Schilderungen übernatürlicher Ereignisse aktivierten dabei vor allem Teile der Mandelkerne des Gehirns, die systematisch mit der Entdeckung auffälliger, emotional relevanter Umweltaspekte in Zusammenhang gebracht werden und hier vermutlich mit dem Neuheitswert, dem Überraschungsmoment und dem daraus resultierenden Lesevergnügen korrelierten (Hsu et al., 2015b).
Empathie und emotionale Immersion hängen zusammen mit einem weiteren immersionsfördernden Faktor; der Spannung. Wir haben dies bei Lesern von E.T.A. Hoffmanns Sandmann untersucht. Subjektiv korreliert das Gefühl der Immersion stark mit dem der Spannung (hohe statistische Korrelationskoeffizienten), welches weiterhin noch mit dem subjektiven Erregungsgrad korreliert (Jacobs, 2015). Die Herzrate steigt bei spannend-immersiven Textpassagen an (Auracher, 2007), was auch am plot liegt, genauer gesagt an der Dichte der Handlungen pro Textabschnitt, geschätzt über die Anzahl der Verben (Jacobs & Schrott, 2013). Neuronale Aktivierungen in bestimmten Hirnarealen (medial-präfrontal, inferior-frontal, und posterior-temporal) legen weiterhin einen Einfluss von Prozessen der Empathie und der Prädiktion zukünftiger Ereignisse während des Lesens spannender Textabschnitte nahe (Lehne et al., 2015). Auch zumindest einer der fünf Schlüsselfaktoren aktueller Persönlichkeitstheorien, die Gewissenhaftigkeit, hängt mit Spannung und Immersion zusammen und wirkt vermutlich indirekt über das Konzentrationsvermögen (Jacobs & Schrott, 2013).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine steigende Anzahl neurowissenschaftlicher Studien, die sich mit dem Phänomen der Immersion befasst haben, unsere drei obigen Hypothesen (Symbolverankerung, neuronale Neuprägung, Panksepp-Jakobson) weitgehend stützen. Ganz im Sinne von Freud oder Bühler, denen das Methodenrepertoire des D.I.N.E. leider noch nicht zur Verfügung stand, unterstützen die Neurowissenschaften alle drei Hypothesen und machen plausibel, weshalb literarisches Lesen auch eine sinnliche und emotionale Erfahrung ist und zu einer Art von siebtem Sinn werden kann, der sich aus den sensorischen Erfahrungen des Seh- und Hörsinns, den affektiven Empfindungen des limbischen Systems sowie unzähliger Erinnerungsbilder speist.
GENREEFFEKTE UND SUBLEXIKALISCHE FAKTOREN
Es wird oft argumentiert, dass im Gegensatz zu Romanen, Dichtung oder zur (Selbst-)Reflexion anregende Literatur keine oder kaum immersive Phänomene produziert (Ryan, 2001). Anhand von sog. Stimmungsgedichten aus dem von Meyer-Sickendieck (2011) zusammengestellten Korpus mit Gedichten von Möricke, Stramm oder Becker und Motiven wie „Stadt“, „Raum“, „Morgen“ oder „Stille“ haben wir diese These empirisch überprüft (Lüdtke, 2013; Lüdtke et al., 2013). Es zeigte sich, dass nicht nur bei „romantischen“, sondern auch bei “abstrakten” Gedichten der (Post-)Moderne subjektiv durchaus eine Stimmungseinfühlung und emotionale Involviertheit, beides wichtige Aspekte von Immersion, stattfand, wenn die Gedichte vertraute Phänomene, Erlebnisse, Situationen, Stimmungen und Atmosphären beschrieben. Dies spricht für Max Kommerells (1985) Satz: „In ihr war der Dichter gestimmt, ist das Gedicht gestimmt und wird der Leser gestimmt“. Man kann also spekulieren, dass Gedichte, die – wenn auch subtil - vertraute Situationsmodelle ansprechen und der Leserin die mentale Simulation der Gedichtwelt und Einfühlung in ihre Stimmung/Atmosphäre erleichtern, durchaus Immersionspotenzial aufweisen. Zusätzlich dürfte wichtig sein, in welcher Ausgangsstimmung sich Leser befinden und wie gut diese zu derjenigen des Gedichts bzw. seinem affektiven Grundton (dazu unten mehr) passt (Hypothese des mood management).
Gedichtrezeption kann durchaus ein spielerischer, mit der Rezeption von Musik und Malerei verwandter, angenehmer und konzentrierter Vorgang sein, der Leser in eine künstliche Welt transportieren und damit durch teilweise oder völlige Absorption die Umwelt vergessen lassen kann. Diese Immersion kann der Dichter dadurch fördern, dass er in seinen Versen endogene Gehirnrhythmen poetisch nachahmt, was wir an anderer Stelle so beschreiben:
„Dadurch, dass ein idealtypischer Vers mit seinen 3-Sekunden-Perioden das Zeitfenster besetzt, in dem wir unsere audio-temporale Gegenwart wahrnehmen, schafft er jenen artifiziellen psychischen Raum, in dem wir uns – abgehoben von allem – ausschließlich auf das Gedicht konzentrieren können. Und dies wiederum führt zu jener angenehmen, ganz und gar nicht gesundheitsschädlichen Nebenwirkung, die das Hören und Lesen von Gedichten erzeugt: Emily Dickinson wie Robert Graves haben erzählt, wie es ihnen dabei heiß und kalt den Rücken herunterläuft und sie eine Gänsehaut bekommen; die Muskeln entspannen sich, während der Geist sich fokussieren und konzentrieren kann; man ist dem Lachen und dem Weinen näher, holt tiefer Luft, und ein leichtes Gefühl der Trunkenheit macht sich breit – Raymond Roussel verglich es mit einem nüchteren Rausch und Coleridge mit dem Effekt, den ein paar Gläser Schnaps bei einer Konversation haben ...“ (Schrott & Jacobs, 2011)
Dichtung wirkt also nicht nur auf der lexikalischen und supralexikalischen Ebene von Worten und Versen, sondern zeitigt auch subtile sublexikalische Effekte, die sowohl von Metrum, Reim und Rhythmus als auch von affektiver phonologischer Ikonizität abhängen.
Welchen Effekt folgendes Busch-Couplet auf Sie hat, liebe Leserin, können wir nur vermuten:
„Oft ist das Denken schwer, indes
das Schreiben geht auch ohne es.“
Der typische Leser sollte jedenfalls einer empirischen Studie von Menninghaus et al. (2014) zufolge diese beiden Zeilen lustig finden; ein Humor-Effekt, der nicht aufgrund semantischer Inkongruenzen zustande kommt, sondern von Reim und Metrum getragen wird. Dies wird klar, wenn man das Couplet formal, aber nicht semantisch verfremdet, indem man entweder den Reim zerstört („Oft ist das Denken schwer, jedoch / das Schreiben geht auch ohne es“) oder das Metrum (“Oft ist das Denken schwierig, indes / das Schreiben geht auch ohne es”). Die Probanden in der Studie von Menninghaus et al. (2014) fanden nämlich die verfremdeten Varianten gar nicht so lustig wie die Originale. Der „Genuss“ geht verloren. Wir erklären diesen Genuss damit, dass die neuronalen Reizmuster, die ein Wort beim Lesen eines Verses aktiviert hat, in Form einer Lautgestalt noch eine Weile nachglühen und mental – wenn auch unterschwellig – in Bereitschaft bleiben, während das nächste Wort bereits sein eigenes neuronales Muster ausgelöst hat. Selbst wenn das erste Wort bereits konzeptionalisiert ist – und schon das Lesen des dritten Wortes im Gange ist – bleibt das Reizmuster des ersten Wortes noch präsent. Dichter machen sich diese gleitenden Übergänge zunutze, indem sie Verse bilden, deren Buchstabenfolgen sich wiederholen, was sie gestützt durch Metrum und Rhythmus leichter memorierbar und mitteilbar macht. Da sie die residual noch vorhandenen Reizmuster ausnützen, sind sie weniger arbeitsaufwendig. Dies betrifft nicht nur Gleichklänge innerhalb eines Verses, sondern auch die Alliteration von Wortanfängen. Gerade die Mühelosigkeit, mit der sich reimende Zeilen aussprechen lassen, macht ihren Genuss aus – sie gehen einem ebenso leicht von der Zunge, wie sie sich einem einprägen (Schrott & Jacobs, 2011).
Neben Metrum, Reim und Rhythmus spielen Dichter auch mehr oder weniger lautmalerisch mit der phonologischen Ikonizität ihrer Worte, was den affektiven Grundton und die daraus resultierende emotionale Gesamtstimmung bei der Rezeption eines Gedichtes beeinflussen kann. Wir haben dies sowohl textanalytisch mithilfe des sog. EMOPHON-Programms (Aryani et al., 2013) als auch psychometrisch anhand von Ratingskalen beim Lesen von Enzensbergers (1957) „verteidigung der wölfe“ untersucht. Dies bot sich deswegen an, weil der Dichterfürst selbst ja bereits eine intuitive Einteilung seiner 57 Gedichte in freundliche, traurige und böse unternommen hatte. Mithilfe von EMOPHON, das die phonologische Salienz (d. h. das überzufällig häufige Vorkommen bestimmter Phoneme in beliebigen Texten) quantifiziert und einer standardisierten Wortdatenbank, die u. a. die Quantifizierung affektiver Merkmale von Phonemen, Silben und Wörtern ermöglicht (Jacobs et al., 2015; Võ et al., 2006; 2009), fanden wir heraus, dass bis zu 20 Prozent der Varianz in den emotionalen Urteilen der Probanden über die Gedichte aufgrund des mit EMOPHON berechneten affektiven Grundtons erklärt werden können. Diese präattentiven, vermeintlich unbewussten Effekte stützen damit diejenigen auf Wort- und Versebene, wobei offen bleibt, ob dies vom Dichter selbst so beabsichtigt war.
FORSCHUNGSFRAGEN
Abschließend möchten wir noch auf spannende Forschungsfragen und methodische Herausforderungen der Textimmersionsforschung eingehen, die allgemein die notwendigen und hinreichenden Bedingungen immersiver Erlebnisse und deren Messung betreffen. Angesichts der Digitalisierung der Lesewelt und der großen Bedeutung von Immersion stellt sich drängend die Frage, ob - und wenn ja wie - immersive Phänomene vom Lesemedium abhängen und beispielweise die Benutzung von fiktion.cc-READER die Immersion in Texte hemmt oder fördert (private Studie gemeinsam mit Ingo Niermann und Mathias Gatza). Im Rahmen des Forschungsprogramms E-READ der EU (COST Action IS1404 EVOLUTION OF READING IN THE AGE OF DIGITISATION) geht der Erstautor dieser Frage auch im großen internationalen Verbund nach. Darüber hinaus ist interessant zu fragen, wo und wann Immersion am stärksten ist und inwiefern sich Hörbuch, gesungene oder gesprochene Lyrik, analoges und digitales Buch, leises vs. lautes Lesen grundsätzlich oder nur graduell unterscheiden von Film, Musik, Gemälde, oder Bildhauerei? Erste Befragungsdaten weisen darauf hin, dass das Buch mit weitem Abstand für das immersivste Medium gehalten wird gefolgt von Film und Musik (Hakemulder, 2013). Aus Hakemulders Studie geht auch hervor, dass die Befragten glaubten, dies läge in erster Linie an gelungenen, einfühlungsrelevanten Schilderungen der inneren Welt der Protagonisten und erst danach an plot-bezogenen Neugier-, Überraschungs-, und Spannungseffekten.
Auch die Frage, ob Immersion in fiktive Texte genauso abläuft und stark ist wie bei faktischen, ist noch weitgehend offen (Altmann et al., 2012; Green et al., 2012) wie die nach der Genreabhängigkeit (z. B. Roman vs. Gedicht). Einer Pionierstudie von Zeman et al. (2013) zufolge, die als erste Prosa- und Poesierezeption im scanner verglichen, aktivieren Prosa und Poesie mehr gemeinsame neuronale Netzwerke als getrennte. Zu letzteren gehören bei der Poesierezeption insbesondere Regionen, die mit theory of mind und mentaler Simulation der Zukunft assoziiert sind, wie der rechte Schläfenpol und der bereits erwähnte vordere rechte Schläfenlappen, der mit Propositionalisierung in Verbindung gebracht wird. Interessanterweise wurde der rechte Schläfenpol auch in einer Studie der Universität Greifswald als mögliches neuronales Korrelat des kreativen Schreibens entdeckt (Shah et al., 2012).
Bekannterweise wehrten Dichter wie Brecht Empathie- und Immersionseffekte auch zur Steigerung des „kritischen Nachdenkens“ ja mit Mitteln der Verfremdung ab und trotz der oben erwähnten Stimmungseinfühlung besteht kaum Zweifel daran, dass Zeilen wie „Schwarze Milch der Frühe, wir trinken sie abends” verfremdend wirken und u. a. die Anpassung liebgewonnener Denkschemata und mentaler Affektskripte sowie (selbst-)reflexive Prozesse auslösen, welche theoretisch –wenn überhaupt - nur den schwächsten der vier Ryan’schen Intensitätsgrade der Immersion (Konzentration) erreichen. Wir diskutieren Verfremdungseffekte beim Lesen in Gehirn und Gedicht (Schrott & Jacobs, 2011) unter dem Stichwort foregrounding (van Peer, 1986), d. h. dem gezielten Einsatz von rhetorisch-poetischen Stilmitteln wie dem Oxymoron aus Celans erster Zeile der Todesfuge. Ob sich Immersions- und Verfremdungseffekte gegenseitig ausschließen oder miteinander interagieren, ist für uns vor allem eine empirische Frage, die sich mit Methoden der empirischen Literaturwissenschaft, der experimentellen Psychologie und der kognitiven Neurowissenschaft trotz der im folgenden aufgeführten methodischen Probleme zukünftig wohl klären lassen wird.
Letztlich ist offen, inwieweit Immersion selbst innerhalb eines Mediums wie dem analogen Buch überhaupt ein einheitliches Phänomen ist. Die Dreiteilung in räumliche, zeitliche und emotionale Immersion ist eine rein theoretische, welche bisher noch nicht experimentell untersucht wurde (Ryan, 2001). Auch lässt sie offen, ob alle drei Komponenten gleich oder ungleich notwendig bzw. hinreichend für Immersion sind, ob sie interagieren und wie sie von Persönlichkeitsfaktoren wie dem Empathie- oder Gewissenhaftigkeitsscore, der Neugier oder dem räumlichen Vorstellungsvermögen abhängen.
Ein generelles methodisches Problem bei der Messung der Immersion besteht darin, dass während des Leseaktes selbst eigentlich keine Selbstberichtsdaten erhoben werden können, um nicht die immersiven Prozesse zu stören bzw. unmöglich zu machen. Immersion kann präattentiv sein bzw. – im Falle völliger Absorption - sogar Bewusstheit des Zustands ausschließen. Im Moment, wo Probanden merken und berichten, sie seien immersiert, sind sie es ja nicht mehr (Hakemulder, 2013). Eine an den Leseakt anschließende, auf Immersionsskalen gestützte nachträgliche Einschätzung der „Immersivität“ ganzer Texte oder Passagen repräsentiert wegen möglicher Gedächtniseffekte aber kein reines Maß. Durch simultane Erhebung von Daten zur Persönlichkeit, subjektiven Spannung, Vertrautheit, Valenz, Erregungsgrad und Aktionsdichte der Inhalte, d. h. theoretisch mit Immersion verbundener Konstrukte, können diese „unreinen“ Maße jedoch „kreuzvalidiert“ werden.
Weiterhin können Antworten auf Fragen nach möglichen Ursachen immersiver Zustände durch persönliche Theorien dazu verfälscht sein. Die subjektiven Methoden der empirischen Literaturwissenschaft bedürfen deshalb der Ergänzung durch objektivere Messmethoden, die wir im D.I.N.E. verwenden (z. B. Okulo- und Pupillometrie, peripherphysiologische Messungen von Herzrate, Hautleitwiderstand oder „Sorgenmuskelaktivität“, Elektroenzephalographie oder funktionelle Magnetresonanztomografie). Diese sind jedoch nicht nur aufwändig und liefern trotz gegenläufiger Meinungen lediglich korrelative und keine kausalen Informationen (Jacobs, 2006b), sondern es fehlt auch an einer eindeutigen Zuordnung bestimmter Messgrößen zu immersiven Zuständen. Mit anderen Worten, es gibt keinen Biomarker der Immersion, auch wenn erste Befunde aus dem D.I.N.E. bestimmte Hirnregionen als Kandidaten für neuronale Korrelate bestimmter immersiver Prozesse entdeckt haben, z. B. den erwähnten mittleren cingulären Kortex (Hsu et al., 2014). Auf der anderen Seite sind neuronale Korrelate von Aufmerksamkeitsprozessen (frontoparietales Netzwerk), räumlicher Vorstellung (sog. parahippokampales Ortsareal), theory of mind (TPJ), emotionaler Involvierung (sog. limbisches System), Überraschung (Mandelkerne), Spannung (dorsolateraler PFC), alles theoretisch wichtige Komponenten der Immersion, relativ gut bekannt und können als „objektive“ Hinweise für immersive Prozesse dienen, z. B. indem man die Probandinnen zuerst im scanner einen Text lesen und im Nachhinein diejenigen Stellen markieren lässt, die sie für besonders immersiv, spannend, poetisch usw. halten (Speer et al., 2007). Entspricht die genau mit diesen Textstellen zeitlich korrespondierende Hirnaktivität einem oder mehreren der oben genannten „Korrelate“, so wäre dies Evidenz für immersive Prozesse.
Diese werden wohl auch in Zukunft - analog wie digital - und egal ob mit oder ohne mentalen Kippschalter Menschen im Kopfkino des Lesens fesseln und ihnen von Madeleine-Effekten bis hin zu Don Quichote-Syndromen ein unheimlich breites Spektrum an Vergnügungsoptionen bieten, die weder Film noch Musik leisten können.
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Die Fiktion-Leseanwendung scrollt von selbst. Von unten, aus der Tiefe einer unsichtbaren Quelle unter dem Bildschirmrand, strömt Text auf uns zu. Wir schwimmen, lesen, um nicht über die obere Kante getrieben zu werden, dürfen uns nicht mitreißen lassen vom Textstrom nach draußen, sondern müssen seiner Herr werden, ein Gleichgewicht herstellen, über Wasser bleiben. Die unsichtbare Quelle unter dem Bildschirm produziert, im Zeitsystem des Textes, Zukunft: Die Zukunft-im-Text ist in unserem Schriftsystem rechts, bis zum Zeilenende, dann unten, dann rechts oben bei einem geblätterten Text, unten bei einem gescrollten.
Kürzlich machte eine Idee mit dem für hiesige Ohren etwas albernen Namen „Spritz“ in den sozialen Medien Furore: Spritz ist eine Leseanwendung, die nicht einmal mehr scrollt, sondern die Leserin mit Text anblitzt, Wort für Wort, jeder Augenbewegung zuvorkommend, in rasendem Tempo, ohne ihr eine Chance auf Abschweifungen, Pausen oder Rückkehr zu verpasstem Kontext zu lassen. Nun sind Schnelllesetechniken schon immer Lösungen für ein Problem gewesen, das sich bei näherem Hinsehen selbst für Effizienzorientierte als falsch gestellt entpuppt hat, weil die komplementären Schnelldenktechniken nicht ganz so einfach zu entwickeln sind, aber die Idee der Druckbetankung mit Text scheint zunächst einmal große Begeisterung ausgelöst zu haben.
Was machen diese Leseanwendungen mit uns? Wir haben sofort eine offensichtliche Idee, einen Vulgär-McLuhanismus: Die Zeiten, in denen wir die Text-Zukunft aus Texten selbst abriefen, im Tempo unseres beim Lesen schweifenden Denkens, sind vorbei. Diese neuen Leseanwendungen stopfen, mit dem Eigensinn der Technik und im Tempo der Technik, Zukunft in uns hinein. Was wir wirklich lesen, wenn wir so lesen, sagt der Vulgär-McLuhanismus, ist dies: dass Widerstand gegen die Zukunft, die aus einer dunklen Quelle kommt und schon geschrieben ist, zwecklos ist.
Selbst wenn wir den McLuhanismus meiden, bleiben selbstscrollende Leseanwendungen und Spritz zumindest Metaphern für die unaufhaltsam fortschreitende, tiefgehende Transformation der Kulturtechnik „Lesen“ durch Technologie.
Oder so scheint es. Denn was Buchkonservative gern übersehen, ist, dass sie beim Lesen das Objekt, das sie in ihren Händen halten, ihren leinengebundenen Fetisch, vollständig vergessen. Auch das Gehirn der Buchkonservativen interessiert sich nicht für Bücher: Es schaltet beim ungestörten Lesen in einen sehr bemerkenswerten Sondermodus. Die neurowissenschaftliche Folklore erzählt von mehreren hundert Megabyte Input, die über die Sensoren pro Sekunde auf das Gehirn einstürmen und die zum größten Teil als irrelevant weggefiltert werden, keine Aufmerksamkeit bekommen und nicht ins Bewusstsein gelangen. Im Immersionsmodus, beim versunkenen Lesen also, treibt das Gehirn diese Datenauswahl zum Äußersten: Aus den hunderten von Megabyte Sinnesdaten erreicht nur ein dünner Strom von Glyphen das Bewusstsein – ein lateinischer Buchstabe lässt sich in einem einzigen Byte codieren. Mit diesen Symbolen ruft das Gehirn alte Sinnesdaten auf und baut daraus, auf einer inneren Bühne, neue Situationen, die die volle Aufmerksamkeit der Leserin bekommen. Mit Ausnahme einiger im Hintergrund aufrechterhaltener Alarmsysteme ist die Leserin mit all ihren kognitiven Ressourcen auf eine synthetische Welt fokussiert, aus dürren Symbolen und alten Mannigfaltigkeiten erzeugt: Literatur biegt den Geist auf sich selbst zurück, wenn die Bedingungen für Immersion gegeben sind.
Als 2010 offensichtlich wurde, dass in naher Zukunft auch Romanliteratur auf digitalen Lesesystemen gelesen werden würde, und nicht nur von einer marginalen Gruppe von Technikfanatikern, entstand die buchkonservative Figur vom Buch als Bollwerk gegen die schnelle digitale Welt: Abends, mit einem guten Buch und, immer mit einem selbstverständlich ebenfalls guten Glas Rotwein, sollte man sich in einen Lesesessel zurücklehnen und die Haptik des Buches genießen, seinen besonderen Duft, und dem Geräusch des Papiers lauschen. Hier bei uns, bei den Büchern, lautete die Nachricht, bist du sicher vor der bedrohlichen Zukunft. Hier kannst du, vom Tagwerk schon weichgekocht und leicht alkoholisiert, am Leim schnüffeln und Papier befingern. Die Zukunft kann dir gar nichts mehr.
Falls es stimmt, dass die alte Unterscheidung zwischen Fiction und Science Fiction nicht mehr taugt und man – in Anerkennung der Verhältnisse – inzwischen besser von Fiction und Denial Fiction sprechen sollte, kann man sich leicht denken, welche Sorte Gute Bücher sich die Buchkonservativen da vorstellten, die in den zu Bollwerken ausgebauten Lesesesseln gelesen werden sollten.
Wer liest, weiß, dass nichts von alldem eine Rolle spielt. Der Kult des Wohlfühlens-mit-Buch, so albern er manchmal sein mag und so sympathisch er fast immer ist, hat mit Lesen nichts zu tun. Die Immersion gewinnt gegen das Glas Rotwein und den Leimgeruch. Immersion gewinnt gegen eine nasskalt durch den Feierabendverkehr eines Novemberabends ruckelnde Straßenbahn voller schleimhustender Fieslinge. Immersion gewinnt, in den ersten Jahren der Sucht, in der die Droge knallt wie später nie wieder, gegen die Angewohnheit von Eltern, zu früh das Licht auszumachen. Von der Umgebung, und dazu gehört das Lesesystem, digital oder nicht, verlangt die wirkliche Leserin nur eins: der Immersion nicht im Weg zu stehen.
Texte in der Immersionsschleife rufen mit Symbolen Daten auf die innere Bühne. Prosa und Poesie rufen nicht irgendwelche Abstrakta, sondern Sinnesdaten auf, die mit unseren Begierden verknüpft oder verknüpfbar sind, und sie bekommen auf dieser inneren Bühne der Immersion so viel Aufmerksamkeit, wie sie in der Welt niemals bekommen könnten: Gute Prosatexte sind Maschinen zur Erzeugung von Intensität. Wenn der Text gut ist, der aus der Quelle seiner inneren Zeit unter dem Bildschirmrand auf uns zuströmt oder aus den Seiten hinter der aufgeschlagenen, enthält er Dinge, die wir begehren werden.
Im Jahr 2008 machte ein kleines Team der gerade erst gegründeten Berliner Firma txtr eine Rundreise durch Deutschland und besuchte Städte wie Poing oder Kiel, um dort Redakteuren von Gadget- und Computerfachzeitschriften einen Prototypen vorzuführen: eine Platine und ein lose am Kabel hängendes eInk-Display. Das, sagten die Berliner zu den Redakteuren, ist ein Stück Zukunft, das wir euch da vorbeibringen, und ihr könnt sie als die Ersten in diesem Land anfassen. Niemand hatte Zweifel. Warum war die Geschichte dieser jungen Berliner glaubwürdig, warum sind sie nicht als Wirrköpfe nach Hause geschickt worden? Woher wussten die Redakteure in Städten, die nicht gerade zum Silicon Valley gehören, wie die Zukunft aussieht? Die Antwort ist: Sie wussten, wie die Zukunft aussieht, weil sie die Zukunft schon gesehen hatten.
Als Redakteure bei Computerfachzeitschriften gehören sie zu einer globalen Kultur, in der eReader respektive Tablets – den Unterschied gab es 2008 noch nicht richtig – zum Alltag einer wohlvertrauten Zukunft gehören. Diese Zukunft kennen sie aus dem Nachmittagsprogramm, das sie als Zwölfjährige mit heißen Augen sahen: Tablets, wie viele der Innovationen der angeblich genialen Erfinder bei Apple, sind Standardausrüstung der Sternenflotte. Was wir als Zukunft erkennen, war längst in „Star Trek: Next Generation“ zu sehen. Und besser: So ziemlich alle diejenigen, die Zukunft tatsächlich erzeugen, sind selbstverständlich Trekkies oder Ex-Trekkies, von Forschern in Cambridge über Angestellte in Cupertino und übertrieben selbstsicheren jungen Unternehmern in Berlin bis hin zu Computerzeitschriften-Redakteuren in Kiel. Sie alle haben Science Fiction gelesen oder lesen sie noch. Sie sind nicht nur vorbereitet auf die Zukünfte ihrer Jugend, sie arbeiten daran. Den Buchkonservativen dagegen widerfahren diese Zukünfte. Sie haben den Eindruck, dass ihnen die Begeisterung der anderen, der Trekkies und Nerds, aufgezwungen wird.
Was, wenn sie recht haben?
Die Standard-Geschichte wird natürlich andersherum erzählt: Neue Technologien entstehen einfach auf Grundlage des gerade Möglichen. Wenn die Zeit reif ist, werden sie von genialen Erfindern erfunden. Science Fiction-Propheten ahnen diese Erfindungen voraus und benutzen Technologie, um unter leicht veränderten Bedingungen ihre eigene Zeit zu explorieren.
Vielleicht stimmt diese Standardgeschichte. Oft stimmen die ein bisschen langweiligen Geschichten ja. Vielleicht ist es aber tatsächlich andersherum. Schließlich ist Science Fiction mit Vorhersagen nie besonders gut gewesen, mit wenigen Ausnahmen. Und seltsamerweise scheinen gerade diejenigen Texte, die eine besonders intensive Begeisterung für ihr Setting auslösen, die besseren Vorhersagen abgeliefert zu haben.
William Gibson hat den Cyberspace also vielleicht nicht vorhergesagt, sondern erzeugt. Sein Text, eine Intensitäts-Maschine sondergleichen, produziert seit drei Jahrzehnten junge Frauen und Männer, die in seiner Welt leben wollen – einer nihilistischen und brutalen Welt, aber erbarmungslos cool. Wer mit 15 „Neuromancer“ gelesen hat, kann heute noch, jederzeit, an jedem Ort, die Augen schließen, und ist Molly oder Case oder beide, und schaut hinein in eine Welt aus Daten und Freiheit, leuchtend, rein-abstrakt, begehrenswert und gleißend hell in endlosem Schwarz.
Trotzig sagen wir „Cyberspace“ zu unserem traurigen Internet, als Beschwörung geradezu, und reden uns schön, was doch statt visuell aufregender Möglichkeiten, unsere Beschränkungen, den ödipalen Ballast von Körper, Geschlecht und Herkunft zu transzendieren, nur scheußliche Werbung für Diätprodukte, das Gekläff des Rudels und im besten Falle Bilder von Katzen und Ottern enthält. Aber wir arbeiten dran. Überall auf der Welt sitzen Leute an ihren Rechnern und arbeiten daran, oft unbezahlt, mit Compilern und Lötkolben und CAD-Software und Bestückungsrobotern, und bauen an einem Netz, das dem Cyberspace mehr ähnelt als seinem aktuellen traurigen Abklatsch; einem Netz, in dem wir eine Chance haben gegen den Ballast, in dem es aufregender und klüger zugeht und der Sex besser ist. Wir ignorieren dabei, wovor uns der Ballast geschützt hat. Wir setzen alles frei. Und wir nähmen sogar die Welt in Kauf, in der Case und Molly leben, wenn sie nur genauso gleißend hell leuchtete –
Literatur, wenn sie gut ist, erzeugt Intensitäten, die uns zu Agenten ihrer Ideen machen. Das gilt nicht nur für die alte Science Fiction, sondern für alle Texte, die die Gewalt des Fortschritts aufrufen. Literatur ist nicht nur metaphorisch ein Strom von Zukunft, nicht nur im Vulgär-McLuhanschen Sinne, als Kulturtechnik, die mit der Fiktion-Leseanwendung oder Spritz von der Beschleunigung erfasst wird und auch sonst mit ihr rückgekoppelt ist, sie ist buchstäblich: Buchstabe für Buchstabe Code aus der Zukunft, ausgeführt auf Leserinnen der Gegenwart, zur Produktion neuer Zeit. Seit wir dieses gefährliche Eindringen fremden Codes zu begrüßen gelernt haben, gibt es kein Halten mehr: Die Schleife aus Text, Kapital und Technologie zieht uns tiefer hinein in diesen Strudel der Befreiung, dessen unheimlichen Grund wir nicht erkennen und den wir doch ekstatisch (programmiert von Literatur) begehren.
Noch vor zwanzig Jahren hatte ich Freunde, die meinten, zu viele Romane zu lesen – sie kämen zu nichts anderem. Heute kenne ich nur Menschen, die bedauern, wie wenig Literatur sie lesen und wie viel weniger als früher. Schriftsteller sind davon nicht ausgenommen. So schrieb mir Douglas Coupland, als wir das digitale Literaturprojekt Fiktion starteten: “I am finding that the one thing I no longer have is discretionary reading time. It almost feels like some weird 21st century version of poverty. I read half of what I used to read and have to work ten times as hard to do so. It is really worrying me. I think this is common to anyone who is busy since the year 1900, but in 2013, it is sick and extreme and is possibly really fucking up our culture.“
Das kann natürlich eine Folge des zunehmenden Alters sein. Dagegen spricht, dass die meisten, egal wie alt, sagen, dass es erst Mitte der nuller Jahre richtig schlimm geworden sei – mit dem Aufkommen der sozialen Medien. Sie lesen seither nicht unbedingt weniger, nur eben weniger Literatur. Sie kommen einfach nicht mehr dazu. Ständig gibt es andere Texte, die sich nach vorne schieben: weil sie aktueller sind, weil sie kürzer sind oder weil sie einem per Link von Freunden und Kollegen empfohlen werden. Mit dem Lesen von Romanen ist es wie mit dem Sex bei einer in die Jahre gekommenen guten Ehe: immer noch großartig, aber bis dorthin zu kommen, wird zunehmend schwieriger.
Obgleich eigentlich alle sagen, dass sie gerne mehr Romane lesen würden, herrscht eine zunehmende Ratlosigkeit, welche es denn sein sollen. Gut, ein paar Klassiker fallen jedem ein – aber Gegenwartsliteratur? Einer abnehmenden Qualität die Schuld zu geben wäre übereilt, denn man informiert sich auch nicht mehr so gründlich. Was meist noch gelesen wird, sind Bücher mit großer medialer Aufmerksamkeit. Nicht die Megaseller, sondern das eine Buch, das in dieser Saison in den Zeitungen und Zeitschriften als relevant gepriesen oder skandalisiert wird. Nur dann besteht noch die Chance, dass auch Freunde und Bekannte es lesen und man sich mit ihnen austauschen kann.
Die gängige Erklärung für den Bedeutungsverlust der Literatur lautet: Eine explodierende Menge an Informationen konkurriert mit immer gewiefteren Strategien und intensiveren Reizen um eine begrenzte Aufnahmefähigkeit. Literatur scheint dabei hoffnungslos unterlegen. Das Bombardement der Sinne mit Blockbuster-Kino, Fernsehen, Computerspielen, Newsfeeds und sozialen Medien gleicht dem mit Industriezucker, Geschmacksverstärkern und gehärteten Fetten bei der Ernährung. Gemüse, Vollkorn oder eben Literatur haben es dagegen schwer. Hoffnung schenkt, bleibt man in diesem Bild, dass nicht nur die Fettleibigkeit zunimmt, sondern auch die Zahl derer, die ihre Ernährung, ihre Fitness und ihr Gewicht penibel unter Kontrolle haben. Könnte so auch eine Elite erstarken, die multimediale Abstinenz walten lässt und sich jeden Tag stundenlang anspruchsvoller Literatur widmet?
Könnte – könnte aber auch nicht. Literatur und Rohkost sind doch grundverschieden. Während Menschen sich in der Vorgeschichte nur von Fleisch und Früchten ernährt haben, sind Lesen und Schreiben erst einige tausend Jahre alte Kulturtechniken und finden erst seit ein paar Jahrhunderten über eine kleine Minderheit von Priestern, Mönchen, Adligen und Bürgern hinaus Verbreitung. Dieser Prozess ist noch längst nicht abgeschlossen: Von 1970 bis 2005 halbierte sich der Anteil von Analphabeten an der Weltbevölkerung auf knapp 20 Prozent, und er sinkt weiter. Kinder aus allen Milieus lesen tausende Seiten lange Romanzyklen und üben sich in einer ausführlichen täglichen Privatkorrespondenz, wie sie früher einer Elite vorbehalten war und noch vor zwei Jahrzehnten aufgrund des Telefons und schließlich Mobiltelefons gänzlich zu verschwinden drohte. Heute wird das, was sich weiterhin Telefon nennt, vor allem zum Schreiben und Lesen genutzt.
Das alltägliche Schreiben lässt die Schwelle, auch selbst Gedichte, Geschichten und Romane zu verfassen, sinken. Dank des Internets braucht man nicht mehr zu befürchten, dass die eigenen literarischen Werke niemals veröffentlicht und höchstens von Familie und Freunden gelesen werden. Im Internet kann, wie Bertolt Brecht 1932 in seiner Radiotheorie visionierte, jeder Sender sein. Jeder kann seine Texte auf der eigenen Homepage oder auf Verkaufs- und Gratisportalen weltweit anbieten und sich in auf bestimmte Genres spezialisierten Online-Foren über sie austauschen. Wer mit seinen selbst verlegten Büchern größeren Erfolg hat, kann anschließend auch in traditionellen Verlagen reüssieren. Der sich am rasantesten verkaufende Roman und Romanzyklus aller Zeiten – E. L. James’ Fifty Shades of Grey (2011) – ist zunächst im Selbstverlag erschienen.
Als mit dem Aufkommen des Bürgertums breitere Bevölkerungsschichten begannen, Literatur zu lesen, galt sie noch als große Gefahr. Literatur stand unter dem Verdacht, ihre Leser von der Arbeit abzulenken und von ihrer Familie und ihrem sozialen Umfeld zu entfremden, indem sie auf krankhafte Weise ihre Fantasie anregte und ihnen moralisch verwerfliche Flausen wie die einer romantischen Liebe oder eines Lebens in Saus und Braus in den Kopf setzte. Als ich als Kind in den frühen 1980er Jahren sehr viel zu lesen begann, war das meiner von einem Bauernhof stammenden Mutter noch höchst suspekt. Wenn ich fernsah, konnte sie mich – das Fernsehzimmer befand sich neben der Küche – direkt kontrollieren. Bei den ein, zwei Büchern, die ich täglich verschlang, kam meine Mutter kaum mit dem Lesen der Klappentexte nach – wenn denn die Bibliotheksausleihen überhaupt einen hatten.
Heute liest man der allgemeinen gesellschaftlichen Einschätzung nach nie genug. Jede Minute, die ein Kind statt mit einem Computerspiel mit egal welchem Buch verbringt, zählt als Gewinn. Das Lesen eines Romans gilt tendenziell als noch wertvoller als das eines Sachbuchs, eben um – was früher so verpönt war – die Fantasie anzuregen und so einen Schutzraum gegen die multimediale Reizüberflutung zu schaffen. In den USA wird mittlerweile bei mehr als zehn Prozent aller Kinder im Laufe ihrer schulischen Laufbahn ADHS diagnostiziert und ihnen werden Stimulanzien verschrieben, damit sie sich besser konzentrieren. Fraglich ist jedoch, ob Fernsehen, Computerspiele und Multitasking die Konzentrationsfähigkeit so sehr beeinträchtigt haben, oder ob es sich mit der Klage über mangelnde Konzentration nicht ähnlich verhält wie mit der über zu viel Gewalt: Nicht die Gewalt nimmt zu, sondern die gesellschaftliche Intoleranz gegenüber Gewalt. Wahrscheinlich hat nichts der Buchbranche mehr geholfen als das Fernsehen, sorgte doch die Angst, wir könnten uns vor ihm „zu Tode amüsieren“ (Neil Postman, 1985), für ein stetes schlechtes Gewissen, für das sich mit nichts besser als dem Kauf von Büchern Buße leisten ließ. Und selbst wenn heute die Zeit, die auf das Lesen von Romanen verwandt wird, tatsächlich stagniert oder sinkt, ist fraglich, ob dies nicht dadurch aufgewogen wird, wie viel mehr man heute selber literarisch schreibt. Ohne die Zahlen für literarische Titel zu kennen: Allein in den USA erschienen 2011 148.424 gedruckte Bücher und 87.201 E-Books im Selbstverlag. In fünf Jahren eine Steigerung von fast 300 Prozent – der rasant steigende Anteil an Büchern ohne ISBN nicht einmal mitgerechnet.
Die Hoffnung auf Ruhm und finanziellen Erfolg mag eine Rolle spielen, kann aber nicht ausschlaggebend sein. Erwähne ich im Gespräch mit Fremden, dass ich Schriftsteller bin, lautet gewöhnlich die erste Reaktion, dass ich davon ja wohl kaum leben könne. Die zweite, wie sehr man gern selbst einmal ein Buch schreiben würde, und vielleicht auch, dass man es schon versucht habe. Ein gutes Musikstück oder Kunstwerk lässt sich heute innerhalb eines Tages erstellen. Für einen Roman benötigen nur Ausnahmebegabungen weniger als einige Monate, und leicht können es einige Jahre werden. In einer Welt, in der die kreative Selbstentfaltung von zentraler Bedeutung ist, wird das Verfassen eines gelungenen Romans zur höchsten Weihe. So sensibilisiert scheint die Gesellschaft für die Gefahr, dabei zu scheitern, dass sich Romantic Comedies über strauchelnde Autoren zu einem eigenen filmischen Subgenre entwickelt haben.
Je weiter Verwissenschaftlichung und Quantifizierung der Arbeits- und Lebensbereiche fortschreiten, desto mehr braucht es Literatur als menschelnden Puffer, in dem noch Platz für Geschichten, Metaphern, Mythen, Legenden und Gerüchte ist. In Amerika bilden sich vor kollektiven Storytelling-Veranstaltungen hunderte Meter lange Schlangen, und in der Wirtschaft ist Storytelling längst zur populären rhetorischen Waffe geworden. Es ist absehbar, dass die Psychoanalyse, die man früher dafür kritisiert hat, vermeintliche frühkindliche Erinnerungen überhaupt erst zu konstruieren, gezielt genutzt wird, um die Fabulierkünste zu stärken. Die Bibliotherapie erwächst zu einem eigenen Zweig der Psychotherapie, und Annette Simmons, Autorin von The Story Factor (2001) und Whoever Tells the Best Story Wins (2007), schreibt: "The missing ingredient in most failed communication is humanity. This is an easy fix. In order to blend humanity into every communication you send, all you have to do is tell more stories and bingo - you just showed up."
Auch in Kreativberufen bedient man sich immer ausdrücklicher literarischer Mittel. Kürzlich war ich zu einem Symposium an der Architektur-Fakultät der Columbia University eingeladen, das mit den Worten annonciert wurde: „Fiction allows us to imagine new possibilities, new politics, new modes for living, new ways of understanding the world. Indeed, fiction enables and encourages the elaboration or extrapolation of the present and proves history and memory are mutable and contingent. What para-fictional possibilities open up when architectural production purposely blurs truth and how might this problematize relationships to the real?“ (Interpretations: Discerning Fictions, 20.4.2013) Hat man sich in der Bildenden Kunst die letzten Jahrzehnte eher auf Film und Fernsehen als die neuen Leitmedien bezogen und das multimediale Spektakel kritisch zu reflektieren versucht, wimmelt es nun von Installationen mit Büchern und literarischen Referenzen, und immer mehr Künstler schreiben auch selber literarisch.
Literatur ist zu einem Allheilmittel geworden, um Leben und Arbeit besser zu meistern. Bezeichnend ist der Erfolg des Buchs Reality Hunger (2010) von David Shields, der für Literatur als eine Zone besonderer Authentizität – gerade auch im Gebrauch von Zitaten – wirbt. Shields wünscht sich Autor und Leser vereint als Prosumer, der alles, was er liest, auf seine eigenen Lebensumstände hin abklopft („Was hat das mit mir zu tun?“), um es bei hinreichender Korrelation selber literarisch zu verwerten. Es genügt, während der digitalen Lektüre seine Lieblingsstellen zu markieren, schon archivieren sie sich zu einem endlosen Hypomnema. Alles, was man chattet und postet, ist Stoff für einen potentiellen Roman.
Auch wenn man ihn niemals schreibt, so findet doch eine ständige Selbstbefragung statt, wie sehr das eigene Leben zum Roman taugt. Diese Sichtweise schlägt sich darin nieder, dass man auch von den Romanen, die man liest, eine große biografische und besser noch autobiografische Komponente erwartet. Romane, von denen man gerade darum aber auch annimmt, dass es ihnen im Vergleich zu Klassikern von der Odyssee bis zu Ulysses an imaginativer Größe fehlt.
Schon die literarische Blüte des späten 19. Jahrhunderts war eine dezidiert realistische, und das ganze 20. Jahrhundert hat sich jede neue literarische Bewegung mit einem gesteigerten Realitätsanspruch hervorgetan. Das gilt auf invertierte Weise auch für den Ästhetizismus, der in seiner extremen Uneigentlichkeit das eigene Leben dem Werk nachzubilden und so letztlich doch auch nur beide zur Deckung zu bringen versucht. Man hat sich mit den Wissenschaften gemessen und ihren Anspruch auf Objektivität angezweifelt, indem man subjektive, nicht wissenschaftlich verifizierbare Wahrnehmungen abzubilden versucht hat. Literatur war, konnte man meinen, angewandter philosophischer Skeptizismus, da dieser alles, was wir wahrnehmen, zur Fiktion erklärt.
Dass es keine absolut gesicherten Fakten gibt, hat die wissenschaftlich fundierte Analyse unserer Lebenswelt jedoch nur weiter angespornt, und es gibt immer mehr Möglichkeiten, die Fehlerhaftigkeit unserer Wahrnehmung und Erinnerung mittels technischer Aufzeichnungen zu erkennen. Die Möglichkeiten, unüberprüfbar über das eigene Leben oder das anderer zu fabulieren, schrumpfen.
Noch vor zwanzig Jahren hätte es nach dystopischer Science Fiction geklungen, dass man einmal das, was einem erzählt wird, noch während des Gesprächs per Suchmaschine auf seine Wahrhaftigkeit hin überprüfen würde. Längst geschieht es auch dann, wenn einem die Wahrheit gar nicht so wichtig ist, nur um die Zuverlässigkeit des anderen mehr oder weniger spielerisch auf die Probe zu stellen. Romanen nähert man sich mit derselben detektivischen Lust. Kaum ist ein Buch erschienen, wird der Autor auf Ähnlichkeiten mit wahren Begebenheiten hin gelöchert – auch wenn er den Roman eigentlich geschrieben hatte, um sich über diese hinwegzusetzen –, und der Leser kann die zusätzlichen Auskünfte wiederum mehr oder weniger glaubhaft finden. Gerade auch aus dem, was hinzugedichtet wurde, ergeben sich Rückschlüsse auf die Wünsche und Ängste des Autors.
Früher hat man sich der Fiktionalisierung bedient, um in ihrem Schutz über brisante Wahrheiten zu schreiben. Sei es, um die Zensur auszutricksen, sei es, um reale Personen – den Autor eingeschlossen – vor Verunglimpfung zu schützen. Heute aber wird so offen über Privates und Politisches gesprochen wie noch nie. Die Blüte des Romans seit dem 19. Jahrhundert verdankt sich diesem Geständniseifer – Foucaults „Wille zum Wissen“. Je mehr er sich radikalisiert und die technische Entwicklung fortschreitet, desto mehr ist der Roman nur noch eine Form der Realitätsverarbeitung neben vielen anderen wie Beichte, Tagebuch, Dokumentation, Psychotherapie, Selbsthilfegruppe, Reality Soap oder Social Media. Den zu schreiben sich jeder bemüßigt fühlen kann, es braucht höchstens Anleitung und Betreuung. Mangelt es dem hauptberuflichen Autor im eigenen Leben an besonderen Schicksalsschlägen und mag er sich auch nicht wie Svende Merian, Karl Ove Knausgård oder Tao Lin damit hervortun, seine gewöhnlichen Freuden und Leiden ganz besonders schonungslos offenzulegen, bleibt ihm noch die Genre-Unterhaltungsware oder die dienende Rolle als Ghostwriter und Mentor.
Während bildende Künstler seit mehr als hundert Jahren bestrebt sind, sich nicht als Handwerker, sondern als Erfinder zu begreifen, erscheinen Romanciers mehr als Handwerker denn je. Da dem Roman nicht der eine große Konkurrent erwachsen ist wie der bildenden Kunst in Form der Fotografie, sind die literarischen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts recht wirkungslos verpufft. Die meisten Romane werden heute nach denselben Prinzipien geschrieben wie im Realismus des 19. Jahrhundert: Es geht in der Hauptsache um einzelne Menschen und ihre psychologische Entwicklung, die es empathisch, aber wertfrei zu beschreiben und zu erklären gilt. Spätestens seit der Postmoderne kann einer dieser Menschen auch die Erzählerfigur sein, und er darf sich, seine Menschlichkeit unter Beweis stellend, als etwas unzuverlässig erweisen. Außerdem müssen körperliche Intimitäten wie Sex und Defäkation nicht mehr verschwiegen werden. Das war es für die meiste – auch preiswürdigste – Literatur an Innovation in hundertfünfzig Jahren.
Doch dass die Literatur nur noch als eine Geständnisform unter vielen erachtet wird, gibt auch Gelegenheit, sich auf ihre besonderen Stärken zu besinnen. Lesen bedeutet eine enorme Verengung der Aufmerksamkeit. Es gibt kein Medium, das pro Zeiteinheit weniger Informationen übermittelt als Text, und zugleich erlaubt es die wenigste Ablenkung. Bei einem Film kann man sich in den Sprechpausen unterhalten, bei der Lektüre lenken Stimmen unweigerlich ab. Vielleicht hört man nebenbei Musik und vergisst sie. Bei keinem Medium ist der Konsument so mit sich allein. Selbst beim Schreiben muss man nicht unbedingt so fokussiert sein, und das ist nicht nur eine Frage der Geschwindigkeit: Wenn man langsamer liest, kann man sich darum nicht auf mehr anderes konzentrieren. Wenn man sehr langsam liest, fällt es schwer, überhaupt noch etwas zu verstehen.
Beim Schreiben – wie auch beim Sehen von Filmen oder Hören von Musik – antizipiert man immer ein Stück weit, was als nächstes passiert: Jemand hat einen Schritt gemacht und wird gleich darauf den nächsten tun. Literatur beschreibt dagegen das Gehen als solches und einen einzelnen Schritt nur dann, wenn er anders als die vorherigen ist. Zu jedem Wort und Satz können sich mehr oder weniger stark ausgeprägte Vorstellungen herausbilden, die auch, ohne dass der Autor es auf eine überraschende Wende anlegt, gleich darauf überholt sein können, denn ist auch nur ganz allgemein von einem Tisch die Rede, hat man schon einen bestimmten im Kopf. Um so vorhersehbar wie eine Filmszene zu sein, muss Literatur äußerst trivial und damit langweilig sein. Text ist in Konkurrenz mit anderen Reizen das intoleranteste Medium und lässt zugleich den eigenen Vorstellungen den meisten Raum. Das gilt besonders für literarische Texte, die es verstehen, Einzelnes sehr plastisch zu beschreiben und so die Vorstellungskraft auch bei abstrakteren Passagen anzuregen.
Die realistische Literatur schöpft dieses Potential nicht aus, sondern ist in Konkurrenz mit der Fotografie bemüht, alles, was sie thematisiert, gleichermaßen detailliert zu beschreiben. Anfangs war es spektakulär genug, immer neue Sujets, über die die Gesellschaft sich sonst ausschwieg, ins Zentrum zu rücken. In einer Gesellschaft aber, in der alles gesagt werden kann, erscheint das Konsumieren realistischer Romane harmlos.
Sollte die Literatur ins Fantastische ausweichen? Literatur zeichnet ähnlich wie Malerei und Bildhauerei aus, dass sie kein reproduktives Medium ist und sich mit ihr frei Erfundenes genauso gut wie Reales darstellen lässt. Doch wenn sich das Beschriebene zu sehr vom Realen löst, erlahmt das Interesse. Bei alternativen Geschichtsschreibungen schlägt der per Internet frei verfügbare Wissensschatz immer unerbittlicher zu, und Reales und Erfundenes lassen sich schnell trennen.
Anders verhält es sich mit der Zukunft. Das, was man über sie schreibt, kann sogar deshalb erst (schneller) Wirklichkeit werden: Flug zum Mond, Atombombe, Mobiltelefon, Exoskelett und Leninismus existierten zunächst in der Literatur. Aus dem Erfundenen wurden Erfindungen. Im Umkehrschluss annonciert der Intel-Futurist Brian David Johnson Science Fiction in seinem Buch Science Fiction Prototyping: Designing the Future with Science Fiction (2011) als preiswertes und gefahrloses Gedankenspiel, um neue Technologien zu entwickeln und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen zu erkunden.
Früher galt Science Fiction generell als literarischer Schund. Ausnahmen waren höchstens Dystopien, die man – insbesondere in Ländern mit Zensur – als überzeichnete Gegenwartskritik lesen konnte. Sonst galten ihre Szenarien entweder als unseriös, oder das Bemühen, sie möglichst plausibel und vollständig zu erklären, ließ sie schal wirken. In der Zukunft versteht sich nichts von selbst, also muss alles noch ausführlicher erklärt werden als im realistischen Gegenwartsroman – wenn nicht direkt dem Leser, dann einer überschaubaren Menge menschenähnlich erlebender Wesen. Dem Leser ist bewusst, dass eine solche Konstruktion nur ein Vorwand ist und wie der Autor unweigerlich an die Grenzen dessen gerät, was er sich auszudenken und vorzustellen vermag. Science-Fiction-Autoren wie Stanislaw Lem und die Strugatzki-Brüder sind diesem Dilemma ausgewichen, indem sie ihre Helden auf etwas ihre Intelligenz hoffnungslos Übersteigendes haben stoßen lassen (Solaris (1961), Piknik na obotschinje (1971)) oder indem sie wie Philip K. Dick die zukünftige Welt als eine Wahnvorstellung dargestellt haben (Three Stigmata of Palmer Eldrige (1965)). Dagegen werden die Science-Fiction-Romane, in denen sich die Gesellschaft heute am meisten widerspiegelt – Brave New World (1932), 1984 (1949) –, vor allem daraufhin gelesen, wo sie mit ihren Prognosen richtig- und wo sie danebenlagen. Über Handlung und Charakterbeschreibungen schaut man hinweg.
Die Probleme, mit denen die Science Fiction zu kämpfen hat, übersteigern indes nur die Probleme der herkömmlich realistischen Literatur überhaupt. Alain Robbe-Grillet hat bereits in seinen 1963 in dem Buch Pour un nouveau roman zusammengefassten Essays dargelegt, dass eine Literatur, die den Prinzipien von plausiblem Plot und vollständig erklärten Charakteren folgt, ein Relikt der bürgerlichen Gesellschaft ist. Je mehr ihr Glaube an das souverän handelnde, allenfalls durch widrige Umstände beeinträchtigte Individuum überwunden wird, desto weniger selbstverständlich und lesbar muss eine solche Romanstruktur erscheinen.
Ich merke bei meiner eigenen Lektüre, dass mich gerade das, was nach den gängigen Kriterien süffig lesbar ist, quälend langweilt und nervt. Bei vielen Romanen höre ich nach zwanzig, dreißig Seiten auf zu lesen, weil ich sie nur für ihren Auftakt liebe, in dem eine Stimmung, eine Szenerie, ein Gesprächswechsel beschrieben wird und noch alles möglich scheint. In dem Maße, in dem die Handlung ihren Lauf nimmt und die Charaktere erklärt werden, wird es mir fad. Ähnlich muss es den Hip-Hop-DJs ergangen sein, die in den 1970er Jahren begannen, von Disco- und Soul-Platten nur noch die Intros und instrumentalen Solos zu mixen. Doch das literarische Establishment verharrt, um in dieser Analogie zu bleiben, in der Phase des Prog-Rocks. Mit raffiniert konstruierten, aufwendig recherchierten und brennende gesellschaftliche Themen behandelnden Vielhundertseitern versucht es seine Bedeutung gegen elektronische Medien und DIY-Autoren zu behaupten.
Wenn ein Roman wirklich auf erschöpfende Weise realistisch sein sollte, dann müsste er beispielsweise beschreiben, wie man physisch und virtuell Kontakt mit hundert, zweihundert, dreihundert Menschen pflegt. Film hat es da sehr viel leichter, denn Gesichter, Stimmen und typische Bewegungen prägen sich sekundenschnell ein. Literatur kann immer nur scheitern, wenn sie bemüht ist, die Welt des Wahrnehmbaren und Vorstellbaren möglichst genau abzubilden.
In diesem Scheitern kann man es sich sehr gemütlich machen. Während Kino und Musik in der letzten Sucht-Stufe an ihrem eigenen Spektakel zu ersticken drohen – Action-Filme bestehen vor allem aus Verfolgung und Explosion, Pornos aus Ficken und Abspritzen, Popstimmen aus Hall und Effekt –, ist Literatur zum Hort des Beschaulichen geworden. Dabei ist Sprache eigentlich moderner und radikaler als jedes andere Medium. Ihre Stärke ist es, so abstrakt zu sein, dass sie auch darzustellen vermag, was sich den menschlichen Sinnen nicht vermittelt.
Das Weltgeschehen ist ein Jahr um Jahr besser dokumentiertes Experiment, das demonstriert, was auch noch möglich ist. Die verfügbaren Datenmengen wachsen exponentiell an; doch was der Einzelne wissen kann, bleibt begrenzt. Die Wissenschaften sind Hoarder-artig im Erheben immer größerer Datenmengen gefangen und tun sich schwer, große neue Theorien zu verkünden. Im Zuge einer immer präziseren und extensiveren Datenerhebung wird der Literatur nicht nur spekulativer Raum genommen, es werden ihr auch immer größere Bereiche der Spekulation überlassen, die früher den Wissenschaften vorbehalten waren oder die – wie Legenden und Verkündigungen – noch mit ihr zu konkurrieren versucht haben. Literatur kann selbst dann, wenn sie sich als nachweislich falsch erweist, grandios sein.
Romanen, die ausdrücklich von Ideen handeln, wird vorgeworfen, dass sie ihre Handlung und Charaktere als Ideenträger instrumentalisieren. Das gilt aber nur dann, wenn sie nichtsdestotrotz als realistische Literatur des 19. Jahrhunderts auftritt oder an dieser gemessen wird und mit Handlung und Charakteren automatisch menschliche gemeint sind. Warum nicht einen Roman schreiben, in dem Ideen die Hauptcharaktere sind und ihre Entwicklung die Handlung? Man muss sich ihnen nur ähnlich nuanciert nähern wie Menschen – deren Verständnis ebenfalls von Ideen bestimmt ist. Und so auch das von Technik, Tieren, Pflanzen, Räumen. Das menschliche Denken – wie auch das tierische – besteht aus einem ständigen Abgleich von Signalen und Mustern, von Eindrücken und Ideen.
Die Kunst ist der Literatur im expliziten Rekurrieren auf Ideen um Jahrzehnte voraus. Während die Literatur sich immer noch sehr im “Du kannst aber schön zeichnen”-Stadium befindet, findet heute praktisch keine Gegenwartskunst mehr öffentliche Anerkennung, die nicht konzeptuell ist, das heißt, sich als originelle Auseinandersetzung mit speziellen Ideen begreift.
Wenn es um eine Idee geht, gibt es keinen zwingenden Grund, sich auf ein Bild, einen Text oder einen Film zu beschränken: Ideen haben keinen Anfang und kein Ende. Es heißt darum oft von Autoren, sie hätten ihr Leben lang im Grunde immer wieder den gleichen Roman geschrieben. In der Kunst geht man noch weiter und lässt das Werk über bestimmte Artefakte hinausreichen. Es genügt, eine Anweisung zu geben, die dann von irgendwem vollzogen oder deren Vollzug auch nur imaginiert wird. Dieser erweiterte Kunstbegriff trifft in einer Gesellschaft, in der sich die Menschen zunehmend selbst als kreativ begreifen, auf viel guten Willen. Da ist er wieder, der Prosumer, und er wird auch für Versuche der Literatur, in die Welt hinauszureichen, empfänglich sein.
Die Kunst wirkt heute eher gestisch und ephemer – darin übersetzt sich ihre traditionelle Begrenzung auf einzelne Bilder und Skulpturen. Was kann es dagegen Großartigeres geben, als wie in einem Roman zu leben? Sich nicht nur an Prousts Erinnerung an die Madeleine erinnert zu fühlen, sondern selbst zu schmecken und zu erinnern wie Marcel. Endlich nicht mehr nur von der Werbung eine “betretbare Literatur” (Klaus Streeck, Management der Fantasie (2006)) in Aussicht gestellt zu bekommen, sondern von der Literatur selbst. Lieber noch würde man leben wie in einem Film? Den gibt es gratis anbei, denn die meisten populären Filme mit einer lebbaren Geschichte basieren weiterhin auf Romanen. Dokumentationen brauchen, je mehr sich – bald das ganze Leben lückenlos aus der eigenen Perspektive – ohne größeren Aufwand filmen lässt, umso dringender ein Skript. Auch wenn man künftig in der Lage sein wird, Träume und Erlebnisse aufzuzeichnen und in andere Gehirne zu übertragen, braucht es eine Erzählung, damit nicht nur ein multisensorisches Gewitter auf einen niederfährt. Wird diese fortwährende Bedeutung von Literatur von der Literaturwelt selbst nicht begriffen, dann eben von den anderen Künsten. Konzeptkunst etwa erfordert per se erklärende Worte und kann auch in ihrer Ausführung aus Worten bestehen.
Von März 2011 an lebte der Künstler Erik Niedling einem von mir entwickelten Drill folgend ein Jahr lang, als sei es sein letztes. Er hielt seine Gedanken und Erlebnisse in einem Tagebuch fest, und in Echtzeit entstand ein in Euphorie und Verzweiflung gut dramatisiertes Stück Literatur (The Future of Art: A Diary (2012)). Wem das zu gewagt erscheint, der kann auch von einer bestimmten Idee beherrschte Menschen suchen und sich davon erzählen lassen. So habe ich es für den Protokollband Minusvisionen – Unternehmer ohne Geld (2003) getan, der fünfzehn Menschen vorstellt, die mit dem Versuch, ihre Geschäftsmodelle ungeachtet ökonomischer Realitäten zu realisieren, gescheitert sind.
Regen die in einem Werk präsentierten Ideen zur vielfachen Nachahmung an, erlangt es eine politische Dimension. Das konnte einem auch schon mit einem herkömmlichen Roman passieren, der beispielsweise von Reichtum, Liebe oder Suizid handelt. Von Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) bis hin zu Hesses Steppenwolf (1927) haben sich immer wieder ganze Jugendbewegungen auf Romane bezogen und sie sehr wohl als betretbar verstanden. Aber ein guter Autor hatte so zu tun, als ginge ihn das alles nicht wirklich etwas an. In Zukunft dagegen bleibt es der Willkür des Schriftstellers überlassen, zu bestimmen, wo ein Text anfängt und wo er endet. Er kann weit über Anfang und Ende eines Buches oder einer publizierten Geschichte hinausreichen und sich im Laufe der Zeit wandeln.
Ungeachtet, ob man die Gedanken und Handlungen der Leser als Teil des eigenen Werks betrachtet, begreifen sich künftig die meisten Leser selbst als Autoren, und wenn es darum geht, wie man verstanden wird, dann immer auch darum, wie man andere in ihrem Schreiben beeinflusst. Angehende Autoren mögen heute als Lesende so faul wie noch nie sein – zu wissen, wie viel Großartiges schon publiziert wurde, schüchtert nur ein. Doch wenn immer mehr und dann auch Computerprogramme schreiben, muss man, um ihnen voraus zu sein, sein eigenes Schreiben immer wieder in Frage stellen, und dafür ist das sicherste Mittel, viel und gründlich zu lesen.
Dank der Digitalisierung kann Literatur ohne fixe Kosten weltweit und dauerhaft angeboten werden. Immer mehr Bücher, deren Urheberrecht abgelaufen ist, werden digitalisiert und kostenfrei ins Netz gestellt. Immer mehr selbst verlegte Bücher werden von vornherein kostenlos angeboten. Die Überfülle stellt aber auch ein Problem dar. Aus der Panik heraus, das alles niemals lesen zu können, lässt man es vielleicht lieber ganz sein. Auch früher hat man längst nicht alles, was man gekauft oder ausgeliehen hat, gelesen. Das Bücherregal war ein externalisiertes gutes und schlechtes Gewissen.1 Im virtuellen Raum fehlt den nicht-gelesenen wie auch den schon gelesenen Büchern eine solche Präsenz, und die gelesenen sind gegenüber den lesenswerten ungelesenen in einer hoffnungslosen Unterzahl.
Die Kunstwelt verfährt mit den enorm gewachsenen Informationsmengen der Werke, die ein erweiterter Kunstbegriff hervorbringt, indem sie deren Ausführung meist nur noch stichprobenartig rezipiert. Ähnlich wie bei einem wissenschaftlichen Beweis verlässt man sich darauf, dass die selektierenden Experten – hier Kuratoren und Galeristen – es umfassend begutachtet haben. Hilfsmittel wie Wikipedia-Eintrag und Text-Suchfunktion erleichtern es, auch literarische Texte nur auszugsweise zu lesen. Das führt dazu, dass Autoren anspruchsvolle Romane vor allem veröffentlichen, um für Diskussionsrunden, Talkshows und Stipendienprogramme an Ansehen zu gewinnen. Doch während Kunstwerke immer schon in eher kurzen Zeiteinheiten rezipiert wurden, wurden seit Jahrtausenden literarische Werke geschaffen, die – in vielen Stunden von vorne bis hinten gelesen – zu dem Aufregendsten gehören, was man erfahren kann, und das Bedürfnis, sich literarisch ausführlich zu äußern, wird, wenn Unsterblichkeit und technische Singularität nahen, nur weiter zunehmen.
Im Film rüstet man mit Spezialeffekten und 3D auf, in der Musik mit Surround Sound, um den Rezipienten stärker zu fesseln. Die digitalisierte Literatur hält dem nichts entgegen. Multimediale Ergänzungen und an die Lektüre gekoppelte soziale Netzwerke (Social Reading) lenken nur weiter ab. Es reicht auch nicht aus, für eine Weile das Internet und andere Software-Anwendungen zu kappen, sondern es braucht ein neues Leseformat, das den Leser ähnlich wie bei einer Hypnose in den Bann des Textes führt. Das entscheidende Kriterium für den Erfolg eines solchen Leseformats ist Eindringlichkeit und nicht, wie schnell zu lesen man mit ihm in der Lage ist und wieviel vom Gelesenen man behält. Der von Fiktion entwickelte, dem Prinzip eines Teleprompters folgende Reader bietet einen ersten Ansatz.
Auch die öffentliche Lesung verdient es als kollektives Ereignis, neu gestaltet zu werden. So sehr man den Anspruch, Kunst im White Cube möglichst neutral zu präsentieren, hinterfragen kann – für Lesungen hat es den Versuch, möglichst neutrale Umstände zu schaffen, nie gegeben. Der Blick des Zuhörers bleibt an Bücherregalen, Hinterköpfen, Schultern und unwillkürlichen Bewegungen des Lesenden haften. Die Augen zu schließen wirkt pathetisch, und hat die Lesung einmal begonnen, gibt es keine Möglichkeit mehr, unauffällig aufzustehen und zu gehen. Noch ehe die Lesung begonnen hat, fühlt man sich auf seinem Stuhl gefangen. Stattdessen könnten die Zuhörer aufgefordert sein, wie in einer antiken Wandelhalle während der Lesung langsam umherzugehen, den Blick auf den Boden zu heften und nur die Strümpfe oder Füße der anderen wahrzunehmen. Wer will, kann, da alle in Bewegung sind, jederzeit unauffällig verschwinden. Wer ermüdet, setzt sich auf den Boden oder einen der einzeln am Rand des Raums stehenden Stühle. Boden und Wände dämpfen den Schall.
Literatur ist, wenn man sich ganz und gar auf sie konzentriert, wie Träumen nach Programm. Allen Quatsch kann man sich vorstellen und tut niemandem weh, während, je mehr sich mit technischer Hilfe real bewirken lässt, die möglichen Folgen immer mehr belasten. Sorgen, dass man zuviel liest, braucht man sich künftig keine mehr zu machen, denn die Produktionsprozesse sind so weit automatisiert, dass sich die Wertschöpfung weitgehend von der menschlichen Arbeit verselbständigt hat. Die Maschinen sind so viel besser darin, sogar sich selbst zu kontrollieren, dass wir uns um die reale Welt (das, was wir als solche vermuten) immer weniger kümmern müssen. Wenn alle ein bescheidenes Leben führen, dann ist für alle reichlich da und dann müssen wirklich nur noch die arbeiten, die wollen. Bücher sind grundsätzlich umsonst, denn niemand soll ein Buch nur deshalb nicht lesen, weil es kostet, niemand ein Buch zu Ende lesen, nur weil er dafür bezahlt hat. Literatur zu publizieren wird wie im Römischen Reich als eine dem Gemeinwohl dienende Tätigkeit begriffen, mit der Geld zu verdienen ehrenrührig wäre. Wenn überhaupt nimmt man die Reichen ran, deren Eitelkeit man ausnutzt, indem man sich wie im Barock Widmungen entgelten lässt oder eine streng limitierte und signierte Auflage verkauft, während alle anderen das Buch ‚nur’ nutzen dürfen. Falls sich nicht genügend Leute finden, die die vielen, vielen Bücher lektorieren, übersetzen und vermarkten mögen, werden hierfür Tauschringe gegründet.
Natürlich ist auch dieses Szenario eine Fiktion.
1 In Momus’ 2014 bei Fiktion erschienenem Roman Herr F heißt es: “This guilt is much more wonderful than the contents of the books themselves could ever be, and spiritually much more uplifting. The unreadness of books outstrips their readness in beauty and in utility. It’s tremendously important to believe that there are heights which we’ve failed to attain, mountains we can glimpse in the distance but not climb. It’s almost like believing in heaven. (...) An unread book is a mirage which enchants the whole world. As in the paper money system that Goethe rails against in Faust, Part 2, the legitimacy of the humanities is based on vapour, glamour, lies and lacunae. Money relies on notional values, debts and obligations which, if called upon, would prove fictional and collapse the whole system."
Trans was? Lation
Ok: Incognito. Er: go sum.
Sie: dumm sum z.B.
Feni Fidi Fiktiv
Transnationen aller pro und contra vereint:
Also, eine Übersetzung?
Also, eine Untersetzung?
Ein Untersetzter Herr, auf Deutsch. Da beachte ich auch Groß- und Kleinschreibung. Und da ist dieser Herr halt seltsamerweise anti-orthographisch klein. Untersetzt. Er ist ja schon ein Detektiv, denn ganz grob in einem Gesichtszug gesagt: Darum geht es. Auch. Aber halt dann doch nicht der schönste. Also halt nicht so schön schlank mit Regenmantel und Zigarette im Mundwinkel, ausgelöscht.
Und ja, der kleindicke hat mich auch schon triefend angemacht, aber ich hab’ nicht drauf angesprochen. Ich hab mich dann selbst drauf angesprochen, ob ich denn den Weg kenne nach XY
Ungelöst. Hier, trink ein Schluck, BB. Aber nein, ich bin trocken. (Unmöglich, denn:) Und das, meine Damen und Herren, ist ein Fehler im Schnitt.
Im Schnitt eine bis keine Szene nur eine. Er: innerung. Sie: an’s Weiße Haus.
Ich war ver (wer?) irrt.
Erratum: Dies entspricht sich aus und klar dagegen wortgetreu zu sein
Ich spreche jetzt die Themen an und komm dann schon wieder drauf
Zurück:
Musik.
Countrymusik.
Countries und ihre Grenzen. Oder auch einfach bloß
Grenzen. Bis hierher und nich weit, Er: gar nicht weit von hier. Steig ein.
Sie: ... (top secret. Wie auch: (siehe) Sekret (sic.) sekret Er: in, darauf Sie: raus. Ich muss mich
Konsent und Konzent-
Rat
Rad
Ringe.
Rundes.
Finger
Schnüffler.
Genialitäten.
Generalitäten.
Gen
italien.
Veni’s bɪtʃ
Jungelbook (Das hab ich auch reinbekommen. Das kenn ich von Kind aus aufwendig.
Kann ich gerne auch vortragen. Zähl mich ein, Sam 2, 3, 4:)
Was tragen sie? CK Be. Uni– (CUT)
Sex.
Und davor?
Ein teures Last. Er: Ein X-Schiff geladen, voll
Unterbewusste, das.
Ich finde den Weg zurück (X = T–Raum / 11) nur mit Ruhe und Gemütlichkeit. Mit Ruhe und Gemütlichkeit.
Das Finden versus das Suchen. Ja und der Jungel ist ja so verschlungen, was dann auch wieder passt. Zu Hirnwindungen des Unterbewussten ist ja wahrhaftig (genauso wie wahrhaftig) ein (genauso wie) scheußlich. Es: Wort.
Sie: Wasch dir den Mund. Und:
Das Unterseeboot ist da schon besser. Wenn ich bloß etwas verspielter wäre, würde ich es auch so nennen, aber ich will’s mir nicht verspielen mit:
Künstlertum, das. Jedenfalls meine Sicht darauf.
Pi sowie Bi (da bring ich dann auch versteckt so ein paar Dinge rein wie die Bifokalbrille. Ein paar Ringe rein raus Chinatown (und auch nur weil ich tatsächlich den genau selben Ring wie Dunaway hätte erben sollen. Dun away with that weil Defamiliarisation et al (Vergiss es JaCK, it’s Bidentität) sowie revealed: Sich reißend um iDentität’s blitzblankes, schneeweißes Operationssystem Milchlamm.))
Puzzles und was tun wenn ein Stück fehlt.
1) Script abbrechen. 2.) Probe abbrechen. 3.) In Bars abhängen. 4.) In Autos abhängen
5) Neu calibrieren.
Summer of 6.-9.) California
Sowie Qualifornia, denn ich werd’ ja immer besser.
Quallen gefallen mir ohne hin und er: der maßen, dass ich mir einen Glasboden hab einbauen lassen.
Und schmecken mir so sehr, ich hab tatsächlich einen heißen Ofen im Boot:
Ich hätte gern eine Pizza Al Qual iFornia
An der Grenze, denn man achtet auf die Linie: Quäl. I’: „vorn, ja“. I’so: „von hinten: naja.“
À
LA
Arschkarte (Wohin? A4 richtung A0 auf dem unterwasser Superhigway)
Und apropos po und apro Po’s Karte: As vs Pokerface, denn:
Dann geht’s auch noch um Privat vs. Öffentlich. Jedenfalls spiele ich das an. Also ich spiele sehr viel an. Ich bin nicht dermaßen verspielt, wie gesagt, also nicht durch LUDUS hindurch sondern eher am Rand, also, wie gesagt, angespielt. Ich bin aber durch trieben, also LUDER, das dann schon. Jedenfalls tue ich so.
Und das ist ja dann auch meine B. Ruf. (u. A. zu wissen wer auf Nr. 17 der Top 100 sitzt. Das ist doch alles ein Kuchen. Wissen ist Macht doch mal)
Rollen.
Tausch kommt auch öfter vor. Trad. Swiss roll.
Ja, dann sag ich noch am Schluss, dass das eine Berufung ist, Kunst. Aber da steck ich ja auch schon wieder in einer Rolle. Das heißt, ich denk das ja dann auch nicht wirklich. Bloß Wirklichkeit ist ja dermaßen crazy (4u. A4 randloß verrückt nach dir. Hab ich dir zahllose Kopien von gemacht aber, nein. Du willst das Original. Unterschrieben und #gesiegt.)
Also grob gesagt geht es hier darum, etwas so auf den Punkt zu bringen, dass nix verloren geht. Das allumfassende Konzentrat.
Bloß bin ich bei Leibe die falsche dafür. Nein, ich bin ja Vertreterin anderer Plotte.
Derer, die sich spalten.
Derer, die sich wider und wiederholen und
wider Höhlen stelle ich mich. Bloß
stelle ich mir vor, ich wär ein Kind der Blumenkraft nein danke!
Kraft fahr vor Stellung entsprechend: ich spreche auch von Wohnmobil und Frieden.
Trailer park nich so nah an mir dran du Ficker.
Und wie gesagt, ich als „Frau“ und er als vor 69 und immernoch Ur
Teil einer guten Beziehung?
Der B-Zug zur Sache.
Und bitte, dann bleib auch mal bei der Sache.
Dis tanz mich weg, hin und weg Beziehung kann ja auf Dauer nur etc etc.
Lass mich noch ein mal in die Atmosphäre ein dringender Aufruf an alle Pass
Agiere z.b. so:
„Eine Trancelatitüde?“
Jedenfalls das hier:
Es dreht (und der Drehmoment ist wichtig) Sich
(Klar, Sicht kommt auch öfter vor. Und dann der Nebel. Immer dieser Nebel. Immer immer dieser. Nee, das ist die Lage, die Tal lage, das Tal, das sich sanft an den Hügel schmiegt etc.)
um fort folgendes
a)FF Noir
Und auf dem Schwarzmark findet sich einiges. Wer sucht der fummelt. Das habe ich dort gefunden. Ein Findling. Ein Erratika. Das hat nichts mit Klauen zu tun, manches rollt mir einfach in den Weg. Aufheben und Werfen kommt gar nicht erst in Frage. Er:„Wer von euch ohne Sünde ist“ und ich dann so: „Uhm, ja dann mal lieber nicht, oder.“
b) Aufschnitt und Schnitt. Auf Schritt und Tritt verfolge ich nichts. Ich warte in Nieschen mit flackernder Stirnlampe. In dunkelen Ecken warte ich auf schon immer da gewesenes. Wandmalereien und Wundheilereien. Nie schön aber immer mit Ruhe und Gemütlichkeit. Vor allem warte ich auf
Indiezien wir ein. In dieses Loch da. Studioshare, denn Standby mode kostet auch Strom. Und auf Stroh werdet ihr es betten und ihr werdet es heißen: Free! Ihr werdet es heißen: Freeze! Keine Bewegung! Bla bla Recht zu schweigen und dennoch sage ich es immer wieder: Mann muss nur wissen, wann anzugreifen ist. Aufgreifen und angreifen. Anbaggern und aushölen. Das kriegen wir schon noch aus ihr raus. Ja, da haben wir’s ja. Es ist ein: Kunst. Ein Kunst! Das ist doch keine Kunst. Ach was weißt der den? Der weißt die Wände. Kontext ist alles, deshalb rate ich dringend an, ihn zu verkleiden. Keine Frieze, nichts was stört. Camouflage auf neu. tral und tral und trallallallala, bald ist e.t.
c.)Filme die zitiert werden: Einige
c)Dinge die zitiert werden: Anzügliches mit guten Schuhen, Stecktuch sowie Pumas.
d)Dinge die zitiert werden: Mein Leben
fick tief in der Zeitspanne (x / x-1), mixed media, p.o.a.
e)K-uns-T also WIR kommen oft vor, BB. US, bb, all unsere unvereinigten Staaten
f)Dann doch noch mal bei sammen. Kleine Samen, die dann doch nochmal was werden, wer weiß. Und Weiß kommt auch öfter vor. Also verdreckt wird es schon noch. W.Arte. Und dann spiel ich dauernd solche Spielchen, das kennst du ja von mir. B-Tsch so wie H-Tsch also ein kleiner Nieser, ein kleines Nieschen, das dann den weißen Schimmel verschmutzt. Und unter dem Verputz hat der Sporen. Ja! Ja! JA! nicht einatmen. Halt die Luft an, fass sie an, was spürst du. Nie Sehr viel.
Gesundheit. Auf Arte wird das ausgestrahlt. k-UNS-t wird bei denen gross geschrieben. Uns kann das egal sein. Orthographie vor Ort oh Sophie wird gefilmt.*
A) Ort. A) ist nicht gleich ART.erie. Aber das musst du denen nicht erzählen.
H) adern
ist i) ein fester Bestandteil einer jeden Beziehung. Er: „Ziehung der Lottozahlen“
und das kucken wir schon eher. 696969 kreuz ich immer an. Und eines Tages:
Kommt die Jung nach Hause: „Freund, wir haben im Lotto gewonnen! Pack die Koffer!“
Darauf „Er“: „Sommer- oder Winterkleidung?“
Darauf Jung: „Ist mir scheiß egal Hauptsache Du bist in 10 Minuten verschwunden!“
Hashtag gewonnen, denn jeder Tag ist Hash Tag (ich blicke Jahrzehnte zurück in das vereinigte Unbewusste suffisamten Westens)
Vorhang auf und zuvor gang (–AB) fällt:
Erziehung um des Zuges willen. S-Zug nach weit weg, bitte.
(am zug im an zug. Im an zug bist du eh immer schneller am zug tbh. Zieh nicht zu fest denn)
J)wie Ja, ich kann mich nicht lange genug bei Leine halten. Also:
g)das muss ich nochmal sagen: Ich bin Detectesse. Darauf möchte ich hinaus. Ich möchte auf dem alten Ford Mustang hinaus reiten. Mein Lasso fängt dann dies und das. Hinweise und Herweise, auf und abweisend: Hau ab und zu finde ich Beweise auf und an Hieb.
h)Schnuffi sag ich. Schnüffler mein ich. Meinung und Sagung sollten sich mal nicht zu sehr auseinander leben. Aber eben.
i)MIKRO/BEN? Ja. Gut. Go. „SJ, sie sprachen von Kriminaltaktiken, können sie da etwas präziser werden“ „Nein, denn Präzision kommt erst am Ende. Im Abspann. Im Spann angeritten, die Zügel locker. Immer locker. Das ist das A und O.rta
Ich schnapp was auf und weiß sofort, dass Relevanz im Anzug ist. Da kommt ein Gedanke angeritten und der ist nicht von schlechten Eltern. Schwanzwedelnd mit gut gefüllten Adern und hart gestocktem Beutel. Ich muss ihn abfangen und zulangen ohne festzulegen warum. Umzulegen, das Gleis umzulegen ist dann der einzige Weg ff. Erste Klasse muss es sein und doch muss man locker bleiben. Ein Widerspruch? Ja, das ist Nieser – Gesundheit. Danke, hab ich wohl im Zug aufgeschnappt. – Nie sehr einfach. Vertrauen in den inneren Spürhund ist was zählt. Es zählt u. a. A1 – A2 – A1234: „Crazy. I’m crazy for feeling so lonely“ Shh.
j)Kann mann sich bitte einmal konzentrieren? Danke.
Nein, weil so fingiert mein Spiel mit dem Ton, mit dem Tonvogel Da hat einer gezwitschert! Sein mag, ich ringe um die Kette, wie geht das Ende vom Lied? Wo ist das Glied? Das Bindeglied, ich bringe es nicht hin, einen Ring (der kommt öfter vor, klassisch.) dahin zu kriegen wo er passt.
Pass auf: „Schatzi, frag halt mal nach.
Du musst halt am Ball bleiben.“
Ich tu’ das nicht. Ich bleib am all ball call dall eall und das sind erst die ersten Plätze.
Pässe abfangen, das ja. Pässe überqueren, das ja.
Frierend auf Elefanten arrivieren.
Was halt so am Wegrand abfällt das fällt.
Cut und Zu
Fall, the, 1998, (tmi, no shame)
Natural selection als Delikatesse. Gourmet selection von Äpfeln, die, wer hätte das gedacht, ultra weit entfern von Stämmen fallen. Einsam. In der Nacht.
Die Knabe lebt, das Pferd ist tot o.ä.
1. KAPITEL
Die Autorin trifft in Stuhl Arbeit ein; Anfragen, ihr Schriftwechsel mit dem Bürgermeister dieses Unternehmens. Gelähmt & benebelt versucht sie sich zu Konzentrieren, Nachfragen, zwanzig Minuten lang, ganz plötzlich wird ihr sehr schlecht; die Autorin gerät in Panik & übergibt sich, anschließend detaillierter Bericht über die Lage: ihr ermattetes Hinabsteigen der Treppe & ihre Ankunft unten auf der Straße, das Betreten der Deutschen Post für eine Kurze Pause & Frische Luft: wie die Einwohner dieses Orts – Nachfahren von Vandalen, Goten, Hunnen & Langobarden, allesamt – ihre Anwesenheit zur Kenntnis nehmen; die Gedanken, die sich die Autorin darüber macht. Während die Autorin noch in der Schlange wartet, fällt sie versehentlich in Ohnmacht.
2. KAPITEL
Wie sie sie umdrängen & sanft ihre Gliedmaßen streicheln bis diese sich wieder zu regen beginnen & wie sie sie mit Rehgulasch füttern an einer Feuerstelle, wo Postsäcke & nicht zustellbare Pakete verbrannt werden, bis sie wieder zu Sinnen kommt. Wie sie, nach ein paar sich zaghaft gestaltenden Tagen & Nächten mit den Kollegen vom Postamt, mit einem jungen Deutsche-Post-Kameraden eheähnlich verkehrt, daraufhin schwanger wird & man ihr beibringt, sich hauptsächlich von Milch & Fleisch & Feigen zu ernähren & wie man in der Toilette/Spüle, Nur für Angestellte, ein Bad nimmt. Wie sie sich an Unbeschäftigtsein gewöhnt & Disziplinlosigkeit & daran, schlichtweg gar nichts zu machen, es sei denn, sie hat Bock darauf.
3. KAPITEL
Wie sechs bis acht Wochen später sich die Autorin dortselbst eingelebt hat & die Gebräuche der anderen angenommen & die Anzüge aus Biber Fellen & die Besondere Tracht, gefüttert mit geschredderten Briefumschlägen, verziert mit Heftklammern & verschiedenfarbigen Klebepunkten. Beschreibung von essbaren Pflanzen & Tieren, die in diesem Habitat anzutreffen sind, in Worten, die all ihre Anatomien & Verwendungszwecke klären; ergänzt durch die Gründe, warum sie nicht außerhalb des Postamts leben wollen & die Methoden, wie dies wiederum dort öffentlich bekannt gemacht wird. Querschnittsgrafik des Inneren der Postverteilstelle der Deutschen Post; ihre Gliederung auf wunderbare Weise an Tierhaltung & kleinerer Feldfruchtkultivierung orientiert, versorgt durch ein Aquaponik System, das, unter anderem, auch Welse, Karpfen, Brunnenkresse, Radieschen, Rüben, Kürbisse, Erbsen, Blumenkohl, essbare Blumen & Gurken gedeihen lässt; kurzer Seitenblick auf einige bedrohlichere Kreaturen wie Kreischeulen & Füchse & andere Räuber, die zuweilen das Gebäude heimsuchen, ihre Beutezüge steter Quell andauernder Angst & erheblicher Ressource Drain. Erschreckend & Wahrhaftige Erfahrungsberichte über nächtliche Angriffe; Gefahren aus dem Dunkel im Allgemeinen; die Zeit, die die Autorin schlummernd verbrachte, während sie die Vier Registrierkassen, Pflanzen & Tiere bewachte & die verdiente Demütigung & die brutale öffentliche Rüge der Autorin im Anschluss daran.
4. KAPITEL
Wie die Autorin unter einer Supervisorin, einer Mentorin, ihren Dienst versieht. Beschreibung der Supervisorin & Ihres Charakters. Wie sich die Supervisorin im Raum visuell zur Geltung bringt, knallbunt paradierend, schlechtsitzende Häute, absichtliche Erweiterung ihres Körperumfangs durch Verzehr Reichhaltiger Mengen von Nahrungsmitteln, die Eigentlich Für Alle bestimmt sind; fahles Fleisch, das sich vom unteren Rand ihres Wamses aus Bären Fell ausbreitet & Reithosen so knapp, dass sie weder gehen noch sich hinsetzen kann. Die Art & Weise, wie die Supervisorin die Autorin mit Bemerkungen über postalische „Schlitze“ klein macht & peinigt, wie sie Büroklammern in die Vagina der Autorin einführt, wenn diese im sanften Schlummer liegt & wie sie die Bären Haut der Autorin mit goldfarbenen Aufklebern & Reißnägeln & neonfarbenen Haftnotizen besudelt & Ein Mal den Hals der Autorin beinahe in den Paket Kartonagen Vernichter (!) gesteckt hätte. Wie die Autorin sich tagelang nicht zu rühren vermochte, weil sie ganz steif vor Angst war, schließlich aber doch ihr Selbstvertrauen wiedergewann, Triumphierte & auf Rechtschaffene Weise die Supervisorin Meuchelte, als Diese gerade einen Kunden bediente & was dieser angesichts all dessen zu sagen hatte. Absatz über die Entsorgung menschlicher Kadaver.
5. KAPITEL
Wie die Autorin – die, verherrlicht & blutig von der Schlacht, von der Supervisorin die ganze Tierherde, zwei Ehemänner & etliche wertvolle, dekorative & medizinisch verwertbare Pflanzen übernahm – vom Schalterbereich der Eingangshalle tief in die Inneren Heiligtümer von Paket Entpackung & Vernichtung vordrang, wo sie Beifall & Respekt ihrer Kollegen auskostete & genoss. Kurze Behandlung der Frage über die Natur der Macht. Ballen von zerlegten Karton Schachteln werden in Brand gesteckt, dann die Flammen mit Wasser aus dem Aquaponik Tank gelöscht. Beschreibung frohlockenden Jubilierens & Musik in der Nacht, eine eruptive Symphonie, tiefe Dreh Leiern, Schrille Trompeten, Dudelsäcke, Salz-Fässchen, Pfeifen & Kessel Pauken. Wie der Bauch der Autorin mit dem Fell von Rotwild & Taffet bedeckt & umwickelt wird & wie ihre Hände bemalt werden & eine Kappe neonfarbigen Pappkartons auf ihr Haupt gedrückt, Braunes Packpapier auf ihre Beine & je eine einzelne Briefmarke hohen Wertes auf jedes ihrer Augen gelegt wird. Wie die Autorin auf eine Totenbahre gebettet & sich großer Beliebtheit erfreuend zur Abstellkammer gebracht wird, worin sie hernach die Geburt ihres Kindes erwartet.
6. KAPITEL
Geburt des Kindes: ein Sohn! Wie die Autorin in der Abstellkammer das Kind gebiert, in Hockstellung, bei ihr alte Weiber des Postamts, welche den Unterleib der Autorin massieren & kneten, dabei bündelweise Salbei & Schmierpapier verbrennend, um die Abstellkammer zu purifizieren; & der Mutterkuchen auf einen Kaktus geworfen wird. Wie das Kind mit Verpackungs-Klebeband an einem Stück gebogenen Plastik befestigt wird, das von seinem Körper nur den Kopf frei lässt, woraufhin die Autorin das Bündel nehmen kann & es an ihre Brust halten, um es zu füttern. Wie das Kind gefatscht in einem kleinen Käfig eingelegt wird, der sich unmittelbar vor der Abstellkammer befindet; damit die Autorin auch schlafen kann & wie das Kind drei bis vier Mal täglich aus seinem Käfig genommen wird, zwischen den Beinen geschreddertes Papier & frisches Moos, die dazu bestimmt sind, die natürlichen Ausscheidungen aufzusaugen. Wie die Autorin in der Abstellkammer auf einer etwas erhöhten Plattform schlummert, die aus Gepolsterten Versandtaschen gefertigt ist & mit Häuten & Fellen bedeckt & wie sie dort verbleibt, bis ihre nächste Monatsblutung einsetzt (nach acht bis zehn Wochen). Wie ihr Speiseplan für einige Tage auf Brühe beschränkt wird, die aus Gekochten Rüben & Beeren & Gekautem Kaffeesatz bereitet wird. Wie das Kind sehr krank wird.
7. KAPITEL
Wie die Langeweile sich breit macht. Wie die Autorin wieder Freizeitaktivitäten außerhalb der Abstellkammer aufnimmt; die Vernichtung der Feldfrüchte & der Tiere jedoch bedeutet im Grunde, dass sie dazu gezwungen ist, sich wieder hinzuhocken & Schalter-Aufgaben zu übernehmen, um an Essen & Pakete zu kommen. Tödliche Abneigung den Kunden gegenüber stellt sich ein; das führt zu gewissen Vorfällen. Ein Bündnis konstituiert sich & Deutsche Post verfällt in den niederträchtigen Zustand der Rohheit; was zu Faustschlägen & nächtlichen Prügeleien führt, Gliedmaßen & Köpfe werden in großem Zorn abgeschlagen. Das Kind der Autorin stirbt. Die Autorin trauert Verzweifelt, lässt ein Feuer Tag & Nacht brennen & verletzt sich in einem Verzweiflungs Anfall selbst mit einem Brief Öffner. Sie Verzehrt Reichhaltige Mengen von Nahrungsmitteln, die Eigentlich Für Alle bestimmt sind & außerdem noch unzureichend vorhanden & wird fett wie ein Mastschwein. Die Bündnispartner beschließen sie zu vertreiben.
8. KAPITEL
Wie dies letztendlich dazu führt, dass man der Autorin jedwede Nahrung für aufeinanderfolgende Tage & Wochen vorenthält. Wie die Autorin, hungernd & ausgemergelt, schließlich geschlagen durch die Doppel Schiebetür aus Glas hinausschlüpft, Keinem zum Abschied den Gruß entbietet & auf der Straße landet. Von Armut Niedergedrückt & von Sexuell Übertragbaren Krankheiten, Seelisch Labil überlebt sie sechs Tage in der ungeheuren Weite der Großen Stadt. Beobachtungen über deren Reichtum & Gestank.
Erstveröffentlichung
Fiktion, Berlin 2015
www.fiktion.cc
ISBN: 978 3 944818 87 0
Projektleitung
Mathias Gatza, Ingo Niermann (Programm)
Henriette Gallus (Kommunikation)
Julia Stoff (Organsiation)
Übersetzung aus dem Englischen
Andreas L. Hofbauer (Charis Conn, Kenneth Goldsmith, Boris Groys, Amy Patton, Emily Segal, Jenna Sutela / Elvia Wilk, Alexander Tarakhovsky, Jacob Wren), Sophie Jung (Sophie Jung), Yolanda Vögtle (Quinn Latimer)
Deutsches Lektorat
Mathias Gatza
Korrektorat
Rainer Wieland
Englisches Lektorat
Alexander Scrimgeour
Design Identity
Vela Arbutina
Programmierung
Maxwell Simmer (Version House)
Das Copyright für die Texte liegt bei den Autoren.
Fiktion wird getragen von Fiktion e.V., entwickelt in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.
Fiktion e.V., c / o Mathias Gatza, Sredzkistraße 57, 10405 Berlin
Vorstand
Mathias Gatza, Ingo Niermann
Vereinsregisternr. VR 32615 B beim Amtsgericht Charlottenburg (Berlin)