Francis Nenik
MÜNZ-
GESTEUERTE
GESCHICHTE

Das hier ist für euch.

Die Utopie ist nicht nur eine Frage der Zeit,
sondern auch eine des Raumes.

I

Am 31. Oktober 1963 trat William Croswell in Amanda Hollis’ Leben. In einer Pappbox. In 234 Teilen.

Er war ein Geschenk der New England Historic Genealogical Society und Amanda Hollis dazu auserkoren, ihn wieder zusammenzusetzen und einen Mann aus ihm zu machen. Dass William Croswell zu diesem Zeitpunkt bereits einhundertneunundzwanzig Jahre tot war, war nicht weiter schlimm. Im Gegenteil, es war geradezu die Voraussetzung, um in Amanda Hollis' beständig schwitzenden Händen zu landen.

Sie, deren vollständiger Name Amanda Susan Marie Hollis lautete, hatte an der Drexel-University in Philadelphia Bibliothekswissenschaften studiert und am 28. März 1956 um Punkt 18 Uhr ihre Abschlussurkunde erhalten – und das war auch schon alles, was sich über ihre Studienzeit und im Grunde auch über ihre Jugend sagen ließ. Zwei Stunden nach der Urkundenübergabe explodierte in Philadelphia der direkt neben der Universität liegende Getreidespeicher. Der durch die Market Street rasende Feuerball beschädigte das Studentenwohnheim, und die dazugehörige Schockwelle zersiebte sämtliches Glas im Umkreis von 200 Metern. Amanda Hollis war mit einem großen Knall ins Erwachsenenleben getreten, und es gab kein Zurück.

Also war sie nach Harvard gegangen, noch bevor der Sommer begann, und hatte im Büro des Personalleiters der Universitätsbibliothek ihre Urkunde auf den Tisch gelegt. Sie tat es nicht, um eine Karriere zu starten oder einem renommierten Hause zu dienen, es war überhaupt keine Frage der Qualität, sondern eine der Zahl, eine einfache Rechnung, in der sie, Amanda Hollis, die einzige Unbekannte war.

Die Universitätsbibliothek von Harvard jedenfalls, das wusste sie, war die größte des Landes, ja die größte wissenschaftliche Bibliothek der Welt, und deshalb, so dachte Amanda Hollis, war dort am ehesten eine Stelle für sie frei. Außerdem trug sie – dem Kurs über randständiges Bibliothekswissen bei Prof. Orscube sei Dank – den Namen eines englischen Exzentrikers, der der Universität von Harvard zweihundert Jahre zuvor Tausende Bücher geschenkt und obendrein noch ein nettes Sümmchen vermacht hatte, nachdem die dortige Bibliothek komplett abgebrannt war, und wer weiß, vielleicht würde der Personalleiter ja ihren Namen mit dem seinen verbinden, an das ebenso dezente wie beeindruckende Fortleben einer großen Tradition denken, in ehrfurchtsvoller Anerkennung stumm nicken und – aus genau diesem Grund – von jenen Nachfragen absehen, die klarmachen würden, dass sie, Amanda Hollis, mit Thomas Hollis dem V. nicht nur nicht verwandt, sondern auch sonst das größtmögliche Gegenteil eines englischen Exzentrikers war.

Also fuhr Amanda Hollis an einem verregneten Maitag des Jahres 1956 nach Harvard, legte dem Personalleiter ihre Urkunde auf den Tisch und wartete darauf, dass etwas passierte. Aber der Personalleiter sagte kein Wort und schaute sie lediglich an, als fehle noch was.

Aber in Amanda Hollis' Leben gab es nichts außer der Urkunde und ihrer Person. Und beide waren hier, waren anwesend im Raum, wie man nur in einem Raum anwesend sein konnte, wobei die Sache mit der Anwesenheit im Falle von Amanda Hollis für ihren eigenen Geschmack ruhig ein bisschen, nun ja, weniger umfangreich hätte ausfallen können.

»Meine Urkunde liegt einsam und verlassen auf dem Personalleitertisch, während ich auf einem Stuhl sitze, der viel zu schmal für mein Hinterteil ist«, dachte sie, während das Schweigen auf der anderen Seite die Größe der Bibliothek von Harvard annahm. Aber von der Bibliothek war keine Rede. Es war überhaupt von nichts eine Rede, und deshalb musste es außer ihr und der Urkunde noch ein Drittes geben. Aber was?

Amanda Hollis überlegte. Und war kurz davor, zu erzählen, wie das war, damals, als Thomas Hollis in England Bücher für die Bibliothek in Harvard aussuchte, ihr Äußeres mit teuren Einbänden und obskuren Insignien verzierte und das Innere mit Anstreichungen und Kommentaren versah, die Bücher anschließend in riesige Holzkisten packte und sie schiffeweise über den Ozean schickte, um das zu werden, was man Harvards allergrößten Bücherspender nennt, und wie er dann, am Neujahrstag 1774, ganz plötzlich verstarb und sich auf einem Feld seines Anwesens begraben ließ, zehn Fuß tief und ohne ein Buch unten im Sarg, dafür aber mit einem Pferd oben auf dem Acker, das das Feld, kaum dass Thomas Hollis der V. unter der Erde war, umpflügen musste, ganz einfach, weil er ein englischer Exzentriker war und es sich so gewünscht hatte und außerdem weder Frau noch Kinder besaß, die ihn an seinem Grab hätten besuchen können, was freilich die Verbindung zu ihr, Amanda Hollis, sofort gekappt hätte, und deshalb schwenkte sie – den Kopf in den endlosen Annalen der Bibliothekswissenschaft und das Hinterteil in einem zu engen Stuhl – um und erzählte dem Personalleiter der Bibliothek von Harvard von der Urkunde, die ihr Prof. Orscube am 28. März in die Hand gedrückt hatte, und dem, was danach passiert war.

Sie tat es, weil sie hoffte, auf diese Weise das, was hinter ihr lag, mit dem, der vor ihr saß, verbinden zu können. Außerdem, so schien ihr, war es die einzige Möglichkeit, die Unbekannte in ihrer Rechnung zu tilgen.

Und so begann sie und berichtete von jenen Menschen, die am Abend des 28. März 1956 in Philadelphia auf der Straße knieten und beteten, während sie, Amanda Hollis, im Studentenwohnheim vor ihrem Bett stand, die Urkunde in den Händen hielt und aus dem Fenster sah, dessen Scheibe vor ihr auf dem Fußboden lag wie ein Puzzle, das darauf wartete, endlich zusammengesetzt zu werden.

Draußen aber war alle Ordnung dahin, war ganz Philadelphia in ein tief orangefarbenes Licht getaucht, das Bürogebäude gegenüber von seiner Hülle befreit und seltsam verbogen, dazu lodernde Feuer, Sirenengeschrei, aufgerissene Münder und Wände, wohin man auch blickte, und sie, Amanda Hollis, mittendrin und doch allem enthoben, oben, in der vierten Etage des Studentenwohnheims, zu dessen Füßen Menschen auf der Straße knieten und beteten, zwischen verbogenen Stahlträgern und sich krümmenden Häusern, an diesem schiefen Mittwoch, diesem Unglückstag, an dem der Herr verkauft und verraten worden war, da stand sie vor ihrem Bett, dessen Decke zurückgeschlagen war, als sei die Druckwelle darunter gefahren, und wusste doch, dass sie es gewesen war, die sie zurückgeschlagen hatte, ganz einfach, um schlafen zu gehen, weil sie morgen früh raus musste, um in der Kirche die Karmette zu feiern.

Jetzt aber, wo die Welt um sie herum explodiert war, war an Feiern nicht mehr zu denken, und als Amanda Hollis sich fragte, was ihr im Angesicht der Katastrophe noch blieb, fiel ihr Blick auf die Urkunde in ihren Händen. Also legte sie sich ins Bett, begrub ihren bekleideten Körper unter der Decke, legte die Urkunde obendrauf und wartete, dass jemand kam und sie beide holte.

Als es soweit war, ließ sie alles mit sich geschehen, ließ sich aus dem Wohnheim führen, in eine Turnhalle bringen und in den Tagen danach die ganze Geschichte erzählen, um zwei Monate später alles wieder hervorzuholen, sich selbst, die Urkunde und die Geschichte dahinter. Und zu guter Letzt noch jene Zahlen, die sie in Philadelphia alle auswendig kannten: drei Tote, achtzig Verletzte und eine Sprengkraft von 1.100 Pfund Dynamit, Resultat einer zu hohen Staubkonzentration im Getreidespeicher der Stadt.

Als Amanda Hollis mit ihrer Erzählung fertig war, schaute sie den Personalleiter erwartungsvoll an, doch schaute der ganz und gar teilnahmslos zurück, falls von so etwas wie Zurückschauen überhaupt die Rede sein konnte, denn tatsächlich starrte er einfach nur durch sie hindurch, als sei die richtige Kandidatin soeben hinter ihr in der Tür aufgetaucht. Also drehte sich Amanda Hollis um, sah, dass die Tür geschlossen und auch sonst niemand im Raum war – und drehte sich wieder zurück, um weiter durchstarrt und angeschwiegen zu werden.

»Er muss mich sehen, aber er sieht durch mich durch, als sei ich noch nicht mal im Raum«, kam es Amanda Hollis in den Sinn. »Andererseits, vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, vielleicht sieht er ja gar nicht durch mich hindurch, sondern reicht mit seinem Blick überhaupt nicht zu mir. Weil er auf dem Weg von seiner Seite des Tisches auf meine mit etwas zusammengestoßen ist. Etwas, das ich nicht sehen kann.«

Aber was konnte das sein? Der Geist von Harvard? Eine übermäßige Konzentration von Gedanken in der Luft? Die Fiktion eines Pferdes, das statt auf einem Acker auf einem Schreibtisch rumstand?

Amanda Hollis hatte nicht den Hauch einer Ahnung, doch schien ihr die Vorstellung eines Zusammenstoßes so falsch nicht zu sein, denn kaum dass der Gedanke gedacht war, prallte der Blick des Personalleiters gegen etwas, das Amanda Hollis’ Augen entzogen über der Tischplatte thronte, fiel senkrecht nach unten und klatschte auf die Urkunde.

Leider war die anschließende Untersuchung des Papiers nicht von der Art, die Amanda Hollis sich ausgemalt hatte, denn statt sich ihre Qualifikationen anzuschauen, sah es aus, als suche der Personalleiter in der Urkunde nach den Resten der Explosion, als glaube er, ihren Niederschlag darin zu finden.

Aber da war nichts, nichts außer einem Stempel, zwei Unterschriften und drei Zeilen Text, und Amanda Hollis wusste, dass das die maximale Eindampfung eines Lebens war, von dessen größtmöglicher Ausdehnung sie soeben berichtet hatte.

Und das war der Moment, in dem sie erkannte, dass es keinen Sinn hatte, es hier weiter zu versuchen. Die Bibliothek von Harvard war ein paar Nummern zu groß für sie. Oder sie zu klein. Oder beides. Jedenfalls passte es einfach nicht, und einen Job hatten sie wahrscheinlich auch nicht zu vergeben.

Also stand sie auf und reichte dem Personalleiter die Hand. Das heißt, eigentlich reichte sie ihm beide Hände – mit der einen wollte sie sich verabschieden und mit der anderen ihre Urkunde zurück. Nur waren Absicht und Wirkung ein wenig verschieden, wodurch die ganze Aktion eher den Eindruck eines plumpen Annäherungsversuchs denn den einer galanten Verabschiedungsgeste erweckte, was zweifellos auch daran lag, dass nicht nur Amanda Hollis, sondern auch ihr Stuhl mit aufgestanden war und ihr wie ein überdimensionierter Melkschemel am Hinterteil festklemmte.

Und so kam es, dass Amanda Hollis ihre Hände zurückzog, sie auf die Armlehnen des Stuhles legte, den Stuhl auf den Boden presste und, kaum dass das getan war, ihren Hintern folgen ließ, das heißt ihn – schlipp, schlupp – zwischen den Armlehnen hindurch zurück auf die Sitzfläche zwängte, woraufhin der Personalleiter – vielleicht verängstigt, vielleicht verwundert, vielleicht aber auch einfach nur verspätet – sein Schweigen brach.

»Amanda Susan Marie Hollis«, sagte er, und es klang, als würde er den Namen von der Urkunde ablesen, was daran lag, dass er den Namen tatsächlich von der Urkunde ablas. Dann hob er den Blick und schaute sie an, als hätte er erst jetzt bemerkt, dass sie vor ihm saß, leibhaftig und nicht nur auf dem Papier, und fragte: »Sind Sie bereit, am Unterhemd von Heinrich dem Ermahner zu riechen?«

Amanda Hollis glaubte, sich verhört zu haben.

Amanda Hollis glaubte, im Kopf nicht ganz richtig zu sein.

Aber der Personalleiter wiederholte die Frage noch mal.

»Amanda Susan Marie Hollis, sind Sie bereit, am Unterhemd von Heinrich dem Ermahner zu riechen?«

Nun, was sollte sie darauf antworten? Von einem Heinrich dem Ermahner hatte sie noch nie was gehört, und auch sonst schien die Sache von eher zweifelhaftem Charakter zu sein. Was den Personalleiter freilich nicht davon abhielt, eine weitere Frage von derselben Sorte zu stellen.

»Interesse am Rohrstock von Präsident Chauncey?«

»Der Mann ist kein Personalleiter, sondern ein Perverser«, durchfuhr es Amanda Hollis. Allerdings nur in Gedanken, derweil der polymorphe Perverse vor ihr die dritte und offensichtlich alles entscheidende Frage stellte, denn er stand auf und beugte sich über den Tisch und die Urkunde zu Amanda Hollis, die auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen versuchte, es nicht schaffte und die Breite ihres Hinterns verfluchte.

»Mein Arsch verhält sich zu diesem verdammten Stuhl wie Harvard zu mir«, kam es ihr unvermittelt in den Kopf, doch hatte der, der mit seiner Nasenspitze jetzt fast die ihre berührte, ganz andere Gedanken.

»Lust, unter Tage zu arbeiten?«

Nun, das klang verdächtig nach einem Jobangebot, war wahrscheinlich aber nur die nächste Schweinerei, verklausulierter als die beiden zuvor, ansonsten aber vom selben Charakter und obendrein noch mit dem erwartungsvollen Gesicht eines Personalbürohengstes im mittleren Alter garniert, was allein schon Grund genug war, die Sache hier abzublasen, nur wusste Amanda Hollis nicht, wie sie das tun, wie sie verneinen sollte. Also sagte sie »Ja«, und dann noch »Natürlich«, und dann gab es keine Fragen mehr.

Kurz darauf wurde die Urkunde auf dem Tisch gegen eine neues Stück Papier ausgetauscht, und nachdem Amanda Hollis ihrem Gegenüber dabei zugesehen hatte, wie er stumm ihren Namen eingetragen, seinen Stempel draufgesetzt und das Blatt unterschrieben hatte, bekam sie es von ihm überreicht, wozu sie ordnungsgemäß aufstand und eine Hand zu schütteln versuchte, die sich ihr nicht darbot. Also setzte sie sich wieder, wunderte sich, dass der Stuhl nicht mit aufgestanden war, betrachtete, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, ihre Finger, die schon wieder schweißnass waren und wartete darauf, dass irgendwo in der Nähe ein Getreidespeicher explodierte.

Aber nichts passierte, und auch der Personalleiter hatte sich wieder aufs Starren und Schweigen verlegt, weshalb es den Anschein hatte, als sei sie, Amanda Susan Marie Hollis, schon gar nicht mehr im Raum und existent nur noch auf dem Papier. Also inspizierte sie das Blatt in ihren Händen, las ihren Namen, dachte an nichts Böses, sah als künftigen Arbeitsort »Pussy Library« eingetragen, sah den Personalleiter entgeistert an, erntete weder eine Reaktion noch einen Laut, schaute noch einmal auf das Papier, las »Pusey Library« und verließ eilends das Büro.

Der Weg, den sie nahm, war nicht das Resultat einer inneren Stimme, der sie folgte, sondern einer Karte, die sie führte. Sie war an das Stück Papier angeheftet, das sie bekommen hatte und lotste Amanda Hollis quer über eine regennasse Wiese und unter triefenden Magnolienbäumen hindurch in Nathan Puseys Untergrundbibliothek, einem vierzig Fuß tiefen Loch im Boden, das außen mit Beton ausgekleidet und innen mit Büchern und Akten vollgestellt war. Es war ein Ort, an dem kein Sonnenstrahl die Verblichenen traf und kein Feuerball die Lebenden verbrannte. Und dort blieb sie. Und verlor ihre Unschuld. An einen Haufen Toter, deren Größe sich in Regalmetern maß.

Das war vor siebeneinhalb Jahren, und als Amanda Hollis am 31. Oktober 1963 William Croswells Leben vor sich auspackte, spürte sie mehr als jemals zuvor, dass ihr eigenes dabei war, zu vergehen – spurlos und an ihr vorüber. Und die Tatsache, dass sie in zwanzig Tagen dreißig Jahre alt wurde und ein Viertel ihres Lebens in acht Metern Tiefe unter dem Campus von Harvard im universitätseigenen Archiv verbracht hatte, war nur der zahlenmäßige Ausdruck des ganzen Dilemmas.

»Die Tage sind wie Sandkörner in einer Uhr«, dachte Amanda Hollis, während sie den frisch angekommenen William Croswell Blatt für Blatt entkleidete, »sie sind durch nichts aufzuhalten und verrieseln vollkommen lautlos. Und wenn man die Uhr umdreht, so ändert das auch nichts. Man müsste das Stundenglas quer legen und ein Sandkorn in der Einschnürung fangen, genau dann, wenn es dabei ist, nach unten zu fallen.«

Ein in einer Einschnürung gefangenes Sandkorn, das war die Freiheit, von der Amanda Hollis träumte.

II

Nach allem, was der Genealogen-Box zu entnehmen war, war William Croswell 1760 auf die Welt gekommen und hatte sie 1834 wieder verlassen. Dazwischen lag ein Leben, das, so wie es sich vor Amanda Hollis’ Augen entblätterte, vor allem aus Briefen, Tagebucheinträgen, Zeugnissen, Empfehlungsschreiben, Mietverträgen und Rechnungen bestand.

Es schienen vierundsiebzig höchst langweilige Jahre gewesen zu sein. Zumindest auf den ersten Blick. Der zweite indes machte die Sache nur noch schlimmer, denn kaum dass Amanda Hollis William Croswell aus der Box genommen und ihn auf dem Tisch ausgebreitet hatte, bekam sie – aus einem anderen Teil des Archivs, von einer anderen Person mit lautlos verrieselnden Träumen – die Geschichte seines Harvarder Studentenlebens serviert. Einstufungsergebnisse, Vorlesungsverzeichnisse, Krankenbescheinigungen, weitere Briefe, weitere Rechnungen, weitere Zeugnisse. Empfehlungsschreiben: Fehlanzeige. Aber immerhin hatte William Croswell am 21. April 1780 auf Latein eine Ode auf die Astronomie zum Besten gegeben.

Der Rest des Tages war schnödes Auspacken und stupendes Sortieren, und als Amanda Hollis am späten Nachmittag damit fertig war, lag William Croswell in nunmehr 526 Teilen vor ihr auf dem Tisch. Er erinnerte sie an die Scheibe, die damals im Studentenwohnheim auf dem Boden gelegen hatte. Mit einem Unterschied: Diesmal galt es, das Puzzle tatsächlich zusammenzusetzen – und sie war diejenige, die dafür verantwortlich war.

Aber was sollte sie auch anderes tun? Der Raum, den man ihr gegeben hatte, besaß kein Fenster, und die Welt um sie herum bestand aus Papier. Das war die Aussicht. Das war sie seit siebeneinhalb Jahren. Und daran würde sich in den nächsten dreißig Jahren aller Voraussicht nach auch nichts ändern.

Als Amanda Hollis kurz nach 18 Uhr aus dem Loch im Boden zurück auf die Wiese kraxelte, die das Dach der Untergrundbibliothek bildete, hoffte sie einen Moment lang auf eine Katastrophe, auf Feuer, betende Menschen, Geschrei, aber alles, was sie fand, waren zwei Studenten, die sich im Regen über irgendwas Unverständliches stritten, und ein Bus, in den sie stieg, um zurück zu ihrer Wohnung zu fahren, wo sie ein fetter, fleischiger Kürbis empfing, der vor ihrer Tür stand und sie angrinste, als wolle er ihr zeigen, dass es nur eine einzige Sache gab, die hier und heute tieforange leuchtete.

Am darauffolgenden Tag – es war ein Freitag und es hatte die ganze Nacht über geregnet – kroch Amanda Hollis um kurz vor acht zurück in den Betonbunker, der der Schlussstein all der Ambitionen war, die sie nie hatte, und als sie die Tür ihres Zimmers öffnete, fand sie auf ihrem Schreibtisch eine weitere Box.

Sie sah nicht anders aus als die beiden, die sie gestern bekommen hatte, nur dass auf dieser hier ein Etikett klebte, darauf die Worte »William Croswell, Buchtitelkatalogisierer, Harvard College Library.«

Es musste wirklich ein schrecklich langweiliges Leben gewesen sein.

Allein, das änderte nichts an der Sache, ja im Grunde bestätigte es sie sogar, denn sie, Amanda Susan Marie Hollis, war dazu da, noch das langweiligste Leben mit großen Schlagworten zu versehen und selbige fein säuberlich auf jene Karteikarten zu schreiben, die man hier in Pusey Katalogkarten nannte und deren Größe auf exakt 7,5 x 12,5 Zentimeter festgelegt worden war.

Das war der Raum, den Amanda Hollis füllen musste. Der Raum, in dem sie sich austoben durfte. Dass sie dabei nicht über die Stränge schlug, dafür sorgten die Schlagworte selbst – und die Tatsache, dass es darum ging, mit ihrer Hilfe einen Index zu erstellen, anhand dessen nicht nur die ruhmreiche Geschichte von Harvard und seiner Bibliothek erforscht und erzählt werden konnte, sondern sich auch die Fortschritte in der Buchtitelkatalogisierung feiern ließen, samt der dazugehörigen Heldentaten, vollbracht mit Füller und Papier.

Und selbst wenn das keinen interessierte und William Croswell nur ein unbedeutender Baustein in den heiligen Hallen von Harvard war – es war ihre Pflicht, an der papiernen Registratur der Universität weiterzuschreiben und alles Leben zu indizieren, das dem großen Harvard gedient hatte, auch wenn es schon hundertneunundzwanzig Jahre vorbei, überaus langweilig und in Form einer Pappurne von irgendeiner genealogischen Gesellschaft aus der Papiergruft gezogen worden war.

Im Übrigen hatte der Leiter des Archivs, ein kleiner pergamentfarbener Mann, der auf den Namen Heath Cover Evil hörte, nie schlief und nachts wie Krepppapier raschelnd durch sein Reich streunte, sich während ihrer Abwesenheit Zugang zu ihrem Zimmer verschafft und Box Nummer drei einer Aufforderung gleich auf dem Tisch platziert, es dabei jedoch nicht belassen, sondern bei der Gelegenheit auch noch einen Zettel auf die Box der Genealogen-Gesellschaft geklebt, auf dem stand: »Benöt. WC IA ei ei ei!«, was zweifellos »Benötige William-Croswell-Index für einen Aufsatz, eilt, eilt, eilt!« hieß.

Amanda Hollis nahm den Zettel, klebte ihn sich – ob aus Protest oder als Zeichen der Resignation, wusste sie selbst nicht genau – auf die Stirn und widmete sich der neu angekommenen Box Nummer drei. Abgesehen von ihrem Etikett war sie mit den anderen beiden identisch, ein Folio-Faltkarton in Mausgrau, mit einer Pappklappe vorn dran und einer Größe von 380 x 255 x 110 mm, das ganze absolut rechteckig und laut Aufdruck säurefrei und basisch gepuffert.

Amanda Hollis öffnete die Klappe und ließ die Reste des Buchtitelkatalogisierers William Croswell ins Licht gleiten. Dann zählte sie, was von seiner Bibliothekars-Existenz übrig geblieben war. Es waren 388 Aktenstücke, was in der Summe ein Lebenswerk von 914 Blatt Papier ergab. Ganz unten in der Box aber fand Amanda Hollis einen Geldschein. Es waren einhundert Britische Pfund, ausgestellt von der Bank von England.

Vielleicht, so dachte sie, hatte William Croswell ja doch nicht so ein langweiliges Leben gehabt.

Als sie mit dem Sortieren fertig war und alle Blätter paginiert, das heißt durchgezählt und die Zahl oben rechts mit Bleistift aufs Papier geschrieben hatte, erinnerte sich Amanda Hollis an den Notizzettel, der noch immer auf ihrer Stirn klebte.

Sie überlegte kurz, ihn kleben zu lassen und sich später, zu Hause, damit vor den Spiegel zu stellen, um sich selbst zu zeigen, was sie hier unten eigentlich tat, womit sie ihr Leben verbrachte. Aber dann befand sie, dass das keine gute Idee war, riss den Zettel ab, knüllte ihn zusammen, öffnete auch die Klappen der beiden anderen Kartons vor sich auf dem Tisch, schloss die Augen, tat mit der Hand so, als würde sie winken – und warf. Dann schloss sie die Klappen und öffnete die Augen. Der Zettel war verschwunden.

Und so ging Heath Cover Evils Aufforderung, Schlagworte zu schreiben und einen Index zu erstellen, dahin, wurde dechiffriert, zusammengeknüllt und zum unsichtbaren Glücksbringer eines Hütchenspiels ohne Hütchen gemacht, und während Amanda Hollis auf ihrem Stuhl saß und, statt sich dem Papier auf ihrem Schreibtisch zu widmen, auf die Weltkarte starrte, die über ihm angebracht war, wurde ihr klar, dass Heath Cover Evil nicht nur keine Lust, sondern auch keine Veranlassung hatte, höchstselbst durch die Untiefen von William Croswells Papierleben zu schippern, schließlich hatte er sie, Amanda Susan Marie Hollis – was auch der Grund war, warum er so drängen konnte.

»Für Heath Cover Evil bin ich die perfekte Entschuldigung«, dachte Amanda Hollis, »eine Katalogisierungstante mit Stichwortgeberfunktion.«

Und weil sie einmal dabei war, sich mit den Augen anderer selbst anzuklagen: »Mit William Croswell erfüllt sich mein Schicksal. Denn wozu braucht einer sonst eine studierte Bibliothekswissenschaftlerin mit Erfahrung im Schlagworte-Schreiben in seinem untergründigen Archiv, wenn nicht, um das Wirken eines Mannes zusammenzufassen, dessen Lebensaufgabe offensichtlich darin bestand, der Bibliothek von Harvard ein Verzeichnis ihrer sämtlichen Buchtitel zu liefern?!«

Und weil das noch immer nicht genug war (und Amanda Hollis glaubte, den Regen an den Außenseiten des Betonbunkers herablaufen zu hören):

»Heath Cover Evil will nicht nur, dass ich William Croswells Leben mit Tinte in Schlagworte gieße, ich soll ihm auch dabei helfen, aus den gesammelten Banalitäten jene zwei, drei Aktenstücke herauszusuchen, die auf die besonderen Leistungen im Leben dieses Buchtitelkatalogisierers verweisen. Dabei gibt es diese besonderen Leistungen gar nicht, und wenn, dann sind sie nichts anderes als die ebenso trockenen wie traurigen Höhepunkte, die jede Bibliothekarsexistenz aufzuweisen hat.

Heath Cover Evil aber ist das egal. Er wird die Aktenstücke dazu verwenden, um aus dem Leben eines Papiertigers ein abenteuerliches Epos zu machen und allen zu zeigen, dass selbst Menschen, deren Lebenssinn das geordnete Beschreiben von Katalogkarten ist, vom Geist Harvards befruchtet werden können.«

Was Amanda Hollis für eine ebenso versteckte wie direkt auf sie gemünzte Gemeinheit hielt, eine, die sie – da konnte sie tun, was sie wollte – mit voller Breitseite traf, und vielleicht, so dachte sie sich, war in diesem Fall Nichtstun, das heißt die gepflegte Ignoranz bei gleichzeitiger Besinnung auf die eigenen Kräfte (und das bedeutete: die eigene Nichtigkeit), das Beste, was sie machen konnte.

Immerhin, Heath Cover Evils Absichten waren damit geklärt und auch seine kleine Insulte hatte sich Amanda Hollis’ Dechiffrierkünsten nicht entziehen können, und das Einzige, was jetzt noch aufgedeckt werden musste, war der Ort der geplanten Publikation, doch ließ sich auch der nicht lange vor Amanda Hollis verbergen, denn sie erinnerte sich daran, dass auf dem Notizzettel, den sie in eine der drei Pappboxen geworfen hatte, der Schriftzug »The Register« aufgedruckt war – ein Titel, der, das wusste sie, Anmaßung und Abkürzung zugleich war und für eine Zeitschrift stand, die sich mit vollem Namen The New England Historical and Genealogical Register nannte, was – weiter gedacht – nur den Schluss zuließ, dass Heath Cover Evils Aufsatz in ebendiesem Journal erscheinen sollte, gewissermaßen als Gegenleistung für das Geschenk der Genealogen-Gesellschaft, das »Ich gebe damit du gibst« der Wurzelwerker, womit sich der Kreis schloss und Amanda Hollis das dumpfe Gefühl beschlich, Teil einer Geschichte zu sein, die in Pappboxen daherkam und aus nichts als Papier bestand, das von den Seilschaften alter Männer zusammengehalten wurde.

»914 Blätter und 100 Pfund von der Bank von England, und das Beste, was ich tun kann, ist, das verdammte Papier liegen zu lassen und frühstücken zu gehen«, sprach's und verließ den Raum, um im Archiv des Archivs ein paar Sloppy Joes zu verdrücken.

III

Der Weg ins Archiv des Archivs oder, wie Amanda Hollis ihn nannte, »den Keller« führte aus ihrem Zimmer nach links über einen langen Flur, zu dessen beiden Seiten, von dünnen Mauern verdeckt, ein Heer von Archivaren in fensterlosen Räumen über Papierbergen saß, derweil das Ende des Flurs von einer kleinen dicken hechtgrauen Tür markiert wurde, hinter der sich eine Rundtreppe in die Tiefe hinabschraubte.

Als Amanda Hollis die Tür öffnete, flammte ein Scheinwerfer auf. Er war direkt oberhalb des Türsturzes angebracht und warf seinen Lichtkegel hinab in die Tiefe, als sei das nicht nur der Weg, der zu gehen, sondern auch eine Aufforderung, der Folge zu leisten war.

Die Treppe, die sich vor ihr in den Keller hinabschraubte, bestand aus grobmaschigen Gitterroststufen, die sich unter ihren Füßen auffächerten und sich, Schritt für Schritt, um die eigene Achse drehten. Die Stufen selbst waren in der Mitte an einen dicken Holm angeschweißt, wurden nach außen hin breiter und erstrahlten statt in dem üblichen Zinkgrau in einem satten Honiggelb, und hätte Amanda Hollis genauer hingeschaut, so hätte sie bemerkt, dass die Stufen das Aussehen von Flügeln einer zukünftigen Rasse Insekten besaßen.

Aber Amanda Hollis hatte keine Augen für die futuristischen Feinheiten ferromonischer Fabrikate. Ihr Interesse galt einzig und allein jenen drei Sloppy Joes, die sie, in Aluminiumfolie gepackt, Tag für Tag in den Keller hinabschleppte, als seien sie Gefangene in den Katakomben eines geheimen Gefängnisses, Delinquenten auf ihrem Weg zurück in den Staub, Abgeurteilte, die noch ein letztes Mal hinaus in den Tag treten, nur um sogleich zum Richtplatz gebracht zu werden, wo schon der Henker auf sie wartet, begierig darauf, seine Arbeit zu tun, fernab aller offiziellen Geschichte, beschienen nur vom gleißenden Licht einer hoch stehenden Sonne, im Hinterhof der auf Gewalt und Gehorsam getrimmten Schule der Americas.

Aber ebenso wenig wie Amanda Hollis Augen für das hatte, was ihr zu Füßen lag, hatte sie Gedanken in ihrem Kopf, zumindest keine, die nicht aufs Essen gerichtet waren, und deshalb setzte sie sich, kaum dass sie am unteren Ende der Treppe angelangt war, Tag für Tag auf die vorletzte Stufe, wünschte sich selbst Guten Appetit und begann, ohne weitere Umschweife, Sloppy Joe Nummer eins zu entkleiden.

Was dann folgte, war für gewöhnlich ein lauthalsiges »Lecker!«, begleitet von einem letzten Blick auf den nackten Sloppy Joe in ihren Händen, einem sich genüsslich öffnenden Mund und zwei sich nicht minder genüsslich schließenden Augen.

Dann biss Amanda Hollis zu. Und biss und biss, bis es vorbei war. Sie hatte zwanzig Minuten. Sie brauchte nur neun. Drei für jeden Sloppy Joe, den sie verschlang. Mit ihrem Mund. Im Keller. In der Untergrundbibliothek. Ein Loch in einem Loch in einem Loch.

Und doch war dieser Raum der einzige, der ihr Halt gab, der Ort, an den sie sich seit nunmehr fast sieben Jahren zum Zwecke ihres Frühstücks zurückzog und überdies der einzige Platz in Nathan Puseys ganzer verdammter Untergrundbibliothek, an dem sie sich nicht mit irgendwelchen Akten rumschlagen musste, denn die lagen gut verschlossen in den großen, eisernen Schränken, die hinter der Treppe an der Wand aufgereiht standen wie riesige, stumme Wächter, deren Aufgabe es war, alle zu sammeln zum Zwecke ihrer späteren Vernichtung.

Während der Zeit ihres Frühstücks aber kümmerte sich Amanda Hollis nicht um die Schränke und dachte auch nicht an das, was sich in ihnen befand, sondern widmete sich einzig und allein ihren Sloppy Joes, und nie hätte sie, während ihre Augen vor Vorfreude glänzten und sich alles in ihr verzückte, daran denken können , dass das, was da warm und weich in ihren Händen lag, das perfekte Gegenstück zu den Arrestanten in den Archivschränken war, schließlich bestanden ihre Sloppy Joes nicht aus Papier, sondern aus Rinderhackfleisch, Tomaten und Zwiebeln, mit Wächtern aus Weißbrot statt Eisen.

Mit anderen Worten: Der Keller war für Amanda Hollis der Ort ihres Magens, nicht der ihres Kopfes, denn der gehörte in den Raum, der über ihr lag, in den Raum der Pappboxen, des Papiers und der Tinte. Dort war der Schlagwortraum, hier dagegen war der Raum, in dem sie sich den Magen vollschlagen konnte. Und zwar ungehindert. Denn das war ein weiterer Grund, weshalb sie jeden Tag hierherkam. Sie hatte einfach keine Lust, dass ihr jemand dabei zusah, wie sie ein Sloppy Joe-Sandwich nach dem anderen verdrückte. Noch nicht einmal die Frau, die sie vier Meter weiter oben war, sollte sie sehen. Deshalb musste sie eine andere werden. Hier unten. Im Keller. Und sei es auch nur für zwanzig Minuten.

Und warum auch nicht? Der Keller war Amanda Hollis' Anderswelt, ihr Augenblicks-Reich, und selbst wenn sie statt in einen Sloppy Joe in einen Apfel gebissen hätte, so wäre sie dennoch nicht wie die anderen Archivare nach oben, ins Freie gestiegen, um ihr Frühstück auf den Bänken zu sich zu nehmen, die auf dem Dach der Untergrundbibliothek standen, allein schon deshalb nicht, weil sie das eilige Herauskraxeln aus einem Betonbunker zum Zwecke der Nahrungsaufnahme deprimierend fand, und noch mehr die nach der Pause folgende Rückkehr in einen fensterlosen Raum.

Also stieg Amanda Hollis hinab in den Keller, um mit ihren drei Sloppy Joes alleine zu sein. Dass sie sie direkt nach der Ankunft alle verschlang und am Ende ihres Verzehrens, das heißt nach neun Minuten, nicht nur allein, sondern einsam war, war Teil der Geschichte. Ihr blieben dann immer noch elf Minuten, in denen sie die abgelegten Folienkleider einsammeln und ihrem Magen beim Verdauen zuhören konnte – und schließlich der Gang über die Rundtreppe nach oben, der nach dem großen Fressen etwas Befreiendes hatte.

Es war also kein Wunder, sondern Teil einer bereits sieben Jahre währenden Tradition, dass Amanda Hollis am 1. November des Jahres 1963 die Treppe hinab in den Keller stieg, sich auf die vorletzte Stufe setzte, die Beine ausstreckte und sich daranmachte, dem ersten ihrer drei Sloppy Joes den Kopf abzubeißen. Oder den Hintern, das war so genau nicht zu sagen. Andererseits war es auch egal, denn just in dem Augenblick, in dem Sloppy Joe Nummer eins geköpft (bzw. enthintert) werden sollte, sagte jemand »Hallo« und fragte, ob sie wisse, dass Amerika in großer Gefahr sei.

»Nein«, sagte Amanda Hollis mit offenem Mund, die Zähne kurz davor, sich tief ins Brötchen und von da aus weiter in die Tomaten-Zwiebel-Rinderhack-Pampe zu graben.

Aber dazu kam es nicht. Zumindest nicht jetzt, denn Amanda Hollis zog sich den schlackernden Sloppy Joe aus dem Mund und schaute sich um, um zu sehen, wer da mit ihr sprach.

Allein, es war niemand zu sehen, nur das reifendicke Rohr, das von jeher vor der gegenüberliegenden Wand den Raum in Hüfthöhe von links nach rechts querte, und so wie es aussah, saß auch heute niemand darauf oder hockte darunter, und alles, was Amanda Hollis blieb, war, die Glaswollmatten zu betrachten, mit denen das Rohr ummantelt und die dünne Schicht Aluminiumfolie, mit der es außen versteppt war. An einer Stelle aber, an der Unterseite des Rohres, war das Geflecht durchbrochen und ein kleines Lüftungsgitter eingesetzt worden.

Zum Glück war die Stimme so freundlich, innezuhalten und keine weiteren Fragen zu stellen, und erst als Amanda Hollis aufstand und ihr Ohr auf das Rohr presste, um sicherzugehen, dass sie halluzinierte, erfuhr sie, dass Amerika von einer Horde mongolischer Würmer bedroht wurde, die ihm seine Geschichte rauben und eine neue schreiben wollten.

»Oh«, sagte Amanda Hollis und hörte, wie unter ihrem Ohr das Glaswollmatten-Aluminium-Geflecht zu knistern begann. »Ich halluziniere.«

»Nein«, sagte die Stimme im Rohr.

»Oh«, sagte Amands Hollis nun schon zum zweiten Mal. Und dann: »Ich muss zu William Croswell, es eilt.«

Und schon machte sie auf dem Absatz kehrt, kreiselte die Treppe nach oben und schlug die kleine dicke hechtgraue Tür hinter sich zu.

IV

»914 Blatt Papier und 100 Britische Pfund, die werden mich wieder normal werden lassen«, beschwor sich Amanda Hollis, setzte sich an den Tisch und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Aber alles, was sie zu fassen bekam, war Sloppy Joe Nummer eins, der sich schon begnadigt gewähnt hatte und dem Amanda Hollis jetzt mit einem großen »Happ« die linke Flanke wegbiss. Dann noch die rechte – und dann war's mit ihm vorbei.

Das Kauen aber beruhigte Amanda Hollis, und bald schon hielt sie das, was unten im Keller passiert war, für eine Halluzination und das »Nein« der Stimme für eine Halluzination innerhalb dieser Halluzination.

Und selbst wenn es das nicht war, dann war es eben eine unglückliche Fügung, dann hatte sich einfach jemand nebenan in einen der Kellerräume geschlichen und in ein Rohr reingebrüllt. Was natürlich die Frage nach sich zog, wer so etwas tat und warum.

Amanda Hollis überlegte. Zugang zu den anderen Kellerräumen, das wusste sie, hatte man nur über die am anderen Ende des Flurs liegende Tür, die genauso klein und dick und hechtgrau war wie jene, durch die sie Tag für Tag zum Frühstück marschierte. Und doch gab es da einen Unterschied: Die andere Tür war verschlossen, und es gab, außer Heath Cover Evil und dem Hausmeister, niemand, der einen Schlüssel besaß.

Andererseits, selbst wenn sich jemand, auf welchen Wegen auch immer, Zugang zu den übrigen Kellerräumen der Untergrundbibliothek verschafft hatte, so stellte sich noch immer die Frage, warum er diesen Ort dazu benutzte, um in ein Rohr reinzuschreien?

Gewiss, man musste in so einem Keller auch nicht unbedingt frühstücken, aber es lag immer noch näher, den Mund zu öffnen, um ihn sich vollzustopfen, als ihn aufzureißen und unangekündigt irgendwelche Verlautbarungen über mongolische Würmer von sich zu geben. Mal ganz abgesehen von der Frage, woher derjenige, der da hinabgekrabbelt war, überhaupt wusste, dass es dort unten ein solches Rohr gab, das nicht nur bereit, sondern auch – vermittels eines offen liegenden Endes oder sonst einer Vorrichtung – technisch in der Lage war, einen derartigen Unfug in sich aufzunehmen und weiterzutransportieren, zu ihr, Amanda Hollis, die nur in Ruhe ihre drei Sloppy Joes verschlingen und sich nicht mit irgendwelchen Mongolen rumschlagen wollte, mochten die nun Amerika bedrohen oder auch nicht.

Wobei das mit der Bedrohung zweifellos ein Witz war. Oder besser gesagt: ein Witz innerhalb eines Witzes, was wiederum ziemlich nahe an der Vorstellung lag, dass es sich hier tatsächlich nur um eine Halluzination handelte, die aus irgendeinem Grund nicht bereit war, aus ihrem Kopf zu verschwinden, und deshalb erst einmal »Nein« gesagt hatte.

Aber gut, selbst wenn die ganze Sache keine Einbildung, das heißt irgendjemand tatsächlich in einen der Kellerräume auf der anderen Seite vorgedrungen und dort auf ein Rohr gestoßen war – warum um alles in der Welt sprach er dann rein? Und erzählte auch noch so einen vollkommenen Mist? Warum? Weil er sich einen Scherz machen wollte? Dann konnte es nur ein Student sein, von denen es zwei Etagen weiter oben, im Lesesaal der Untergrundbibliothek, nur so wimmelte und die sich schon zu William Croswells Zeiten einen Spaß daraus gemacht hatten, die Bibliothekare in den Wahnsinn zu treiben. Zum Beispiel indem sie ein Skelett aus dem Prähistorischen Institut mit in den Lesesaal nahmen und es während ihrer permanenten Pausen auf einen der leeren Stühle setzten, nur um es später, als der Tag vorbei und doch nichts gelernt war, an die Decke zu hängen, in der sicheren Annahme, William Croswell werde den Knochenmann auf einem seiner nächtlichen Streifzüge durch die Bibliothek schon zu Gesicht bekommen, leuchtend und funkelnd im Angesicht seiner in den Händen gehaltenen Laterne …

Und auch wenn es jetzt, einhundertneunundzwanzig Jahre später, in Harvard kein Prähistorisches Institut mehr gab, im universitätseigenen Archiv die Geschichte den Lauf der Dinge bestimmte und die Tür zum Keller auf der anderen Seite fest verschlossen war, so waren dem studentischen Unfug doch neue, um nicht zu sagen ganz andere Türen geöffnet, schließlich war Nathan Puseys Untergrundbibliothek durch eine Reihe von Tunneln direkt mit den drei angrenzenden Bibliotheken – Widener, Houghton und Lamont – verbunden, was besonders für die Erstsemester, die in der benachbarten Lamont-Library ihre Kindsköpfe hinter dicken Einführungswerken versteckten, geradezu eine Einladung sein musste, das Lesen sein zu lassen und rüber nach Pusey zu wandern, um dort ein paar »Erdmenschen« zu erschrecken.

Und selbst wenn es nicht soweit kam, weil die Tunnel zwar offen, die Keller in Pusey jedoch alle verschlossen waren, so blieb noch immer die Möglichkeit, die Idiotien direkt von Lamont aus ins Rohr reinzubrüllen, in der begründeten Hoffnung, dass irgendwer sie schon hörte.

Ja, im Grunde genommen bedurfte es nicht mal einer Bibliothek, um irgendwelche irrwitzigen Botschaften zu verbreiten und Amerikas Untergang herbeizubeschwören, schließlich waren fast alle Universitätsgebäude in Harvard durch ein drei Meilen langes und – ob der vielen Anlaufpunkte – überaus verzweigtes System aus Tunneln miteinander verbunden, durch das nicht nur Heizungsrohre, Telefonleitungen und Stromkabel liefen, sondern auch ein Nazi-Spion.

Zumindest war das die Geschichte, von der früher oder später jeder erfuhr, der in Harvard unter Tage arbeitete, und ihr Ende war auch nicht gerade ermutigend gewesen, denn nicht einmal den FBI-Agenten, die den Spion damals, anno 1939, verfolgt hatten, war es gelungen, ihn zu fassen.

Er war, im Wissen, dass man ihm auf den Fersen war, einfach in eines der universitätseigenen Häuser am Charles-River gerannt, dort in einen unterirdischen Tunnel gestiegen und nicht wieder aufgetaucht, und alle Versuche, ihn zu finden, waren erfolglos geblieben.

Nun, die Sache mochte inzwischen ein Vierteljahrhundert her und der Krieg trotz des entwischten Spions gewonnen sein, dennoch ließ die Geschichte Amanda Hollis keine Ruhe, zeigte sie doch, dass es für jemand, der weder vom FBI verfolgt wurde noch ein Nazi-Spion, sondern lediglich ein von wirren Gedanken in seinem Gehirn getriebener Kindskopf war, ein Leichtes sein musste, unter Tage für Unruhe zu sorgen und Verwirrung zu stiften, und dies umso mehr, als dass die Bibliotheken in Harvard nicht nur durch eine Reihe von Tunneln, sondern auch vermittels eines klandestinen Gewirrs aus Rohren miteinander verbunden waren, von denen einige der Belüftung, andere dagegen der Bestellung von Büchern dienten, ganz zu schweigen von denen, die dazu da waren (oder zumindest dazu genutzt wurden), miteinander ins Gespräch zu kommen beziehungsweise sich eine Rohrpost zu schicken, auch wenn eine solche angesichts fehlender Austrittsmöglichkeiten in Amanda Hollis' Keller nicht ankommen konnte und auch sonst nirgends in Pusey, schließlich war die gewöhnliche Funktion eines Rohres hier nicht das Reden, sondern der Regen, den es abzutransportieren galt, und zwar nicht in den Mund eines anderen, sondern in die Kanalisation.

Andererseits, selbst wenn die ganze Sache nur das Werk eines Witzboldes aus der Untergraduierten-Abteilung war, wer außer ihr wäre dann Zeuge gewesen? Wer außer ihr hätte etwas von mongolischen Würmern gehört und nichts damit anzufangen gewusst?

So gesehen, war die Sache vielleicht doch gar kein Scherz, sondern Ausdruck eines übergequollenen Gehirns, ein Haufen überschüssiger Informationen, die jemand vermittels seines Mundes in den Ausguss gekippt hatte, was, so betrachtet, dem Rohr durchaus die Funktion des Abtransports von Niederschlägen gab, nur dass der Niederschlag in diesem Fall nicht flüssig, sondern gasförmig war, oder zumindest etwas in der Art von gasförmig, schließlich konnte niemand genau sagen, welchen Aggregatzustand der Geist von Harvard denn nun eigentlich hatte.

Kurzum: Falls das, was da unten im Keller passiert war, nicht einfach eine Sinnestäuschung darstellte, die sich zu einer Sinnestäuschung innerhalb einer Sinnestäuschung ausgewachsen hatte, denn war es das Werk eines Einzelnen, vermutlich das eines Studenten, der die geistigen Höhen Harvards für eine Weile verlassen hatte, um seinem überzüchteten Gehirn Entspannung zu verschaffen, wozu es keinen besseren Ort gab als einen Keller oder sonst einen Raum, in dem irgendein Rohr endete oder begann, ein Rohr, in das man alles hineinbrüllen konnte, was oben, in den heiligen Hallen von Harvard, nicht gern gehört war.

Das klang, unter den gegebenen Voraussetzungen und der Maßgabe, dass sie nicht halluziniert hatte, durchaus plausibel, bedeutete aber zugleich, dass derjenige, der da »Hallo« gesagt und über mongolische Würmer referiert hatte, gar nicht zu ihr, sondern zu irgendwem gesprochen hatte, und lediglich ihre Antwort war ein Fehler gewesen und hatte aus dem Rülpser ins Loch einen Dialog in einer Leitung gemacht, dessen diesseitiger Sender und Empfänger nicht sie, sondern jenes Lüftungsgitter war, das in der Unterseite des Rohrs eingebaut war, dem gegenüber sie jeden Tag saß und mit ihrem Mund drei Sloppy Joes massakrierte.

Aber da war noch etwas, das die ganze Sache ins Reich des Zufalls und Nicht-persönlich-Nehmens verwies, schließlich ging sie schon seit fast sieben Jahren zum Frühstück in den Keller, genau genommen seit dem 20. November 1956, ihrem Geburtstag, dem dreiundzwanzigsten. Es hätte also genug Gelegenheiten gegeben, ihr »Hallo« oder wenigstens »Herzlichen Glückwunsch« zu sagen.

Vor Amanda Hollis, in einer der drei Boxen, wartete derweil Heath Cover Evils Notiz darauf, endlich beachtet zu werden.

Amanda Hollis nahm William Croswells Einhundert-Pfund-Note und überlegte, auf welche sie setzen sollte. Links? Oder rechts? Oder doch die Box in der Mitte?

Es gab keinen Hinweis, ihre Augen waren fest geschlossen gewesen beim Wurf. Also legte sie ihr Ohr auf die Boxen. Aber nichts darin regte sich, und niemand erzählte ihr eine Geschichte.

»Es wird Zeit, dass ich den Quatsch hier beende«, befand Amanda Hollis, »ich mache mich lächerlich vor mir selbst«, legte den Schein auf die rechte Box und öffnete sie – und siehe da, der Zettel war drin. Einsam und verlassen, als habe er dort schon seit Jahren gelegen.

Amanda Hollis holte ihn raus, faltete ihn auseinander, las »Benöt. WC IA ei ei ei!« und nahm das, was da stand, zum Anlass, ihre Entschlüsselungskünste zu schulen.

»Benötige Wirklichkeits-Check im Archivsarchiv«, dechiffrierte sie und stieg, leise »ei ei ei« murmelnd, hinab in den Keller, um die Sache zu Ende zu bringen.

V

»Hallo«, rief Amanda Hollis hinter der Tür im aufflammenden Lichtkegel stehend, »ich wollte dich etwas fragen.«

Und dann, schon halb auf der Treppe. »Kannst du mich hören?«

Und zu guter Letzt, direkt vor dem Rohr: »Hörst du mir zu?«

Aber das Rohr hörte nichts. Oder es hörte wirklich nicht zu. Zumindest sagte es nichts, auch wenn Amanda Hollis das Gefühl hatte, dass das auch eine Antwort war.

»Na schön, dann habe ich eben halluziniert«, sprach's und versuchte sich darüber zu freuen, obgleich sie heimlich auf Widerspruch hoffte. Aber das Rohr gab keinen Laut von sich, und als Amanda Hollis mit ihren schweißnassen Fingern darüberstrich, hinterließ sie auf seiner Aluminiumhaut Schlieren.

Dann drehte sie sich um und ging. Und blieb auf halber Treppe stehen. Weil sie hörte, wie hinter ihr das Rohr aufzuknistern begann. Wie eine Platte, die kurz davor ist, den ersten Song zu spielen.

»Das Lüftungsgitter ist ein Lautsprecher«, überkam es Amanda Hollis in gewohnt dechiffrierender Weise, derweil ihre Füße den Rückwärtsgang einlegten und sie rücklings die Treppe wieder hinabführten, als sei das die einzig wahre Methode, von einem Archiv in das Archiv eines Archivs, von der Geschichte in die Vorgeschichte zu steigen.

Unten angekommen, drehten sich die Füße wie von selbst wieder zurück, taten die Knie, wozu sie geschaffen – und Amanda Hollis' Hintern platzierte sich wie gewohnt auf der vorletzten Stufe.

Das Knistern im Rohr war unterdessen lauter geworden, doch kaum dass Amanda Hollis sich darauf zu konzentrieren begann, um aus ihm eine geheime Botschaft zu ziehen, verstummte es, und was folgte, waren die ersten Akkorde eines Liedes, das schrammelige Intro einer Akustikgitarre, zu der sich schon bald eine Stimme gesellte, die sich durch eine Strophe zu näseln begann, als hätte sie jemand tief in die Heiserkeit eines frühen Novembertages getaucht.

Die Worte, die die Stimme sang, aber waren klar, auch wenn sie eher gesprochen denn tatsächlich gesungen waren und es hier und da kratzte. Aber das gehörte dazu, war Teil einer Geschichte von auf Vinyl gewickelten Bändern.

Amanda Hollis jedenfalls kannte die Stimme und nicht anders die Worte, die gleich zu Beginn davon erzählten, wie es sich anfühlt, allein und unten zu sein.

»Bob Dylan singt den John Birch Society Blues«, durchfuhr es sie mit einem solchen Erstaunen, dass ihr Ober-und Unterkiefer auseinanderklappten. In ihrem Rachen war jetzt Platz für einen kompletten Sloppy Joe. Nur leider hatte sie bereits alle verdrückt.

Also klappten die Kiefer unverrichteter Dinge wieder zusammen und pressten – simple Mechanik – einen luftigen Gedanken in Amanda Hollis' Kopf.

»Bob Dylan wird mit seinem Gesang die Mongolen vertreiben und auch ihre Würmer verjagen. Allerdings« – und das war der Knackpunkt, das Zeichen zum wiederholten Ausrasten der Kiefer – »allerdings gibt es den John Birch Society Blues gar nicht auf Platte …«

Woraufhin die beiden Kiefer wieder zusammenklappten und mit dem Nichts der Erinnerung abgespeist wurden.

»Ich weiß, was mit dem Song passiert ist«, sagte Amanda Hollis so laut, dass an einen inneren Monolog nicht zu denken war, »jeder kennt die Geschichte, die Zeitungen waren den Sommer über voll davon. Dylan hatte eine Einladung bekommen, in der Ed Sullivan Show sein zweites Album zu präsentieren. Aber dann hat er bei der Probe den John Birch Society Blues gespielt, und obwohl Ed Sullivan den Song mochte, wollten die Verantwortlichen vom Sender nicht, dass der Song im Fernsehen ausgestrahlt wird. Also haben sie Dylan aufgefordert, in der Show einen anderen Song zu spielen. Aber er hat sich geweigert und seinen Auftritt abgesagt. Als dann die Platte erschienen ist, war der Song nicht mehr drauf, und auch sonst ist er nirgends zu finden.«

Was Amanda Hollis unweigerlich zu der Frage führte, wie der John Birch Society Blues in das Rohr gekommen war. Aber da bemerkte sie, dass das Lied vorbei war und die Stimme wieder zu ihr sprach, sie etwas fragte.

»Wir waren bei den mongolischen Würmern, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Amanda Hollis, die eigentlich etwas anderes sagen, wenigstens aber einen Monolog gegen die Mongolen halten wollte.

»Die mongolischen Würmer bedrohen Amerika!«

»Ich weiß«, flüsterte Amanda Hollis, auch wenn sie ganz anderer Meinung war und nichts von dem, was sie hörte, verstand und außerdem auch kein Wort davon glaubte.

»Die Würmer sind dabei, Amerika auszuhöhlen wie einen Kürbis!«

»Aha«, sagte Amanda Hollis, die sich inzwischen sicher war, dass das, was sie da hörte, erst noch dechiffriert werden musste. Aber dann erinnerte sie sich, dass sie vorgestern Abend selbst die Hände tief ins orangefarbene Fleisch eines Kürbisses getaucht hatte – und schwieg.

»Na schön, bevor ich dir erzähle, was gerade passiert, das heißt, bevor ich dir erkläre, was genau diese mongolischen Würmer machen und warum sie Amerika mitsamt seiner Geschichte in die Knie zwingen werden, ist es wichtig, dass du verstehst, wie es dazu gekommen ist«, sagte die Stimme ein wenig gewunden.

»Aber ich verstehe doch gar kein Wort von dem, was du sagst«, sagte Amanda Hollis, die wirklich kein Wort verstand.

»Deswegen sollst du mir ja zuhören. Damit du verstehst, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass eine Horde mongolischer Würmer Amerika attackiert.«

Und weil Amanda Hollis nichts sagte, überhaupt nichts sagen konnte.

»Noch was, bevor du dich wunderst: Ich werde jetzt in den Erzählmodus schalten. Ich hoffe, du siehst mir das nach«, sprach's und legte gleich los.

»Die Geschichte des Angriffs der Mongolen und ihrer Würmer auf das freiheitsliebende Amerika beginnt im Jahre 1245 auf einem französischen Esel.«

»Was?!«, fragte Amanda Hollis.

»Zuhören!«, sagte die Stimme und fuhr ungerührt fort.

»Es war ein struppiges und auch nicht mehr ganz junges Tier, auf das man den Franziskanermönch Giovanni de Plano Carpini zu Ostern eben jenes Jahres hievte, damit er – im Auftrag von Papst Innozenz dem IV. – 6.000 Meilen von Lyon nach Karakorum reise, um vor Ort mit den immer weiter nach Westen vorrückenden Mongolen zu verhandeln.«

Und dann, nach etwas, das wie ein Durchatmen klang.

»Bruder Carpini war klein, alt und fett und konnte sich ohne die Hilfe des Esels kaum vorwärtsbewegen. Im Grunde war er das Gegenbild der mit leichter Kavallerie immer schneller nach Westen vordrängenden mongolischen Horden, und als er sich zu Ostern 1245 auf den Weg machte, glich er eher einem Witz denn einem Gesandten. Kein Wunder, dass die drei Stallburschen, die Carpini mit Hilfe einer Leiter und anderthalb gebratener Tauben auf den Esel gehievt hatten, sich noch Monate später an seine kurzen, dicken Beine erinnerten, die wie zwei prall gefüllte Riesenwürste vom Bauch des Esels abgespreizt waren, währenddessen die Beine des armen Tiers unter ihm in etwa den gleichen Winkel beschrieben.

Und so verließen sie Lyon, der Franziskanermönch mit dem päpstlichen Auftrag und der Esel mit den schmerzenden Knochen, und das Letzte, was die drei Stallburschen an jenem Morgen zu sehen bekamen, waren die schwerfälligen Schritte des einen und der wurstige Körper des anderen, die in ihrem je eigenen Takt gen Osten stakten und schwankten und dabei die aufgehende Sonne wieder und wieder verdeckten.«

»Stopp!«, rief Amanda Hollis, erhob sich, wackelte vor bis zum Rohr, sah ihr Gesicht in der Spiegelfolie, sah, dass es völlig verzerrt war – und ging in die Knie.

Es dauerte nicht lange und sie spürte einen feinen Lufthauch in ihrem Gesicht. Er kam aus dem Lüftungsgitter direkt vor ihr.

Amanda Hollis nahm ihre Hand, betastete das Metall, spürte, wie ihre Finger langsam zu trocknen begannen … Aber dann erinnerte sie sich an das, was ihr die Stimme mitgeteilt hatte, ging mit ihren Lippen ganz nah ran und sagte: »Was du da erzählst, ist ein Gleichnis, das hinkt wie ein alter, überladener Esel.«

Und weil sie sich inzwischen sicher war, dass auf der anderen Seite, am anderen Ende der Leitung, tatsächlich ein Student hockte, mochte er nun in der Untergrundbibliothek oder nebenan in der Lamont Library stecken, einen Scherz machen oder – was kaum anzunehmen war – ernsthaft besorgt sein, sagte sie (ein wenig unwirsch, aber das war ihr im Grunde nur recht):

»Hör mal zu, du überstudiertes Subjekt, es mag ja sein, dass ich nicht zu jenen ausgemergelten Gestalten gehöre, die für gewöhnlich Harvard bevölkern und statt Sandwiches lieber Bücher fressen. Und es mag auch sein, dass ich vor ein paar Jahren von Philadelphia aus gen Osten gereist bin, mit nichts als einer hoheitlichen Urkunde in der Hand, um über meine Zukunft zu verhandeln. Aber damit hat sich's auch schon. Denn weder ist Prof. Orscube der Papst, noch brauche ich drei Kerle, die mich die Stufen in den Bus hinaufhieven, und wenn ich mich ab und zu nach einem umdrehe, so hat das andere Gründe.

Im Übrigen sind es von Philadelphia nach Harvard gerade mal dreihundert Meilen, und der Zug, mit dem ich gefahren bin, ist weder gestakt noch geschwankt. Außerdem war der Lokführer so schlau, mindestens ebenso sehr nach Norden wie nach Osten zu fahren, und zwar entlang der Küste über New York und New Haven. Und auch wenn ich nicht weiß, wo genau Karakorum liegt, so habe ich oben in meinem Zimmer zumindest eine Karte und weiß, dass es hinter der Mongolei immer noch ein Stück Land gibt, auf das man seinen Fuß setzen kann, währenddessen es hinter Harvard nicht weitergeht. Zumindest nicht in östliche Richtung. Hinter Harvard kommt nämlich nur noch der Atlantik, und übers Wasser zu laufen ist mir bei meinem Gewicht verboten.«

Und weil damit das Verdikt gesprochen und es Zeit für eine Zusammenfassung war, fragte Amanda Hollis, eher verwundert denn ernsthaft empört: »Was um alles in der Welt soll also diese blöde Geschichte?«

Aber es gab keine Antwort, nur Schweigen und ein Stück aufgesteppte Aluminiumfolie, das sich rund um das Lüftungsgitter zog und unter Amanda Hollis' Worten beschlug. Also drehte sie sich um und ging im Bewusstsein eines seltsamen Sieges.

VI

Als Amanda Hollis ihr Zimmer betrat, schien William Croswell auf dem Tisch unendlich weit weg. Aber dann wurde ihr klar, dass sie eine Aufgabe hatte und dass es darum ging, Heath Cover Evils Forderung zu erfüllen.

Also setzte sie sich an den Schreibtisch, griff sich die erstbeste Akte und las, dass William Croswell anno 1780 in Harvard zum Hilfslehrer ernannt und kurz darauf von einem Hutmacher verprügelt worden war.

Keine zwei Minuten später war Amanda Hollis zurück im Archiv des Archivs.

»Hör mal«, sagte sie zu dem Rohr, das vor ihr lag wie ein versteinerter Riesenwurm, den jemand zum Zwecke der Konservierung in Spiegelfolie gepackt hat, »wenn du auf lahme Gleichnisse und die Beschreibung von Körperteilen verzichtest, bin ich bereit, der Geschichte weiter zu lauschen.«

Aber das Rohr antwortete nicht. Es war, so schien es, eine klandestine, nicht kommunizierende Röhre, und erst als Amanda Hollis wieder vor der kleinen dicken hechtgrauen Tür stand und zurück in ihr Zimmer zu gehen gedachte, begann es unter ihr zu knistern – und so stieg sie zum zweiten Mal an diesem Tag rückwärts hinab ins Archiv des Archivs, derweil die Stimme mit ihrer Erzählung über den Mönch Giovanni de Plano Carpini fortfuhr, allerdings nicht da, wo sie aufgehört hatte, sondern an einem anderen Ort, zu einer späteren Zeit. Amanda Hollis jedenfalls traf Giovanni de Plano Carpini 2.000 Meilen von Lyon entfernt. In Russland. Auf dem zugefrorenen Dnjepr. Wo man ihn mit Hilfe eines Schlittens stromabwärts in Richtung des Asowschen Meeres zog.

Sie ertappte sich dabei, darauf zu warten, dass der fettwanstige Mönch einbrach, aber nichts geschah. Carpini erreichte das Asowsche Meer unbeschadet, und eine dicke Schicht Eis trug ihn sicher auf die andere Seite.

»Die Stimme scheint sich an unsere Abmachung zu halten«, dachte Amanda Hollis, »ich habe zwar keine Ahnung, warum sie mir diese Geschichte erzählt, aber es ist allemal besser, der Erzählung zu lauschen, als hoch in mein Zimmer zu gehen und den geschlagenen William Croswell zum Helden von Harvard zu machen.«

Im Rohr schrieb man derweil den 23. Februar 1246, und Giovanni de Plano Carpini war, auf ein mongolisches Pferd geschnallt, beim ersten Außenposten der Mongolen, 3.500 Meilen westlich von Karakorum, angelangt.

Kaum dass Amanda Hollis das gehört hatte, wollte sie auch schon protestieren und die Stimme in dem Rohr an den Esel erinnern, auf dem Carpini seine Reise begonnen hatte, aber dann bemerkte sie, dass Kontinuität nicht Teil der Abmachung und – mit Blick auf den Esel – wahrscheinlich auch nicht wünschenswert war.

Und so blieb sein Schicksal ein unaufgeklärtes, derweil Amanda Hollis, von der abenteuerlichen Erzählung gefangen und der sonoren Stimme getragen, immer tiefer ins Reich der Mongolen einging, und als Giovanni de Plano Carpini schließlich die Sommerresidenz des mongolisches Hofes erreichte, die eine halbe Tagesreise südlich von Karakorum in einer schier endlosen Steppen aufgebaut war (»es war der 28. Juni 1246«, sagte die Stimme), da erfuhr Amanda Hollis, in einem jener Vorgriffe, die die Spannung nicht lösen, weil sie das Geheimnis bewahren, dass Carpini Karakorum nie zu Gesicht bekommen würde.

»Karakorum ist nur eine Fiktion, ein Flüstern in den Weiten irgendeiner mongolischen Ebene«, dachte Amanda Hollis, aber dann musste sie den Versuch, die Geschichte zurückzuverschlüsseln, abbrechen, denn die Stimme teilte ihr mit, dass Carpini, wenn schon nicht Karakorum, so doch etwas anderes fand, etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte, denn zwischen all den mongolischen Würdenträgern lag – am Tag seiner Ankunft – ein toter russischer Fürst.

»Er war kurz vor seinem Eintreffen gestorben«, sagte die Stimme, »und als ihm Carpini am Abend des nämlichen Tages die letzte Ehre erwies, sah er, dass der Russe von Kopf bis Fuß grün angelaufen war. Und er wusste, dass das die Farbe war, in der sich die Wirkung von mongolischem Gift offenbarte.«

VII

Kaum dass sie zurück in ihrem Zimmer war, kam Amanda Hollis ein Gedanke. Genau genommen war es ein Gleichnis, eines jener Sorte, die ihr reichlich oft in den Kopf schossen, und zwar irgendwo von rechts oben, und so rief sie (natürlich nur in Gedanken, denn sie wollte nicht, dass man sie hörte): »Mongolisches Gift streckt einen russischen Fürsten nieder wie ein amerikanischer Hutmacher einen Hilfslehrer aus Harvard!«

Also nahm sie ihren Füllfederhalter – einen 56er Sheaffer Snorkel in Pastellblau, den sie sich an ihrem ersten Tag in Harvard gekauft hatte – und schrieb, auf eine der für William Croswells Index bestimmten Katalogkarten,

mongolisches Gift † russischer Fürst

amerikanischer Hutmacher † William Croswell

Als das getan war, wurde ihr allerdings klar, dass sich William Croswell wieder aufgerappelt hatte, während der russische Fürst liegen geblieben war.

Also warf Amanda Hollis die Karte in den Papierkorb, nahm eine andere und schrieb:

William Croswell: Niederschlag → Auferstehung → Harvard

Damit war sie zufrieden, denn das war nicht nur ein Anfang, sondern das Grundmuster einer Erzählung, eine Trinität ganz nach Heath Cover Evils Geschmack. Das Einzige, das jetzt noch fehlte, waren ein paar passende Akten. Aber die würde sie finden, schließlich waren ihr gestern, beim Auspacken und Sortieren der ersten beiden Boxen, zwei Konvolute mit den Titeln »William Croswell, bekannter Projektmacher« und »William Croswell, berühmter Projektmacher« in die Hände gefallen.

Dass die Überschriften von William Croswell selbst stammten, war Teil seines Projektmachertums, und nachdem ihr die selbstverliehenen und – wie sie fand – auch ein wenig selbstverliebten Titel gestern nur ein müdes Lächeln abgerungen hatten, stimmten sie sie jetzt fast schon versöhnlich, ja, Amanda Hollis hatte geradezu Mitleid mit ihm.

Wenn sie erst einmal alles geordnet, durchgesehen und – wie sie annahm – nichts weiter von Bedeutung gefunden hatte, würde sie die beiden Konvolute unter dem großen Berg der Banalitäten hervorzotteln und sie Heath Cover Evil übergeben, der sehr geschickt darin war, die Papiere so anzuordnen, dass sie die Leerstellen überdeckten und die großen Vorhaben umso deutlicher hervortreten ließen.

Und selbst wenn William Croswell nicht einen einzigen seiner Projektmacher-Pläne umgesetzt hatte, was, nach allem, was sie bisher gelesen hatte, mehr als nur im Bereich des Möglichen lag, war ihre Aufgabe damit dennoch erledigt – und der Rest Heath Cover Evils Problem.

Aber dann hörte Amanda Hollis wieder das Wasser hinter der Wand ihres Zimmers entlanglaufen, als hätte sich Mutter Natur entschieden, den unterirdischen Betonbunker von außen zu waschen, und von rechts oben schoss ein neuer Gedanke in ihren Kopf: »Ein Archiv ist eine Falte in der Zeit, eine Staumauer im großen Strom der sich verflüchtigenden Geschichte.«

Die Uhr über ihr zeigte 17:58, und die Zeit lief.

»Wochenende!«, rief Amanda Hollis, stülpte die Kappe über den Tinte speienden Schnorchel, packte ihre Siebensachen und schloss die Tür fest hinter sich zu.

VIII

Der Samstagvormittag verlief wie die meisten anderen der dreihundertsiebenundachtzig Samstagvormittage, die seit ihrer Ankunft in Harvard vergangen waren. Amanda Hollis saß auf dem Balkon ihres kleinen Apartments am McGrath Highway und sann darüber nach, was ihr Leben gewesen und was daraus geworden war.

»Eigentlich müsste ich zufrieden sein, und irgendwie bin ich es auch, aber irgendwie auch nicht«, sagte sie sich (zum dreihundertachtundachtzigsten Mal) und versuchte, nachdem sie die Notwendigkeit von Weißbrot verneint und die Tomaten-Zwiebel-Rinderhack-Pampe direkt aus der Schüssel gelöffelt hatte, ihre Stimmung in Worte zu fassen, wobei sie – in Ermangelung anderer Möglichkeiten – ihr Leben im Archiv mit dem am Highway verglich, denn das war das Einzige, was noch davon übrig geblieben war.

»Im Grund kann ich mich glücklich schätzen, denn der Regen hat pünktlich zum Wochenende aufgehört und ich kann hier auf dem Balkon sitzen und frühstücken, auch wenn es kaum zehn Grad sind, aber erstens hält das die Nachbarn davon ab, mir beim Essen zuzuschauen, und zweitens ist es eine gute Möglichkeit, mich dick anzuziehen und so zu tun, als sei ich nur wegen der gut gefütterten Sachen so breit. Und selbst wenn es wieder zu regnen anfängt oder zehn Grad kälter wird, kann ich reingehen und bin immer noch zwei Etagen über statt zwei unter der Erde. Außerdem gibt es in meiner Wohnung genug Fenster, durch die ich rausschauen und den Autos beim Vorbeifahren zusehen kann, anstatt auf Betonwände zu glotzen, vor denen lauter Akten stehen, die sich in den siebeneinhalb Jahren meiner Anwesenheit zum Teil noch keinen Millimeter bewegt haben. Außerdem muss ich meine Wohnung nicht mit alten, toten Männern teilen und mich auch nicht mit ihnen herumschlagen. Dass ich dafür auch keinen einzigen jungen, lebendigen habe, ist allerdings ein Nachteil, aber wenigstens kommt niemand nachts in mein Zimmer geraschelt und klebt mir irgendwelche Notizzettel ins Gesicht. Das Beste aber ist, dass ich in aller Ruhe hier draußen sitzen und frühstücken kann und dazu nicht runter in den Keller muss, denn da stehen nur altes Gerümpel und Waschmaschinen, und dazwischen sitzen die Mütter, warten auf die Wäsche und schreien ihre Kinder an, die in dem Gerümpel Verstecke spielen und dabei unablässig neue Wäsche produzieren.«

Allerdings, wenn sie ehrlich zu sich war (und wo sonst sollte sie ehrlich zu sich sein, wenn nicht hier?), vermisste sie die Geschichten aus dem Rohr, und wer immer sie auch erzählte, er fehlte ihr. Aber was konnte sie tun?

Amanda Hollis gab sich – weil sie es nun einmal so gewohnt und ein Gesprächspartner wie üblich nicht zur Hand war – selbst die Antwort: »Ich könnte mir selbst ein paar abenteuerliche Geschichten erzählen.« Und dann, nach ein paar Sekunden des Nachdenkens: »Nur leider habe ich keine erlebt.«

Kurz darauf setzte der Regen ein, und Amanda Hollis entschied, dass es Zeit war, sich die Innereien von Sloppy Joe aus den Zähnen zu spülen.

IX

Das Badezimmer hatte die Höhe, Größe und Form von fünf hintereinander stehenden Telefonzellen und war vom Boden über die Wände bis hoch zur Decke (und über diese hinweg!) hellblau gefliest – und ganz hinten, am Ende der fünften Zelle, kragte ein Duschkopf aus der Wand.

Ganz vorn im Raum aber, in Zelle Nummer eins, waren zwei mannshohe Spiegel angebracht, die sich direkt gegenüberstanden und jeden, der reinkam, musterten. Dass in den letzten siebeneinhalb Jahren nie jemand anderes als Amanda Hollis hereingekommen war, störte sie nicht, und ebenso wenig, dass sie von ihr nur »As 1« und »As 2« genannt wurden, weil sie sie ob ihrer Größe an die Aktenschränke im Keller des Archivs erinnerten und – genau wie die Schränke die Akten – Tag für Tag ihr Spiegelbild schluckten, was Amanda Hollis zu der Annahme brachte, dass die Spiegel mitverantwortlich dafür waren, dass sie jeden Tag ein bisschen breiter aussah.

»Die Aktenstapel in den Schränken werden immer dicker, und genauso ergeht es mir. Selbst die Spiegel sind Sammler geworden, und es wird erst aufhören, wenn ich kassatiert worden bin.«

Diesmal aber ließ sich Amanda Hollis von den Spiegeln nicht irritieren, sondern stellte sich, kaum dass sie das Badezimmer betreten hatte, erst vor den einen und dann vor den anderen, riss den Mund auf und zeigte ihnen, was sie mit Sloppy Joe getan hatte.

Aber die Spiegel sagten nichts und gaben auch sonst keine Antwort, und Amanda Hollis versuchte es noch mit einem lauten »Ich hab nichts in den Taschen«, aber auch das brachte nichts, und deshalb ging sie weiter, passierte Zelle Nummer zwei, in der das Waschbecken stand, ging an Nummer drei – dem WC – vorüber, sagte: »William Croswell« und legte in Nummer vier ihre sämtlichen Sachen ab. Dann stieg sie in die Dusche, öffnete den Mund und spülte sich die Reste von Sloppy Joe aus den Zähnen.

Als sie sah, wie der kulinarische Kehricht im Abfluss verschwand, musste sie an die mongolischen Würmer denken und daran, dass das, was sie sich da soeben aus dem Mund gespült hatte, ein gefundenes Fressen für sie wäre, und wer weiß, vielleicht kämen die Würmer ja im nächsten Augenblick aus dem Abfluss gekrochen, um sich zwischen ihren Füßen auf dem Boden zu winden, schwarz und eine halbe Elle lang.

Aber nichts passierte, und alles, was Amanda Hollis blieb, war das in den Abfluss rinnende Wasser und ihre darin liegenden Haare.

Also legte sie den Kopf in den Nacken, schloss die Augen, ließ sich berieseln und musste plötzlich – Aber warum? Weil das Wasser an ihr herabrann? Weil der Duschkopf über ihr hing? Weil sie etwas vermisste? – an den großen Kronleuchter denken, der bis zur Explosion des Getreidespeichers in der Eingangshalle des Hauptgebäudes von Drexel gehangen hatte, danach aber spurlos verschwunden war.

»Wenn ich mich recht entsinne, war der Leuchter noch da, als ich zurück aus der Turnhalle kam«, kam es Amanda Hollis in den Kopf, derweil sie den Warmwasserhahn zu-und den Kaltwasserhahn aufdrehte. »Allerdings war durch die Druckwelle das Glasdach über dem Leuchter zerborsten, und als der Regen einsetzte, splitterte das Wasser stundenlang auf ihn herab.”

Und dann, während sie fröstelnd und frierend aus der Kabine trat, über ihren Kleiderberg stieg und sich auf die Kloschüssel setzte: »Das klingt nach einer abenteuerlichen Geschichte.«

Also stand sie auf, spülte, was ausgeflossen war, runter und griff nach dem Handtuch, allerdings nicht, um es sich um die Hüften zu wickeln, sondern um damit über die beschlagenen Spiegel zu wischen, damit sie sahen, dass sie es war, die das gesagt hatte.

Aber die Spiegel hatten niemand anderes erwartet und beschlugen gleich wieder, und während Amanda Hollis noch darüber nachsann, ob sie sich vielleicht nur aus Schamgründen bedeckten, das heißt nicht ihr, sondern sich selbst den Blick verwehrten, schlug ihr die Erinnerung einen Pflock in den Kopf – und daran klebte ein Zettel, auf dem stand, dass man den Leuchter in Drexel noch während des Regens von der Decke genommen, verpackt, in ein Depot gestellt und später dort nicht wiedergefunden hatte.

X

Die Widener Library, zu der Amanda Hollis fuhr, um sich über den Verbleib des Leuchters zu informieren, war ein klassizistischer Klotz, von dem der Regen in dicken Strähnen herabrann, und Amanda Hollis war froh, einen Schirm bei sich zu haben, denn der hielt nicht nur den Regen auf Abstand, sondern auch Pusey außer Sichtweite, schließlich hatten die Bauleute den Betonbunker direkt neben dem Klotzbau in der Erde versenkt, und Amanda Hollis spürte, während sie die Stufen zur Widener hinaufstieg, eine seltsame Freude bei dem Gedanken, dass, wenn ganz Harvard eine große, das gesamte Wochenende über laufende Dusche wäre, Nathan Puseys Untergrundbibliothek die Aufgabe hätte, ihr Abfluss zu sein.

»In der Untergrundbibliothek hängen drei Pläne«, dachte Amanda Hollis und warf, kaum eingetreten, einen Blick aus der Garderobe der Widener Library in Richtung Pusey. »Auf dem ersten steht 'WadiGu', und damit auch alle verstehen, was gemeint ist, gibt es einen Schnitt quer durch die Wiese, die in Wahrheit das Dach der Untergrundbibliothek ist, und einen Pfeil, der ein Stück unterhalb der Grasnarbe auf einen dicken, schwarzen Strich zeigt – und daneben steht 'Wasserdichter Gussasphalt'. Allerdings scheint nicht mal Heath Cover Evil diesem quer übers Bibliotheksdach gegossenen Asphalt zu vertrauen. Jedenfalls hängt direkt daneben ein Übersichtsplan, auf dem sämtliche Abflussrohre und Pumpen eingezeichnet sind, die rund um die Bibliothek verteilt liegen. Falls die aber auch versagen, gibt es immer noch den Notfallplan. Auf dem steht, dass es bei anhaltendem Starkregen oder plötzlicher Schneeschmelze unter Umständen zu Überschwemmungen kommen kann, weshalb auf dem Plan auch genau vermerkt ist, welche Zimmer zuerst geräumt und welche Archivalien vor allen anderen gerettet werden müssen«, woraufhin Amanda Hollis ihren Schirm zwischen ein Dutzend andere in den Ständer reinpresste und ihre klitschnassen Gedanken zu Ende brachte.

»Das Unterhemd von Präsident Dunster steht ganz oben auf der Evakuierungsliste, dabei könnte es eine Wäsche ganz gut vertragen. Aber das wird nicht passieren, und wenn, dann wird sich Heath Cover Evil den Rohrstock von Präsident Chauncey schnappen und persönlich für die Rettung des Unterhemds sorgen.«

Womit die Sache für Amanda Hollis erledigt und bis auf einen Block Papier und einen Stift auch alles abgegeben war, und ehe sie sich versah, wurde sie von einer Gruppe aus der Garderobe drängender Studenten ins Innere der Bibliothek gespült.

Der Lesesaal, den sie wenig später betrat, war um ein Vielfaches größer als die Eingangshalle des Universitätshauptgebäudes von Drexel, und Amanda Hollis verlor sich darin wie ein Leuchter, den jemand in die Unendlichkeit des Weltalls gehängt hat.

Sie bestellte eine Handvoll Zeitungen, die allesamt aus den Tagen und Wochen nach der Explosion stammten und ihr klarmachten, dass man in den Nachrichtenstuben in Philadelphia bereits am 8. April, mithin nur elf Tage nach dem Unglück, Wind von der Sache mit dem verschwundenen Leuchter bekommen hatte und die Reporter ausschwärmen ließ, doch wurde die gesamte Angelegenheit, da sich weder der Leuchter noch ein Hinweis auf seinen Verbleib finden ließen, bereits Ende des Monats wieder zu den Akten gelegt und schließlich vergessen, und alles, was Amanda Hollis herausfand, war, dass man einen gewissen Mr. Martin nach der Explosion zum Leiter der Aufräumarbeiten bestellt hatte und dass er der Letzte gewesen war, der den Leuchter gesehen hatte.

Zurück in der Wohnung war der Samstag nur noch ein anthrazitfarbener Rest in einem triefenden Meer aus Lichtern, und als sich Amanda Hollis am nächsten Tag kurz vor elf aus dem Bett schälte, war das Einzige, was vom Wochenende übrig geblieben war, ein wie ausgekippt daliegender Sonntag und ein paar über den Highway jagende Spekulationen.

XI

Als Amanda Hollis am Montag um Punkt acht Uhr den Archivraum betrat, in dem sich der pflichtschuldige Teil ihres Lebens abspielte, hatte sich William Croswell auf dem Schreibtisch übers Wochenende kein Stück bewegt, und nach allem, was sie seinem Bibliothekstagebuch entnehmen konnte, lag das weniger daran, dass man ihn niedergeschlagen hatte, als daran, dass das Sich-Nicht-Bewegen genau die Sache war, die William Croswell in Harvard am liebsten getan hatte.

Also nahm sie die Katalogkarte, die sie am Freitag beschrieben hatte, betrachtete die tintenblaue Trinität aus Niederschlag, Auferstehung und Harvard, sagte »Das passt einfach nicht« und warf sie in den Papierkorb unter dem Tisch, wo sie auf einen vergifteten russischen Fürsten, einen schlagfertigen amerikanischen Hutmacher und den selig schlummernden William Croswell traf.

Ein Stück weiter oben, in Amanda Hollis Kopf, war es dagegen mit der Ruhe vorbei, denn sie bemerkte (und ganz offenbar sollte sie das auch tun), dass Heath Cover Evil übers Wochenende erneut in ihrem Zimmer gewesen war, beim Herumschnüffeln seinen eigenen Notizzettel mit der Aufschrift »Benöt. WC IA ei ei ei!« im Papierkorb gefunden, ihn herausgeholt, glattgestrichen und zum zweiten Mal aufgeklebt hatte, allerdings nicht, wie zuvor, auf die Pappurne der Genealogen-Gesellschaft, sondern auf Box Nummer drei, mithin jene, die die Akten zu William Croswells Arbeit als Buchtitelkatalogisierer von Harvard enthielt, und erst da fiel Amanda Hollis ein, dass sie das Croswellsche Bibliothekstagebuch, in dem sie gerade mit ihren Augen herumgestreunt war, am Freitag eigentlich zur Seite gelegt hatte, während es jetzt, drei Tage später, ganz oben auf ihrem Tisch lag, aufgeschlagen und bereit, gelesen zu werden – und sie war der Einladung gefolgt.

Was aber hatte das zu bedeuten?

Nun, zunächst einmal hieß es, dass ihre Annahme, William Croswell habe seine Tage in Harvard einst zum Sich-Nicht-Bewegen genutzt, zwar stimmen mochte, aber ebenso sicher war, dass Heath Cover Evil die seinen (die in Wahrheit natürlich Nächte waren, doch lief das im Grunde auf dasselbe hinaus) darauf verwendete, dem lethargischen Bibliothekar Beine zu machen, und sei es auch nur vermittels der Akten, in denen sein Geist aufbewahrt war.

Mit anderen Worten: Amanda Hollis hatte das Gefühl, als gebe es in diesem Fall im Archiv eine Art doppelte Biografieführung, eine, in der es darum ging, die Passiva der Vergangenheit mit den Aktiva der Gegenwart auszugleichen.

Andererseits, »ausgleichen« war das falsche Wort, denn das hätte bedeutet, dass das Ergebnis aller Geschichte Null ist, und so verlockend Amanda Hollis diesen Gedanken auch fand (und so plausibel er ihr in einem gewissen Sinne auch war), so sehr wurde ihr klar, dass es bei dieser ganzen Angelegenheit nicht um Ausgleichen, sondern um Auslöschen ging und dass das Aufschreiben eines solchen Lebens das Vergessen-Machen eines scheinbar anderen war, bei dem es sich tatsächlich aber um ein und dasselbe handelte.

Aber da war noch mehr, denn Heath Cover Evil hatte ihr nicht nur William Croswells Bibliothekstagebuch einer Aufforderung gleich unter die Nase geschoben, sondern auch die Akten aus Box Nummer drei, die sie am Freitag zum Zwecke des Zählens ausgekippt hatte, fein säuberlich auf der Tischplatte verteilt, weshalb sie jetzt alle anderen verdeckten und es so aussah, als wäre William Croswell sein Leben lang nichts als Buchtitelkatalogisierer gewesen.

»Als ob Heath Cover Evil meine Gedanken gelesen hätte«, flüsterte Amanda Hollis, denn stilles Denken schien ihr in diesem Falle nicht angebracht und ebenso wenig das lauthalse Reden. »Am Freitag habe ich noch darüber spekuliert, dass Heath Cover Evil das Papier geschickt anzuordnen weiß, und jetzt hat er es schon getan. Allerdings nicht in irgendeinem gelehrten Aufsatz, sondern auf dem Tisch, auf dem ich den Schlagwort-Index schreiben soll, der die Grundlage seines gelehrten Aufsatzes bildet.«

Und dann, weil es mal wieder Zeit für ein Gleichnis war und sich Amanda Hollis für gewöhnlich nicht darum scherte, ob es auf einem Bein hinkte oder auf allen vieren kroch: »Heath Cover Evil ist eine große, goldgelbe Brötchenhälfte, und ich bin die Tomaten-Zwiebel-Rinderhack-Pampe. Er gibt mir den Platz vor, auf dem ich mich ausbreiten kann, nur um ihn am Ende wieder mit dem zu überdecken, was die Grundlage ist – eine große, goldgelbe Brötchenhälfte.«

Das war in Amanda Hollis gleichniserprobtem Kopf durchaus logisch und der kleine Schuss Fatalismus Teil der Geschichte, das heißt der ungeschriebene Teil des Arbeitsvertrags – und doch, eine Frage blieb: Warum um alles in der Welt wollte Heath Cover Evil gerade William Croswells Bibliothekskarriere beleuchten? Was war es, das er darin auslöschen und was, das er stattdessen aufscheinen lassen wollte? Mit anderen Worten: Was um alles in der Welt hatte William Croswell Besonderes getan?

Amanda Hollis wusste es nicht, und als sie, einer spontanen Eingebung folgend, in Alfred Claghorn Potters und Charles Boltons The Librarians of Harvard College (1677–1877) nachschlug, wurde sie auch nicht schlauer, denn William Croswells Name wurde darin nicht mal erwähnt.

Aber selbst wenn das keine Absicht, sondern nur ein Versehen war (obgleich eines, das in Anbetracht von Potters Gelehrsamkeit und angesichts der Akribie, für die sein Compagnon Bolton in Bibliothekskreisen bekannt war, höchst seltsam anmutete, um nicht zu sagen absolut einzigartig war), so deuteten das Nichtvorhandensein eines biografischen Eintrags und die Tatsache, dass William Croswell auch sonst nirgends erwähnt wurde, zumindest nicht auf besondere bibliothekarische Leistungen hin, und auch abseits der geschichtsträchtigen Bücher war nichts über William Croswell zu finden.

Jedenfalls erinnerte sich Amanda Hollis, sosehr sie auch nachdachte, nicht daran, seinen Namen je zuvor gehört zu haben, und auch Prof. Orscube hatte in seiner Vorlesung über randständiges Bibliothekswissen nie über ihn gesprochen, und das, obwohl die Bibliothek von Harvard Prof. Orscubes Steckenpferd war, auf dem er ein halbes Semester lang quer durch den Hörsaal galoppiert war, und zwar so sehr, dass Amanda Hollis fürchtete, er würde sein Hobby-Horse (oder sich selbst) noch zu Tode reiten.

Was zum Teufel hatte William Croswell also getan?

Amanda Hollis kam kurz der Gedanke, er könnte das Pferd gekauft haben, mit dessen Hilfe sich Thomas Hollis V. in grabsteinloser Einmaligkeit in die Erinnerung der Nachwelt geschrieben hatte, derweil der Gaul den Erdboden über dem Grab seines Herren allen anderen gleichgemacht hatte, aber dann sah sie in den Akten, dass William Croswells England erst 1791, mithin siebzehn Jahre nach Thomas Hollis' Tod besucht und das Pferd zu diesem Zeitpunkt gewiss schon das Zeitliche gesegnet hatte. Kurzum: Die gesamte Konstruktion war nicht mal theoretisch plausibel, ganz abgesehen davon, dass es auch praktisch keinen Sinn ergab, wenn ein Buchtitelkatalogisierer aus Harvard in England ein Pferd kaufte – und in den Akten war darüber auch nichts zu finden.

Also fing Amanda Hollis an, nach anderen Spuren als Hufabdrücken zu suchen, aber alles, was sie fand, waren William Croswells luftige Projektmachereien, die zumeist darin bestanden, Sternkarten zu zeichnen, die niemand verwenden, und Bücher zu schreiben, die niemand lesen wollte, weshalb sich William Croswell irgendwann darauf verlegte, Reedereien noch ungezeichnete Sternkarten zu offerieren, versehen mit dem Hinweis, sie könnten selbige nach ihren Wünschen gestalten, doch auch daraus wurde nichts, und auch die Bücher, die er plante, blieben in aller Regel ungeschrieben, weshalb sich William Croswell irgendwann der materiellen Welt ab-und der Mathematik zuwandte, doch auch hier blieben seine Einsichten ungedruckt oder kamen zu spät, und das Einzige, was er publizieren konnte, war die Darstellung irgendeiner »schrägen Sphäre« in Form von zwei überaus gerade gezeichneten Tabellen, die mit derart vielen Zahlen, Begriffen und mathematischen Symbolen vollgestopft waren, dass Amanda Hollis ihren Sinn nicht verstand und noch weniger, warum sich jemand die Mühe gemacht hatte, dieses obskure Traktat, das 1809 in den Memoirs of the American Academy of Arts and Sciences erschienen war, in den Akten jedoch nur in Form von Croswells Originalmanuskript existierte, mit Hilfe eines Fotokopierers zu verdoppeln, schließlich waren diese Kopien nicht nur teuer, sondern in Archivunterlagen auch überaus selten, so selten, dass Amanda Hollis sich nicht erinnern konnte, in den siebeneinhalb Jahren zuvor jemals eine gesehen zu haben.

Aber wie dem auch war, William Croswell hatte jedenfalls eine schräge Sphäre beschrieben, die nicht nur unsichtbar war, sondern außer ihm offenbar auch niemand verstand, weshalb es kein Wunder war, dass er, nachdem seine weiteren Publikationsversuche von der Academy zunächst noch höflich abgelehnt und dann nicht einmal mehr beantwortet worden waren, alles daransetzte, eine eigene Schule zu gründen, doch scheiterte auch diese Unternehmung, und zwar ganz einfach an der Tatsache, dass William Croswell zu wenig Schüler hatte und manchmal auch gar keinen, woraufhin er das Lehrersein aufgab und sich an der Bibliothek von Harvard bewarb, die ihn, den Zweiundfünfzigjährigen, schließlich am 4. August 1812 einstellte, mit der Maßgabe, der universitären Büchersammlung einen Gesamtkatalog zu verschaffen.

Dass William Croswell weder eine bibliothekarische Ausbildung noch irgendwelche Erfahrungen im Katalogisieren von Büchern besaß, war den Akten unmittelbar zu entnehmen, und ebenso die Tatsache, dass er den Job wohl nur deshalb bekommen hatte, weil er den Schatzmeister von Harvard kannte und dem Präsidenten, der ihn einstellte, versicherte, eine schöne Handschrift zu haben.

Frei von allen bibliothekarischen Erfahrungen machte sich William Croswell ans Werk, musste aber zu seiner Überraschung feststellen, dass die Universität in Harvard neben ihm nur noch einen einzigen weiteren Bibliothekar beschäftigte, welcher es allerdings vorzog, 1813 Pfarrer in Boston zu werden, derweil sein Nachfolger die Bibliothek bereits drei Tage nach Amtsantritt gegen einen Lehrstuhl für Bibelwissenschaften eintauschte und fortan nur noch formell anwesend war.

Derart allein gelassen, ging es mit William Croswells Arbeitseifer schon bald bergab, und nach wenigen Monaten war der Nullpunkt erreicht.

Zu allem Unglück schrieb William Croswell es auch noch auf, und Amanda Hollis musste es lesen: »Montag, 23. Februar 1813. Bin in der Bibliothek – mache nichts.«

Aber was konnte sie tun? Sie sollte ein vergangenes Leben für die künftige Größe der Universität aufpolieren, und das möglichst gestern als heute. In den Pappboxen rund um sie herum warteten schließlich noch Hunderte andere auf ein glanzvolles Ende. Und ein Stück weiter oben, da, wo die Wurzel aus Beton ins Erdreich einschoss, der niemals schlafende Heath Cover Evil.

»Nichts« aber, das wusste Amanda Hollis (und schließlich sah sie es auch in dem Register, das sie über siebeneinhalb Jahre hinweg angefertigt hatte und das alle möglichen Begriffe enthielt), »Nichts« war kein Schlagwort, auch wenn es William Croswells liebste Vokabel gewesen war, schließlich hatte er damit ganze Monate seines Arbeitslebens zusammengefasst und – zwecks Vorspiegelung falscher Tatsachen – auf Latein in sein Bibliothekstagebuch übertragen. Amanda Hollis las es mit ungläubigen Augen. »September 1816: Nihil. Oktober 1816: Nihil. Dezember 1816: Nihil.«

Was um alles in der Welt sollte sie da auf den Index schreiben?! William Croswell war ein Nichts, ein Niemand, ein Nihilist in eigener Sache, einer, der sich unmöglich verschlagworten ließ. Das aber hieß, Heath Cover Evil hatte sich getäuscht. Er wartete auf einen Nichtsnutz, einen Arbeitsverweigerer, ein faules Faktotum, und so sympathisch ihr das angesichts ihrer eigenen Lage auch war, sowenig würde Heath Cover Evil Verständnis dafür haben, wenn sie ihm erklärte, dass aus dem Nichts der Überlieferung kein Aufsatz zum Ruhme von Harvard zu machen war.

Und trotzdem, irgendetwas musste sie auf ihre Katalogkarten schreiben. Nur was?

Amanda Hollis wusste es nicht, hatte weder eine Ahnung noch eine Idee. Aber dann sah sie, wie ihre Linke nach einer Katalogkarte griff, die Rechte den Füllfederhalter zückte und die Hand zu schreiben begann: »Montag, 3. November. Bin im Archiv. Weiß nicht, was ich aus diesem Leben machen soll.«

Dann legte die Hand den Stift wieder weg, und die andere griff nach der Karte und hielt sie hoch, Amanda Hollis direkt vors Gesicht, als sei sie ein Spiegel – und sie sah, dass das die Urkunde war, die sie sich selbst ausgestellt hatte.

XII

Eine kleine dicke hechtgraue Tür im Rücken, ein aufflammender Scheinwerfer über dem Schopf und drei Sloppy Joes in den Händen, so stand Amanda Hollis am oberen Ende der Treppe und schaute, keine zwei Minuten nach erfolgter Urkundenübergabe, hinab in die Tiefe, auf das quer durch den Raum schießende Rohr, dessen Außenseite im Licht glänzte und dessen Innerstes ihr gewiss gleich wieder eine Geschichte erzählen würde, von Bruder Carpini, der wahrscheinlich gerade dabei war, herauszufinden, wer den russischen Fürsten umgebracht hatte.

»Das Rohr«, dachte Amanda Hollis, während sie die Treppe hinabstieg, »ist die zeit-räumliche Verlängerung von Prof. Orscubes Kurs über randständiges Bibliothekswissen aus dem Hörsaal von Drexel in einen Keller von Harvard hinein. Mit einem Unterschied: Das Rohr erzählt mir eine jener Geschichten, die den Stoff für die Bücher liefern, die zusammengenommen nicht nur ganze Bibliotheken ergeben, sondern auch die Notwendigkeit interner Ordnungen und Systeme nach sich ziehen, die mit der Zeit derart kompliziert geworden sind, dass sie eine eigene Wissenschaft erfordert und mit Hilfe dieses Dezimal-Dödels namens Dewey auch begründet haben, und die zu studieren derart aufwendig ist, dass man keine Zeit mehr hat, einen Blick in die Bücher selbst zu werfen. Insofern ist das, was ich hier unten mache, also nicht Faulenzerei, sondern eine Fortbildungsmaßnahme, denn ich hole mit Hilfe des Rohres nach, was mir bisher gefehlt hat, schließlich hat schon Prof. Orscube gesagt: ‚Die Geschichten in den Büchern sind das Fleisch im Knochenbau der Bibliothekstheorie.‘«

Womit Amanda Hollis am Ende der Treppe angelangt war, sich setzte und darauf wartete, dass die Stimme im Rohr zu erzählen begann.

Aber das Rohr sagte kein Wort, selbst auf Nachfrage nicht und auch dann nicht, als Amanda Hollis einen ihrer Sloppy Joes direkt vor das Lüftungsgitter hielt, in der Hoffnung, der Geruch eines frischen Sandwiches würde der Stimme im Rohr das Wasser im Maul zusammenlaufen lassen.

Zwar begann tatsächlich etwas zu laufen, doch klang das nicht nach Spucke und Speichel, sondern eher nach einem rauschenden Fluss, und während die mongolische Steppe unter den dahinströmenden Wassermassen verschwand, tauchte in Amanda Hollis’ Kopf der Gedanke auf, das Rohr könne nichts weiter sein als der gewöhnliche Teil jenes Drainagesystems, das die Bibliothek vor dem Überfluten beschützte.

Also zog Amanda Hollis ihren Sloppy Joe wieder vom Lüftungsgitter ab, lief zurück zur Treppe und verspeiste ihn in einer derartigen Geschwindigkeit, dass das Wasser in ihrem Mund gar nicht dazu kam, zusammenzulaufen. Dann tat sie dasselbe mit Nummer zwei und verschlang – weil er ihr leidtat und sie ihn erlösen wollte – auch gleich noch Nummer drei, sammelte anschließend die überall auf dem Boden herumliegenden Metallkleider ein und ging, weil von Bruder Carpini noch immer nichts zu hören und das Rauschen im Rohr nur als schnöde Entwässerungspraktik zu dechiffrieren war, zurück in ihr Zimmer, wo sie – da die Frühstückspause noch nicht vorbei war und sie nicht wusste, was sie mit sich und der übrig gebliebenen Zeit anfangen sollte – damit begann, sich die Umrisse Amerikas auf der Weltkarte über ihrem Schreibtisch einzuprägen, sie anschließend freihändig und ohne auf die Karte zu schauen auf ein Blatt Pauspapier zu übertragen und am Ende eines jeden Kopierversuchs ihre Version von Amerika mit dem Original zu vergleichen.

Gegen 11 Uhr war ihr der gesamte Verlauf der Westküste vom Kopf über die Hand in den Stift übergegangen, und keine Stunde später standen auch die Grenzen zu Kanada (bis North Dakota) und Mexiko (bis Texas) maßstabsgetreu und bis auf kleinere Spitzen und Buchten nahezu identisch auf dem Papier. Die Ausspülungen der Großen Seen waren dagegen nicht so leicht wiederzugeben, ebenso wenig wie die des Golfs von Mexiko, und es dauerte bis etwa 15.30 Uhr, bis sie sich in das Bild einfügten.

Kurz vor 18 Uhr schließlich passte Amanda Hollis die Ostküste ein, nahtlos, bis auf den letzten Zipfel von Maine, und als sie das Pauspapier auf die Karte pinnte und einen Schritt zurücktrat, um ihr Werk zu betrachten, sah sie, dass sie nicht nur Alaska, sondern auch Hawaii vergessen hatte, und dass weder für das eine noch das andere Platz auf dem Papier war.

XIII

An diesem Abend stellte sich Amanda Hollis nach dem Duschen vor ihre zwei Spiegel, sagte zu dem einen »Du bist Alaska« und zu dem anderen »Du bist Hawaii«, und sah, wie sie beide zeitgleich beschlugen.

»Kälte«, dachte Amanda Hollis, »und Hitze.«

Dann verließ sie das Bad, legte sich in einer seltsamen Hab-Acht-Stellung ins Bett und begrub ihren Körper unter der Decke, als sei ihr Fleisch Holz, sie selbst ein Sarg und das, was auf ihr lag, das dazugehörige Bahrtuch.

Und so blieb sie liegen. Und schlief irgendwann ein, derweil es draußen erst langsam und dann immer stärker zu tropfen begann, und als sie mitten in der Nacht aufwachte, plärrte der Regen wie Kinder.

XIV

Der nächste Morgen begann mit der dumpfen Angst, am Tag zuvor eine Spur hinterlassen zu haben. Genau genommen waren es siebzehn Stück, die Abdrücke allesamt aus Pauspapier mit einem falschen Amerika drauf, dessen Ausdehnung zu groß war oder zu klein, die Grenze im Süden mal zu gerade und mal viel zu schief, und im Norden dasselbe, ganz zu schweigen von den Ozeanen im Osten und Westen, die ganze Bundesstaaten ausgelöscht oder unbekanntes Land hervorgebracht hatten, weshalb es kein Wunder war, dass Amanda Hollis nicht eines dieser Amerikas beendet und alle unfertig und offen auf dem Papier liegen gelassen hatte, und an jenem Morgen kam ihr, noch im Bett liegend, der Gedanke, dass es für eine Horde Mongolen ein Leichtes gewesen wäre, einzufallen.

Nicht auszudenken, was Heath Cover Evil mit einem solchen Amerika machen würde. Und was mit derer siebzehn Stück.

Geschenkt. Kaum dass Amanda Hollis um Punkt acht Uhr und eine Minute in das untergründige Archiv eingegangen war, das nur zum Teil eine öffentliche Bibliothek, ansonsten aber ein Ort des ebenso systematischen wie unsichtbaren Erfassens, Erhaltens und Erhebens der ungebunden daherkommenden Reste einer Vergangenheit war, die von der Gegenwart für alle Zukunft unvergänglich gemacht werden sollte, machte sie sich daran, ihre Angst in eine wie auch immer geartete Gewissheit zu verwandeln, wozu es freilich nicht viel mehr bedurfte, als ihr Zimmer zu betreten, zum Schreibtisch zu gehen und sich den Papierkorb zu schnappen, der, genau wie William Croswell, bei dieser Gelegenheit aus dem Schlaf gerissen wurde. Dann machte sie sich auf den Weg in den Keller, suchte sich ein Versteck im Archiv des Archivs.

XV

Wie sie die Treppe hinabstieg, vorwärts und ohne einen einzigen Sloppy Joe in den Händen, dafür aber mit einem Papierkorb im Arm, als sei’s ein Pokal, wirkte Amanda Hollis erleichtert. So wie es aussah, hatte Heath Cover Evil ihr Zimmer letzte Nacht auf seinem Streifzug vergessen, denn nicht nur war ihr Schreibtisch samt Akten unangetastet geblieben, nein, auch im Papierkorb war noch alles drin, was sie zuvor hineingeworfen hatte: eine falsch indizierte Katalogkarte, die besagte, dass russische Fürsten dereinst durch mongolisches Gift ins grüne Gras beißen mussten, derweil ein amerikanischer Hutmacher in der Lage war, einen Bibliothekar niederzuschlagen, dazu noch die zusammengeknüllte Dreifaltigkeitslehre, an deren Ende William Croswells Auferstehung stand sowie Amanda Hollis’ Ich-weiß-nicht-was-ich-aus-diesem-Leben-machen-soll-Karte und schließlich, den Papierkorb bis obenhin füllend, ihre siebzehn verzeichneten Amerikas, deren Pauspapier-Dasein etwas Transzendentes, um nicht zu sagen Traumartiges hatte.

Aber dafür hatte Amanda Hollis jetzt kein Auge, und selbst dem Rohr vor ihr warf sie nur einen kurzen, scheeläugigen Blick zu, bevor sie am Ende der Treppe scharf nach links abbog, um das, was sich in ihrem Papierkorb befand, in einem der großen, eisernen Schränke abzulegen, es darin zu verbergen, schließlich war es längst offenkundig, dass Heath Cover Evil ein Faible dafür hatte, seinen Kopf auf seinen nächtlichen Streifzügen bis zum Hals in fremde Mülleimer zu stecken.

Das Schicksal von Amanda Hollis' Archivalien war damit besiegelt, und es gehörte zu ihrer Bestimmung, hinter einer riesenhaften Tür zu verschwinden, in einem Schrank, der bis obenhin voll war mit ausgemusterten und für wertlos befundenen Akten, die nur darauf warteten, kassatiert, das heißt vernichtet zu werden.

»Dieser Schrank ist mein Giftschrank«, orakelte Amanda Hollis, kaum dass sie in der langen Reihe den ihren gefunden hatte, »hier verstecke ich mich mitsamt meinen Amerikanern, Mongolen und Russen.«

Dann nahm sie den Schlüssel, drehte ihn, klack-klack, im Schloss – und die Tür schwang auf. Dahinter Regalböden voller Papier, zu kiloschweren Packen zusammengebunden und so dicht wie’s nur geht in den Stahlschrank gestopft, und während Amanda Hollis ihre siebzehn Amerikas aus dem Papierkorb rausklaubte, sie glattstrich und die gesammelten Werke in eines der vor liegenden Aktenbündel reinschob, fragte sie sich, ob es sich bei all dem Papier tatsächlich um unnütze Triebe handelte, die man wegschneiden konnte, ja wegschneiden musste, um den fruchtbaren den Weg zu ebnen, oder ob das, was da in riesigen Eisensärgen auf seine Vernichtung wartete, nicht vielleicht doch die Wurzel des gesamten Archivbaues war.

»… und über jede entsorgte Akte lässt sich eine Geschichte erzählen«, sagte plötzlich jemand hinter ihr.

Amanda Hollis fuhr um. Das heißt, eigentlich schaute sie sich von außen dabei zu, wie sie umfuhr – und hinter sich, vor sich, niemanden sah. Niemanden außer dem Rohr.

»Also, was ist? Soll ich dir eine solche Geschichte erzählen? Eine Geschichte vom Ende einer hochherrschaftlichen Akte?«

Tja, was sollte sie dazu sagen? Ja? Nein? Vielleicht?

Amanda Hollis wusste es nicht. Andererseits, wenn die Stimme so erpicht darauf war, ihr eine Geschichte zu erzählen, konnte sie auch eine Bedingung stellen. Und so kam es dann auch.

»Das mit der Geschichte geht in Ordnung«, sagte Amanda Hollis, »das heißt, wenn du mir versprichst, niemandem etwas von meinen geheimen Papieren zu erzählen.«

»Was für geheime Papiere?«

»Die ich im Schrank versteckt habe.«

»Ich habe keine geheimen Papiere gesehen.«

»Oh«, sagte Amanda Hollis, die nicht wusste, ob sie sich gerade selbst verraten hatte oder die Stimme im Rohr einen auf besonders diskret machte.

»Was stand denn auf den geheimen Papieren drauf?«, fragte die Stimme.

»Das geht dich nichts an«, sagte Amanda Hollis.

»Und warum hast du sie versteckt?«

»Weil ich sie loswerden wollte.«

»Du hättest sie auch wegwerfen können.«

»Das habe ich getan, aber dann habe ich sie mir wiedergeholt, denn es gibt Leute, die eine Vorliebe dafür haben, des Nachts kopfüber durch Papierkörbe zu streunen.«

»Verstehe. Aber warum hast du deine geheimen Papiere dann nicht zerrissen und im Klo runtergespült?«

»Daran habe ich auch gedacht. Aber es regnet die ganze Zeit, und wer weiß, ob nicht irgendwann alles wieder hochkommt, was wir vorher runtergedrückt haben.«

»Das leuchtet ein«, sagte die Stimme.

»Tut es«, sagte Amanda Hollis, »die Akten in den Schränken schleppt nämlich keiner wieder nach oben. Die werden zusammen mit meinen geheimen Papieren ohne hinzuschauen vernichtet.«

»Klingt, als hättest du dir alles gut überlegt.«

»Ich weiß nicht«, zweifelte Amanda Hollis ein wenig lauter, als ihr lieb war. Und weil sie das Gefühl hatte, schon genug gesagt zu haben … »Hee, du hattest mir doch eine Geschichte versprochen.«

»Und ob!«, rief die Stimme und fing, als hätte sie nur darauf gewartet, auch gleich an zu erzählen.

»Ich nehme an, du erinnerst dich an unseren päpstlichen Gesandten namens Carpini und dass er in Richtung Karakorum gereist ist, um mit den Mongolen zu verhandeln und sie dazu zu bringen, ihre Eroberungszüge nach Westen einzustellen.«

»Ja«, sagte Amanda Hollis, »und jetzt würde ich gern wissen, wie die Geschichte weitergeht.«

»Nun«, sagte die Stimme, »so richtig weiter geht erstmal gar nichts, denn obwohl Carpini im Juni 1246 die Sommerresidenz des mongolischen Hofes erreichte, kam er nicht dazu, mit den Mongolen über einen Friedensvertrag zu verhandeln, denn der Einzige, der die Sache hätte entscheiden können, war der mongolische Großkhan, und zu dem wurde er nicht durchgelassen, denn der Großkhan war tot.«

»Gift?«, fragte Amanda Hollis.

»Altersschwäche«, sagte die Stimme.

»Oh«, sagte Amanda Hollis, und es klang, als würde sie die Banalität dieser Todesursache fast ein wenig bedauern. »Heißt das, dass Carpini den ganzen Weg umsonst gemacht hat?«

»Nicht unbedingt«, sagte die Stimme, »er musste allerdings warten, bis ein neuer Großkhan gewählt war. Und so was dauert bei den Mongolen, schließlich wählten die ihren Anführer damals nicht einfach so, sondern ließen von sämtlichen unterworfenen Völkern Vertreter zu sich kommen, damit sie sehen, wer sie in Zukunft knechtet, das heißt regiert. Also kamen aus ganz Asien und dem Osten Europas Abgesandte angereist, woraufhin bald schon dreitausend von ihnen in der mongolischen Sommerresidenz rumsaßen, was allerdings bedeutete, dass Bruder Carpini nicht mehr der Einzige mit einem Anliegen war. Außerdem, so dachte er sich, wäre es nicht gut, dem neuen Großkhan – sozusagen als Geschenk zur Thronbesteigung – einen Brief zu überreichen, in dem er aufgefordert wird, die Eroberungszüge gen Westen zu unterlassen, da ihn das wahlweise erzürnt oder – mit Blick auf die Abgesandten, die zum größten Teil westlich der Mongolei wohnten – belustigt hätte.«

»Und was hat Carpini getan?«

»Ganz einfach, als das Fest vorbei war und die Knechte zurückgereist waren, um in ihren jeweiligen Ländern Herren zu spielen, fragte er den Großkhan, ob er nicht zum Christentum übertreten wolle.«

»Damit er mit dem Kreuz nach Westen zieht?«

»Damit er erkennt, dass die im Westen seine Freunde sind und es keinen Grund gibt, weiter in diese Richtung zu marschieren.«

»Und was ist dann passiert?«

»Nun ja, Carpini hat seine Einladung, zum Christentum überzutreten, nicht direkt ausgesprochen, sondern sie dem Mongolenführer schriftlich überreicht, schließlich hatte der Papst die Sache schon vorformuliert. Nur leider war es der Großkhan nicht gewohnt, dass jemand mit einer Forderung kommt, erst recht nicht, nachdem er gerade erst Besuch von seinen Untertanen gehabt hatte, weshalb er die Visite der päpstlichen Gesandtschaft dann auch nicht als Einladung zu Frieden und innerer Umkehr, sondern als Unterwerfungsangebot interpretierte, das Schreiben wegwarf und ein eigenes aufsetzen ließ, in dem er den Papst aufforderte, gefälligst persönlich vorbeizukommen und sich eigenhändig vor ihm in den Staub zu werfen.«

»Und Carpini?«

»Der musste mit dem neuen Schreiben zurückreisen. Und das, nachdem das Dekret, das er mitgebracht hatte, kastriert worden war.«

»Kassatiert«, korrigierte Amanda Hollis.

»Oh«, sagte die Stimme, »kassatiert, natürlich, ganz klar.«

»Kein Problem«, sagte Amanda Hollis, »erzähl mir lieber, wie es weiterging.«

»Nun, wie gesagt, Carpini musste den ganzen Weg wieder zurückreisen, wobei der Großkhan so freundlich war, ihn nicht vor November aus seiner Residenz zu entlassen, was bedeutete, dass die Rückreise eine ziemliche Tortur für Carpini war, denn er musste die meisten Nächte im Schnee schlafen und fand tagsüber kaum was zu essen, weshalb er immer mehr abnahm und manchmal nicht wusste, was er machen und wie es weitergehen sollte.«

»Vorsicht!«, rief Amanda Hollis. »Gefährliches Terrain!«

»In der Tat«, sagte die Stimme, »Carpini ist schließlich durch ganz Asien gereist.«

»Das meinte ich nicht«, zischte Amanda Hollis, doch hatte sie das Gefühl, dass die Stimme es nicht böse gemeint hatte, und deshalb fragte sie, fast schon besorgt: »Hat Carpini es geschafft?«

»Ja«, sagte die Stimme, »hat er.«

»Und sein Esel?«

»Den hat er … ähem … wiederbekommen.«

»Wo?«

»Da, wo er ihn zurückgelassen hatte.«

»Wo war das?«

»Bei den Kumanen, einem seltsamen Volk, das eigentlich in Zentralasien lebte, von den heranstürmenden Mongolen aber immer weiter nach Westen gedrängt wurde, was die Kumanen allerdings nicht davon abhielt, weiterhin ihre höchst speziellen Sitten zu pflegen.«

»Was für Sitten?«

»Hunde zu halbieren.«

»Hunde? Zu? Halbieren?«

»So hat es zumindest Carpini berichtet. Er schreibt in seinen Aufzeichnungen von einer Hochzeit, bei der ein ungarischer Prinz eine kupferfarbene Kumanen-Frau heiratete, woraufhin die kupferfarbenen Kumanen-Männer einen Hund nahmen, der nicht aus Kupfer, sondern aus Fleisch und Fell bestand, und ihn mit ihren Schwertern halbierten, nur um zu zeigen, dass sie von nun an zwei Völker verteidigen werden: sich selbst und die Ungarn.«

»Und Carpinis Esel?«

»Der hatte Glück. Er war ein Frühaufsteher, und die Kumanen beteten jeden Morgen das Tier an, das sie als Erstes zu Gesicht bekamen.«

»Da hat der Esel aber wirklich Glück gehabt«, sagte Amanda Hollis und wirkte erleichtert.

»Ja, aber nicht nur, weil er früh aufgestanden ist, sondern auch, weil er kein Pferd war. Wenn bei den Kumanen nämlich ein einflussreicher Mann starb oder ein König wie Kotjan Khan, dann wurde er nicht einfach beerdigt, sondern auf einen Thron gesetzt und auf diesem hinab ins Grab gelassen, wo er allerdings nicht lange allein blieb, denn neben ihn platzierte man noch seinen engsten Vertrauten und sein liebstes Pferd – und zwar lebend. Beide.«

»Grundgütiger!«, entfuhr es Amanda Hollis. Und dann, nach einem Moment der Reflexion, still in sich hineinmurmelnd, denn sie wollte nicht, dass die Stimme im Rohr etwas davon erfuhr. »Bei Thomas Hollis war es genau andersherum. Da wurde das Pferd nicht ins, sondern aufs Grab gestellt, damit es den, der darunter lag, nicht noch größer, sondern unsichtbar machte. Und was den engsten Vertrauten betraf, das war im Falle von Thomas Hollis ein gewisser Thomas Brand, der – zumindest laut Prof. Orscube – Hollis’ bester Freund war und nach dessen Tod sein Anwesen erbte, allerdings unter der Bedingung, dass Brand seinen Nachnamen änderte und den von Hollis annahm, was dieser dann auch tat, was zur Folge hatte, dass beide über den Tod hinaus verbunden blieben, und – zumindest dem Namen nach – sogar eins wurden und als Thomas Brand Hollis weiterlebten.«

Womit die Fakten geklärt waren, die Beweggründe der Erzählung aber noch immer im Dunkeln, das heißt im Innern des Rohres lagen.

»Irgendetwas will mir die Stimme mit dieser Geschichte doch sagen«, traf es Amanda Hollis wie gewöhnlich von rechts oben, »diese ganzen Parallelen können doch kein Zufall sein. Das hat doch was zu bedeuten. Nur was?«

Amanda Hollis wusste es nicht. Noch nicht. Aber sie spürte, dass die Stimme ihr nicht einfach nur eine Geschichte erzählte, sondern von zwei Enden her an einer Parabel flocht, in deren Mitte sie, Amanda Susan Marie Hollis stand, wobei ihr allerdings nicht ganz klar war, warum gerade sie ausgewählt worden war. Und von wem. Ganz zu schweigen von der Frage, ob die Mitte, in der sie stand, den höchsten oder den niedrigsten Punkt der Geschichte markierte, das heißt, ob die Parabel nach oben oder nach unten offen war …

»Bist du noch da?«, fragte die Stimme.

»Ja«, fiepte Amanda Hollis und klang, als würde sie in irgendeiner fernen Erinnerung schmachten.

»Das ist gut«, sagte die Stimme, »die Geschichte ist nämlich noch nicht zu Ende, das Entscheidende kommt erst noch.«

»Was ist das Entscheidende?«, fragte Amanda Hollis, darauf hoffend, etwas über die Rolle zu erfahren, die ihr, von wem auch immer, in dieser Geschichte zugewiesen worden war, und auch etwas über den Platz, den sie darin einnahm.

Und während sie so darüber nachsann, da wünschte sie sich, dieser Platz möge tunlichst abseits des Archivs und das heißt: möglichst weit weg von ihrer Ich-weiß-nicht-was-ich-aus-diesem-Leben-machen-soll-Urkunde liegen.

Aber davon sagte Amanda Hollis nichts. Und deshalb konnte es die Stimme im Rohr auch nicht hören. Was freilich nicht heißen soll, dass sie ihr dann etwas anderes erzählt hätte. Jedenfalls fuhr sie, statt über Amanda Hollis’ Zukunft zu sprechen, fort, über das vergangene Leben von Giovanni de Plano Carpini zu reden, der am 10. Juni 1247 Kiew erreichte, wo ihn, so sagte die Stimme, »die Leute begrüßten, als sei er von den Toten auferstanden, weshalb sie ihn dann auch gar nicht mehr aus den Augen ließen und über Hunderte von Kilometern bis nach Polen begleiteten, wo Carpini ein Kloster fand, in dem er sich ausruhen wollte.

Allerdings hatten die Mönche in dem Kloster schon von seinen Abenteuern gehört und luden sogleich die Kirchenoberen von halb Polen ein, damit sie zu ihnen kamen und sich Carpinis Geschichte anhörten, und obwohl Carpini ihnen mitteilte, dass seine Mission erfolglos gewesen war und die Mongolen nicht bereit seien, auf ihre Eroberungszüge zu verzichten, behielten ihn die Mönche da und ließen ihn acht Tage lang Geschichten erzählen.«

»Was für Geschichten?«, fragte Amanda Hollis, die versuchte, sich wieder auf die Erzählung zu konzentrieren.

»Zum Beispiel die von der mongolischen Sitte, Städte zu bestrafen, die sich ihrem Vormarsch widersetzten. Das haben sie nämlich auf folgende Weise getan: Sobald sich die Mongolen zu einer belagerten Stadt Zutritt verschafft hatten, machten sie, wie es sich gehört, Gefangene, mit denen sie anschließend weggingen und den Leuten in der Stadt das Gefühl gaben, die Sache sei damit erledigt. Nach ein paar Tagen aber kamen die Mongolen zurück, ohne die Gefangenen, dafür aber mit Kübeln voller flüssigem Menschenfett, das sie über die Häuser gossen. Und dann machten sie Feuer …«

»Und dann?«, fragte Amanda Hollis, die sich der Faszination des Grauens nicht entziehen konnte.

»Dann brannten die Städte bis auf die Grundmauern nieder, allesamt und ohne eine einzige Ausnahme, denn das Menschenfett ließ sich nicht löschen.«

»Es war wirklich unlöschbar?«, fragte Amanda Hollis, deren Neugier stärker war als ihr Schaudern.

»Nun ja, nicht ganz«, sagte die Stimme, »angeblich halfen große Mengen Bier oder Wein. Aber dafür würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ja«, flüsterte Amanda Hollis, auch wenn ihr war, als hätte sie die Antwort gar nicht selber gegeben, als hätte ihr Mund unabhängig von ihren Gedanken gesprochen.

Weil sie aber das Gefühl hatte, etwas beitragen, zumindest aber den Schauer auf ihrem Rücken wieder loswerden zu müssen … »Zu Thomas Hollis' Zeiten ist die Bibliothek von Harvard auch bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Aber jetzt stehen hier in Pusey überall große Tanks mit flüssigem Halon, da hat das Feuer keine Chance.«

Jedoch, kaum dass das gesagt war, bedauerte Amanda Hollis auch schon ihr schnödes Abbiegen in die Untiefen des dieszeitlichen Betonbunkers und fragte, denn sie wollte nicht, dass die Stimme aufhört, ihr von den Abenteuern des Gesandten zu erzählen: »Was ist nach den acht Tagen im Kloster mit Carpini passiert?«

»Er ist zurück nach Lyon zum Papst gereist und hat einen Bericht für ihn verfasst, dem er den Titel Historia Mongalorum quos nos Tartaros appellamus gegeben hat, was soviel heißt wie ‚Geschichte der Mongolen, die wir Tartaren nennen‘.«

»Das ist alles?«

»Nicht ganz, denn während Carpini in dem polnischen Kloster weilte und von seinen Abenteuern berichten musste, kam dem dortigen Ordensoberen eine Idee. Am liebsten hätte er Carpini dabehalten und sich bis an sein Lebensende Geschichten von ihm erzählen lassen, zumal die von Tag zu Tag interessanter wurden und immer neue Details ans Tageslicht kamen, nur wusste er, dass das nicht ging, weil der Papst auf Carpini wartete. Also befahl er einem seiner Mönche, zu ihm zu kommen, setzte ihn direkt neben Carpini und verdonnerte ihn dazu, alles aufzuschreiben, was der erzählte. Und so entstand, neben der von Carpini, eine zweite Version der Geschichte. Ihr Titel lautet Historia Tartarorum, und ihr Verfasser ist ein gewisser de Bridia, von dem allerdings niemand etwas weiß. Noch nicht mal sein Vorname ist bekannt, und das Einzige, was man über ihn sagen kann, ist, dass er Mönch in ebenjenem polnischen Kloster war.«

»Und sein Buch?«

»Beschäftigt sich weniger mit Carpinis Reise als mit der Geschichte der Mongolen, ihren Sitten und Gebräuchen – und ganz besonders ihrer Kriegskunst. Allerdings ist es in einem hundsmiserablem Latein abgefasst, schlecht geschrieben und auch sonst ziemlich langweilig, was wahrscheinlich daran liegt, dass dieser de Bridia keinerlei Erfahrungen mit der Schriftstellerei hatte, was er auch gleich zu Beginn seines Buches zugibt, indem er erklärt, dass die gestellte Aufgabe seine Begabung schlichtweg übersteige.«

»Stopp!«, rief Amanda Hollis, »einmal hab ich's dir durchgehen lassen, aber diesmal ist es genug. Wer lahme Gleichnisse anbringt, ist raus!«

»Aber –«

»Kein Aber! Ich habe schon eine langweilige Geschichte oben auf meinem Schreibtisch, das reicht. Wenn ich meine eigene noch dazu rechne, sind es sogar schon zwei. Für eine dritte habe ich jedenfalls keine Verwendung, weder auf meinen Katalogkarten noch in meinen Ohren. Das Gleiche gilt übrigens für Männer, die etwas machen, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben, weshalb es mir auch vollkommen egal ist, ob ihnen das Bücherschreiben oder das Bücheraufschreiben über den Kopf gewachsen ist«, sprach's und spürte plötzlich Heath Cover Evils Blick in ihrem Nacken, spürte, wie er durch die Wendeltreppe auf sie herniederstach, und als sie sich umdrehte, langsam, von der eigenen Angst und der drohenden Gewissheit seiner Präsenz befangen, war da niemand, noch nicht mal ein flüchtiger Schatten, und alles, was Amanda Hollis blieb, war ein nach Antworten suchender Blick und eine Frage, die ihr von rechts oben einschoss, genau von dem Punkt aus, an dem Heath Cover Evil gestanden haben musste.

»Was, wenn Heath Cover Evil hinter der ganzen Sache hier steckt? Was, wenn er mich testen will? Wenn er sehen will, ob ich mich von William Croswells Faulheit vereinnahmen lasse?«

Woraufhin Amanda Hollis aufsprang, die Treppe ein paar Stufen nach oben eilte, sich dann noch mal umdrehte, tief Luft holte und in Richtung des Rohres rief:

»Über mir ruht William Croswell. Und über ihm sitzt Heath Cover Evil. Der eine sitzt mir im Nacken wie der andre im Kopf. Warum also erzählst du mir diese verdammte Geschichte?«

»De Bridias Aufzeichnungen sind verloren gegangen«, sagte die Stimme, und es klang, als wäre das das Normalste der Welt, als hätte diese Antwort kommen müssen.

»Was?«, fragte Amanda Hollis.

»De Bridias Aufzeichnungen sind verloren gegangen«, wiederholte die Stimme.

»Na und«, sagte Amanda Hollis, eine Hand am Geländer, seltsam gefasst, »in Drexel ist der Leuchter verschwunden.«

»Mag sein«, gab die Stimme zurück, »aber de Bridias Aufzeichnungen wurden wiedergefunden. Jemand hat sie im 15. Jahrhundert kopiert.«

Aber das war natürlich kein Grund für Amanda Hollis, klein beizugeben.

»Und wenn schon, der Leuchter in Drexel ist noch immer verschwunden. Er war ein Original aus dem Jahr 1906. So was kann man nicht einfach kopieren.«

Womit der Gedanke an das, was über ihr lag, hinfällig und der Schlagabtausch mit dem, der unter ihr ruhte, eröffnet war.

Das folgende Wortgefecht klang dann so:

»Niemand weiß, wer de Bridias Werk kopiert hat!«, rief die Stimme.

»Es weiß auch niemand, wer den Leuchter geklaut hat!«, gab Amanda Hollis zurück.

»Na und, bei de Bridias Werk kann man noch nicht einmal sagen, wann genau es kopiert worden ist!«

»Genau wie in Drexel, da ist der Zeitpunkt des Verschwindens nämlich auch unbekannt!«

»Bei de Bridia gibt es noch nicht mal einen Grund, warum überhaupt jemand ein so komisches Werk kopieren sollte!«

»Es gibt auch keinen Grund, einen nassen Leuchter zu klauen!«

»Der Kopist hat noch nicht mal seinen Namen angegeben!«

»Der Dieb hat auch keinen hinterlassen«, sagte Amanda Hollis, »im Übrigen hast du das mit der Namenlosigkeit schon mal erwähnt«, sprach's und hatte das Gefühl, dass sich die Waage der Unaufgeklärtheiten zu ihrer Seite hin neigte.

»Wann genau ist denn der Leuchter verschwunden?«, fragte die Stimme, und es klang wie ein Friedensangebot.

»1956«, sagte Amanda Hollis, »irgendwann zwischen dem 28. März und dem 8. April.« Und dann: »Ich habe den Fall ausgiebig studiert, und es sieht nicht danach aus, als wäre er löschbar.«

»Löschbar?«, fragte die Stimme.

»Lösbar«, sagte Amanda Hollis, deren Kopf im Innern noch immer von mongolischem Menschenfett triefte.

Es fühlte sich an, als liefe ihr das Zeug hinter der Stirn herab und sammelte sich an einem unbestimmten Punkt hinter der Nase, von wo aus es ihr in den Mund tropfte und ihn zu verkleben drohte. Höchste Zeit, etwas zu tun …

»Es gibt keine Mongolen in Drexel!«, rief Amanda Hollis, als müsste sie sich das erst selbst noch bestätigen. Aber das war nur die halbe Wahrheit, und die andere Hälfte fand sich – wie üblich – in Prof. Orscubes Vorlesung über randständiges Bibliothekswissen.

»Der einzige Mongole, von dem ich etwas weiß, nannte sich Akhbar und war nicht nur Krieger, sondern auch Katalogisierer. Er hat den 24.000 Bänden der Königlichen Mongolischen Bibliothek im 16. Jahrhundert einen kompletten Katalog verschafft, das heißt sämtliche Texte klassifiziert, gegliedert und obendrein auch noch die meisten Einträge geschrieben. Mit Tinte statt mit Blut. Allerdings nicht auf Karteikarten, sondern auf Rindshäute!«

»Interessant«, sagte die Stimme.

»Ja«, sagte Amanda Hollis, die sich tatsächlich für Derartiges interessierte.

»Und du bist sicher, dass es wirklich Rindshäute waren, auf die er geschrieben hat?«, fragte die Stimme. »Ich meine, das Fett haben die Mongolen aus dem Fleisch der Leute gemacht, aber die Haut ist immer übrig geblieben …«

»Es waren Rindshäute«, wiederholte Amanda Hollis ein wenig zu bestimmt, um ganz glaubhaft zu wirken, »laut Prof. Orscube konnte man auf manchen dieser Rinderkarten sogar noch Spuren von den Brandzeichen der Tiere erkennen.«

Aber die Stimme hatte anscheinend genug von der Kokelei mit den Kühen und wollte offenbar auch auf etwas ganz anderes hinaus.

»Weißt du, was seltsam ist? Zwischen deinem Akhbar und diesem de Bridia liegt ein ganzes Jahrhundert, aber zwischen dem Tag, an dem dieser komische Leuchter verschwindet, und dem Tag, an dem de Bridias Geschichte wieder auftaucht, liegen nur ein paar Monate.«

»Was soll das heißen?«, fragte Amanda Hollis.

»Das heißt, der Leuchter in Drexel verschwindet laut deinen Angaben im März oder April 1956, und kurz darauf, genauer gesagt Anfang 1957, taucht die Kopie von de Bridias Geschichte der Mongolen wieder auf.«

»De Bridias Geschichte wurde in Drexel gefunden?«, fragte Amanda Hollis, die versuchte, eine Verbindung zwischen der Mongolei und Amerika herzustellen.

»Nein«, sagte die Stimme, »in Europa.«

»In Polen?«, fragte Amanda Hollis.

»Nicht ganz«, sagte die Stimme, »die richtige Antwort lautet Spanien.«

»Spanien?«, fragte Amanda Hollis, »was um alles in der Welt hat Spanien damit zu tun?«

»Nun, sagen wir so: Die Geschichte der Mongolen wird uns über Polen und Spanien nach Amerika führen!«

»Ich bin schon in Amerika«, sagte Amanda Hollis trotzig.

»Ich weiß«, sagte die Stimme, »aber du darfst nicht vergessen, wo wir hergekommen sind und was ich gesagt habe. Ich habe gesagt, dass es mongolische Würmer sind, die Amerika bedrohen.«

»Aber es gibt keine Würmer in deiner Geschichte«, sagte Amanda Hollis, und es klang fast wie eine Beschwerde.

»Noch nicht«, sagte die Stimme, »aber bald.« Und dann: »Die Mongolen und ihre Würmer bedrohen Amerika schließlich nicht erst jetzt, sondern schon lange. Sie sind schon seit Jahrhunderten hier. Um genau zu sein, sind sie schon vor Kolumbus nach Amerika gekommen.«

»Das kann nicht sein!«, schoss es aus Amanda Hollis' Mund geradewegs runter zum Rohr, »jedes Kind weiß, dass es Kolumbus war, der Amerika entdeckt hat. Wer immer also mit irgendwelchen Würmern gekommen ist, kann nicht vor ihm dagewesen sein.«

»Nun, wenn ich recht informiert bin, war es der Matrose Rodrigo de Triana, der Amerika entdeckt hat«, sagte die Stimme, die sich offenbar mit Seefahrerei auskannte. »Er hatte Nachtwache auf einem der Schiffe, und als er am 12. Oktober des allseits bekannten Jahres um zwei Uhr in der Früh etwas schemenhaft vor sich aus dem Wasser ragen sah, da war es soweit.«

»Und wenn schon«, erwiderte Amanda Hollis, unbeeindruckt von so viel Bescheid, »Kolumbus hat trotzdem als Erster mit seinem Schiff Amerika entdeckt.«

»Das werden wir ja noch sehen«, sagte die Stimme im Rohr, und es klang, als wäre das nur der erste Akt gewesen.

»Werden wir!«, sagte Amanda Hollis, herausfordernd, bestimmt, stapfte die Treppe nach oben und knallte die Tür hinter sich zu, woraufhin das Licht auf der anderen Seite erlosch.

XVI

Zurück in ihrem Zimmer, setzte sich Amanda Hollis an den Tisch, nahm eine der für William Croswells Index bestimmten Katalogkarten, warf einen kurzen Blick auf die Weltkarte vor ihren Augen, sagte »Amerika« und schrieb den Verlauf der Geschichte bis zu diesem Punkt hin auf. Schlagwortartig, so wie sie's gewohnt war.

Zeit und Ereignis

März / April 1956: der Leuchter in Drexel verschwindet

Anfang 1957: de Bridias Historia Tartarorum taucht wieder auf

 

Namen und Orte

ein Esel: Lyon

Giovanni de Plano Carpini (Mönch): Mongolei

de Bridia (Mönch): Polen

Rodrigo de Triana (Matrose): Amerika

Als das getan war, versuchte Amanda Hollis einen Sinn in dem zu erkennen, was sie sich da notiert hatte, aber die einzigen Übereinstimmungen, die sie sah, waren das »de” in den Namen von zwei Mönchen und einem Matrosen und die Tatsache, dass de Bridias Geschichte der Tartaren nur wenige Monate nach dem Verschwinden des Leuchters in Drexel aufgetaucht war. Aber das eine war in Amerika und das andere in Europa passiert, und auch sonst hatten die Namen, Ereignisse und Orte nicht das Geringste miteinander zu tun.

Kurzum, Amanda Hollis steckte in einem doppelten Dilemma (bzw. das doppelte Dilemma in ihr), denn nicht nur wusste sie nichts mit sich anzufangen (und hatte das sogar schriftlich bekommen), sondern hatte auch keine Ahnung, was sie mit ihren Katalogkarten anstellen sollte (und auch das würde irgendwann aufgeschrieben und das heißt aktenkundig gemacht werden), was bedeutete, dass es sich in Wahrheit nicht um ein Dilemma, sondern um ein Desaster handelte, und zwar ein dreifaches, schließlich konnte sie noch nicht einmal sagen, was von beiden Ursache war und was Wirkung. Mit anderen Worten: Amanda Hollis war dabei, das letzte bisschen Glauben zu verlieren, an sich und an das, was sie tat – und an den Sinn des Ganzen sowieso.

Aber dann kamen ihr, genau wie gestern, ihre Hände zu Hilfe, und nachdem sich die linke die frisch beschriebene Katalogkarte geschnappt und Amanda Hollis in den Rocksaum geschoben hatte, griff die rechte – halb bewusst, halb aus Gewohnheit – nach dem Füller und hielt ihn im rechten Winkel vor die abgezogene Kappe –, und Amanda Hollis erkannte, dass beide zusammen ein Kreuz bildeten und dass es ihre Aufgabe war, in den Keller zu marschieren und, wenn schon keinen Exorzismus zu vollziehen, so doch wenigstens einen kleinen Kreuzzug gegen die Mongolen anzuzetteln, auch wenn es dafür vielleicht schon zu spät und die Geschichte bis zu ihr gelaufen, das heißt die Vergangenheit in die Gegenwart getreten war.

Aber das war egal.

Amanda Hollis marschierte.

XVII

»Es gibt keine Mongolen in Drexel, und falls doch, dann sind sie alle vergilbt und keine Gefahr!«, rief Amanda Hollis, während sie sich – Arme und Hände hinter dem Rücken verschränkt, als böte das einen aerodynamischen Nutzen oder sonst einen Sinn – im Scheinwerferlicht die Korkenziehertreppe hinab ins Archiv des Archivs schraubte. »Und der einzige Pole, den ich kannte, wohnte im Studentenwohnheim im Zimmer nebenan, war Jude und hatte sich aus Angst vor den Nazis von Warschau bis nach Philadelphia geflüchtet.« Und dann, auf der letzten Stufe innehaltend: »Warum bringst du also nicht noch ein paar Nazis ins Spiel?«

»Ich hab nur einen ausgedienten Faschisten im Angebot«, kam es zur Antwort aus dem Rohr.

»Was?!«, rief Amanda Hollis, und die Arme fielen ihr hinter dem Rücken auseinander, als hätte jemand einen gestrengen Knoten gelöst und brachten den Füller – hüllenlos und mit zu Boden gerichteter Spitze – dazu, seine Tinte wie Blut über die Stufen zu spritzen.

»Sein Name ist Enzo Ferrajoli de Ry. Er war einer von 200.000 italienischen Soldaten, die 1935 ohne Kriegserklärung in Äthiopien eingefallen sind, um ein bisschen mit Senfgas zu experimentieren und neuen Lebensraum für ihre einheimischen Spaghetti zu schaffen. Als der Krieg dann vorbei war, ist er nach Spanien gegangen, um an der Seite von General Franco zu kämpfen.«

»Das wird mir alles zu viel!«, seufzte Amanda Hollis und ließ sich ungehemmt fallen.

Sie traf mit ihrem Hintern die vorletzte Stufe, und die Treppe vibrierte kurz auf. Die Stimme aber fuhr fort, überspielte, was nicht zu überhören war.

»Ferrajoli ist eine zwielichtige Gestalt, auch wenn er aus einer angesehenen italienischen Adelsfamilie stammt. Vielleicht ist er auch eine zwielichtige Gestalt, weil er aus einer angesehenen italienischen Adelsfamilie stammt, das kann ich nicht so genau sagen. Fest jedenfalls steht, dass er aus gutem Hause kommt und eine klassische Bildung genossen hat. In seiner Jugend hat er Gedichte geschrieben, und zwar nicht nur auf Italienisch, sondern – wie sich's für einen Spross aus adligem Hause gehört – auch auf Französisch, Spanisch, Lateinisch und Altgriechisch. Irgendwann aber hatte er genug von der Bildung und dem ganzen Papier, und ihn packte das Abenteuerfieber, und zwar so sehr, dass er erst in Äthiopien und dann in Spanien in den Krieg zog. In beiden Ländern warf er sich voller Inbrunst in die Schlacht, ungefähr so, wie er zuvor seine Worte aufs Papier geworfen hatte, und wer weiß, vielleicht glaubte er ja, dass er – Ferrajoli – selbst nur ein Wort war und der Krieg ein leeres Blatt Papier, das erst noch beschrieben werden musste, und zwar mit Blut statt mit Tinte. Jedenfalls wurde er anno '37 in Spanien verwundet, was allerdings ein Glück für ihn war, denn er erhielt nicht nur einen Orden für jenen Irrsinn, den sie beim Militär Heldenmut nennen, sondern wurde auch noch von einer einheimischen Krankenschwester gesund gepflegt, die, genau wie er, aus einer alten Adelsfamilie stammte und ebenfalls freiwillig da war. Natürlich heirateten die beiden und Ferrajoli zog ihr zuliebe nach Spanien, doch behielt er seinen italienischen Pass, und auch sonst ließ ihn seine Heimat und die Liebe zum Abenteuer nicht los, weshalb er sich schon bald als Kurier für die im Schweizer Exil lebende ehemalige italienische Königin verdingte und ihr irgendwelche geheimen Nachrichten überbrachte. Kein Wunder also, dass er im März 1955 im Land ist, als ein Schweizer Antiquitätenhändler namens Nicolas Rauch in Genf eine Versteigerung alter Wiegendrucke organisiert.«

»Wiegendrucke?«, fragte Amanda Hollis, die nur bedingt verstand, was ihr die Stimme erzählte, sich aber daran erinnerte, dass Prof. Orscube einst in einer Vorlesung über Wiegendrucke referiert und mit der ihm eigenen Feierlichkeit erklärt hatte, sie seien »die Windeln, in denen unsere Wissenschaft liegt«.

Andererseits, um Kinderkram ging es der Stimme im Rohr offenbar nicht, und bibliothekswissenschaftliche Fragen schienen sie auch nicht zu interessieren.

Aber vielleicht war das ja auch gar nicht wichtig, zumindest nicht für sie, Amanda Hollis, schließlich war es ihre Aufgabe, Schlagworte zu finden, mit deren Hilfe sich die Ereignisse aus der Vergangenheit etikettieren und miteinander verbinden ließen, damit sie, wenn der Wunsch danach aufkam, nacherzählt – und das hieß letztendlich – neu aufgeschrieben werden konnten.

Wenn dem aber so war (und nach siebeneinhalb Jahren war dem so), dann war diese ganze, schier zusammenhanglose Erzählung der Stimme im Rohr nicht nur kein Problem, sondern geradezu die Voraussetzung für das, was sie tat. Das aber bedeutete: Es war gar nicht wichtig, was die Stimme erzählte, sondern dass sie es tat. Oder besser gesagt: dass er es tat. Er, der Student aus der Lamont Library, der genauso gut nebenan in der Houghton Library sitzen konnte, denn dort lagerte die Universität ihre alten Manuskripte und seltenen Bücher.

Aber wo auch immer er saß (und wer auch immer er war), fest stand, dass er jemand brauchte, der ihm zuhörte und seinen Geschichten lauschte.

Und warum auch nicht? Sie, Amanda Hollis, war ganz Ohr. Sollte er doch seinen Kopf in die Wiege ihres Schoßes legen und einfach drauflos erzählen, ganz ohne Druck und den Zwang, sich zu erklären. Sie würde ihm zuhören, und dies umso mehr, als dass sie spürte, dass sie von Anfang an richtig gelegen hatte. Er, der zu ihr sprach, wollte nicht sie ver-, sondern sich selbst entwirren. Ganz einfach, indem er Harvards geistige Höhen für eine Weile verließ, um seinem überzüchteten Gehirn in den Tiefen irgendeines Kellers Entspannung zu verschaffen. Nur war er aus irgendeinem Grund hängengeblieben, kam einfach nicht wieder hoch oder wollte es nicht, und solange das so war, war es ihre Aufgabe, ihm Gesellschaft zu leisten.

Und das war der Moment, in dem sich die Parabel in ein Gleichnis verwandelte, und Amanda Hollis verstand, dass er ihr die Geschichte von diesem Ferrajoli, der erst ein überbildeter Papiertiger war und dann ein Abenteurer wurde, nur deshalb erzählt hatte, weil er selbst gern einer wäre. Aber das war er nicht. Im Gegenteil. So wie es aussah, war er ein Kindskopf in einer Erwachsenenbibliothek, ein großer Junge in der Welt der Überstudierten. Und in den Krieg ziehen konnte er auch nicht, denn Amerika führte gerade keinen. Und eine Königin hatten sie hierzulande nie gehabt. Also musste er in Harvard bleiben und sie, Amanda Hollis, zu seiner Königin machen. Musste sie dazu machen und ihr geheime Nachrichten aus einer Welt überbringen, die sie weder kannte noch verstand.

Aber das war ihr egal und auf eine gewisse Weise auch recht, denn sie wusste, dass es seine Welt war, oder besser gesagt: die Welt in seinem Kopf.

Was – zumindest in dem von Amanda Hollis – die Frage nach sich zog, ob nicht ganz Harvard eine Kopfgeburt war, eine, die, abgesehen von den Gebäuden, den Wiesen und dem Regen, der auf ihnen niederging, aus nichts anderem als Ideen bestand und auch aus nichts anderem bestehen sollte , was zugleich auch erklären würde, warum man irgendwann angefangen hatte, die Bibliotheken vierzig Fuß tief im Boden zu versenken.

Aber wie dem auch war, fest jedenfalls stand, dass es noch mehr gab, was sie inzwischen wusste, sich zumindest aus dem, was ihr die Stimme bisher erzählt hatte, zusammenreimen konnte, schließlich hatte sie in all den Jahren im Archiv gelernt, komplette Existenzen in Schlagworte zu kleiden, das heißt sie zu verschlüsseln, und es fiel ihr deshalb nicht schwer, den umgekehrten Weg zu gehen und die Aussagen, die einer tat, zu dekodieren und einzugruppieren im großen Index des Lebens.

Kurzum, allem Anschein nach studierte der am anderen Ende der Leitung Geschichte oder ein vergleichbares Fach und hatte ein nicht zu leugnendes Interesse an Geographie, auch wenn er ihm hier, das wusste sie, nicht nachgehen, das heißt Geographie nicht studieren konnte, da die geplante Einrichtung eines entsprechenden Departments vor einigen Jahren an der Finanzierung gescheitert war und daran, dass der damalige Präsident von Harvard, James Conant, die Geographie zum nicht-universitären Fach erklärt und sie aus dem Lehrplan gestrichen hatte.

Was dagegen nicht zu streichen war, waren die beiden entscheidenden Größen – der Raum und die Zeit –, und so wie es aussah, waren sie dem, der da zu ihr sprach, durcheinandergeraten, waren ihm über den studierten Kopf gewachsen und so groß geworden, dass er sie nicht mehr zusammenbekam, all die Informationen, Orte und Namen und Zahlen, die Ereignisse und ihre Bedeutung. Deshalb war er hinabgestiegen, so tief wie es in Harvard nur ging – in den Keller der Untergrundbibliothek, in die Katakomben von Lamont oder Hougthon –, um nicht irre zu werden an der Monstrosität der Geschichte der Welt.

So gesehen, dachte Amanda Hollis, war ihr langweiliges Leben fast schon ein Glück.

Aber da war noch etwas anderes, denn dass sie sich getroffen oder besser gesagt verbunden hatten, war nicht nur eine Angelegenheit des Zufalls, sondern auch eine des Schicksals, und Amanda Hollis war sich sicher, dass am Ende der Geschichte eine Antwort stand, eine, die ihm (und damit auch ihr) Klarheit geben, die einzelnen Teile verbinden und den Zusammenhang der Geschichte wiederherstellen würde, schließlich hörte sie ihm nicht nur zu, sondern besaß auch etwas, das half gegen das Chaos in der Raum-Zeit namens Geschichte. Und das waren Karteikarten. Mit Schlagworten drauf.

Und genau solche würde sie schreiben. Für ihn, der zu ihr sprach. Um sie ihm, wenn alles vorbei und die Geschichte zu Ende erzählt war, zu geben. Und sie wusste auch schon, wie sie es anstellen würde.

Sobald sie das letzte Schlagwort notiert hatte, musste sie nichts anderes tun als aufstehen, zum Rohr gehen und ihre Hand an das Lüftungsgitter halten. Dort, wo die Luft jetzt noch sanft in den Raum strömte, würde sich, wenn die Geschichte vorbei, das heißt alles erzählt und aufgeschrieben war, die Bewegung umkehren und ein leichtes Einsaugen zu spüren sein, und das wäre ihr Zeichen – das Zeichen, die Karten zu nehmen und sie in die Schlitze des Lüftungsgitters zu schieben, wo sie, eine nach der andern, gleich einer Rohrpost abtransportiert würden, zu ihm, der nicht weit weg von ihr saß und trotzdem nichts von der Ordnung der Dinge wusste, die aufzustellen sie, Amanda Susan Marie Hollis, bereits begonnen hatte.

Es war alles nur eine Frage von Sorgfalt und System. Eine, bei der es darum ging, sämtliche Informationen, die sie erhielt, zu notieren, zu ordnen und miteinander in Verbindung zu setzen, schließlich, das wusste niemand besser als sie, erhielt jede Information ihren Wert nur im Zusammenhang mit anderen Informationen, und das hieß mit einem Verweis oder noch besser: einem ganzen System von Verweisen.

So gesehen war das, worum es hier ging, nicht nur am Anfang der Geschichte und in ihrem Verlauf, sondern auch und gerade an ihrem Ende eine Frage von Raum und Zeit, genauer gesagt eine Frage der richtigen Kombination beider auf einer 7,5 x 12,5 cm großen Karteikarte bzw. einer Reihe von Karteikarten, die es, wenn alles aufgeschrieben war, miteinander zu verbinden galt. Dann – und nur dann – würde sich die Geschichte, die hier erzählt wurde, entschlüsseln, würde das Geschriebene das Gesagte nachträglich erklären, ihm Klarheit und Dauer verleihen.

Bis es aber soweit war, war es ihre Aufgabe, alle Informationen zu sammeln und sie in Form von Namen, Zahlen, Ereignissen und Orten auf ihre Karteikarten zu schreiben. Die Geschichte, die ihr die Stimme erzählte, mochte unübersichtlich, verworren, ja voller Sprünge und Diskontinuitäten sein, sie aber, Amanda Hollis, würde sie ordnen und das anlegen, was man eine Totalübersicht, einen Gesamtkatalog nennt.

Damit aber, das wurde Amanda Hollis mit einem Mal klar, war eine Ebene erreicht, die weit über die der bloßen Informationen hinausging und auch die ihrer Verbindungen überstieg, ganz egal, wie groß und komplex und bedeutsam sie waren. Denn wenn es stimmte – und welchen Grund sollte es geben, dass dem nicht so war? –, wenn es also stimmte, dass ihre Aufgabe darin bestand, einen Gesamtkatalog zu erstellen, dann war die Tatsache, dass die Stimme im Rohr die Wiegendrucke erwähnt hatte, kein Zufall, sondern ein direkter Verweis, ein Fingerzeig auf die Schicksalhaftigkeit ihrer Begegnung, schließlich waren es – dem Kurs über randständiges Bibliothekswissen bei Prof. Orscube und ihrem Erinnerungsvermögen sei Dank – keine anderen als die Wiegendrucke, von denen ein solcher Gesamtkatalog existierte. Und auch wenn er seit fast sechzig Jahren in Arbeit und immer noch nicht fertig war, so würde er eines Tages doch abgeschlossen sein und alle Wiegendrucke verzeichnen, die dereinst hergestellt worden waren, dagegen sie, Amanda Hollis, den ihren viel eher beenden würde.

Andererseits waren die beiden Vorhaben nur sehr bedingt miteinander vergleichbar, schließlich, das wusste Amanda Hollis, würde ihr Gesamtkatalog nur aus ein paar einfachen Karteikarten bestehen und nicht aus Millionen von Seiten, von denen nicht wenige lose daherkamen, währenddessen andere zu riesenhaften Büchern zusammengebunden waren, deren Buchdeckel oft aus kiloschweren Holzplatten bestanden, auf denen, als sei’s noch nicht gewichtig genug, dicke Eisenbeschläge und nicht minder dicke Ketten angebracht waren, mit denen man die Bücher am Lesepult festmachen konnte, was freilich nicht deshalb geschah, weil man Angst hatte, irgendein Bibliomane könnte sie klauen (dafür waren diese Wiegendrucke schlichtweg zu schwer und der gewöhnliche Bücherwurm einfach zu schwach), sondern weil man die Ordnung bewahren wollte, in der sie aufgestellt waren.

»Bist du noch da?«, fragte die Stimme im Rohr.

»Ja«, sagte Amanda Hollis, die gerade dabei war, sich vorzustellen, wie es wohl ausgesehen hätte, wenn statt der Bücher der faule William Croswell in der Bibliothek am Lesepult angekettet worden wäre, derweil sämtliche Wiegendrucke, die Harvard besaß, kreuz und quer um ihn herumflatterten – aufwärts kreiselnde Papiertauben mit ledernen Schwingen, und in der Mitte das schnarchende Auge des Sturms.

»Wo war ich stehengeblieben?«, fragte die Stimme.

»Ich weiß es nicht«, sagte Amanda Hollis ehrlichen Herzens. Aber dann erinnerte sie sich, was das Schlagwort und dazu noch ihre Aufgabe war, und sagte »Wiegendrucke« und »Erzähl einfach weiter.«

»Ganz wie du willst«, sagte die Stimme, »wir waren in der Schweiz, nicht wahr? In Genf, bei einem Antiquitätenhändler namens Nicolas Rauch. Er wollte im März 1955 ein paar alte Wiegendrucke versteigern.«

»Wollte er?«, fragte Amanda Hollis, und es klang, als sei sie noch immer nicht ganz da.

»Ja. Aber im Grunde ist das keine große Sache, schließlich ist Rauch ein angesehener Geschäftsmann, dessen Familie schon seit dem 18. Jahrhundert mit Büchern handelt, wobei sich Rauch selbst auf wertvolle Landkarten und Manuskripte spezialisiert hat und mit diesen Versteigerungen sein Geld verdient. Aber da ist noch jemand, der an alten Büchern ein Interesse hat – und das ist Enzo Ferrajoli.«

»Der Faschist!«, rief Amanda Hollis, froh darüber, ein Schlagwort vernommen zu haben.

»Der Buchhändler«, korrigierte die Stimme, »schließlich ist der Krieg vorbei und ein neuer nicht in Sicht, zumindest nicht in Europa.«

»Und was ist mit dem Kalten Krieg?«, fragte Amanda Hollis, in deren Register »Kalter Krieg« ein heißer Anwärter auf den Titel »Schlagwort des Jahres« war.

»Für jemand wie Ferrajoli gibt es keinen kalten Krieg«, sagte die Stimme, »und wenn, dann interessiert er ihn nicht.« Und als habe Amanda Hollis nach einer Erklärung verlangt: »Einer wie Ferrajoli will Abenteuer erleben, nicht Technik bedienen. Für ihn ist der Krieg eine Sache zwischen zwei Körpern. Oder zwischen einem Körper und der Natur. Im Kalten Krieg aber geht es nur noch in den Gehirnen zur Sache. Wo die Männer einst auf Schlachtfeldern standen, sitzen sie jetzt in Denkfabriken, und wo früher Köpfe rollten, spulen sich jetzt nur noch Zahlenreihen ab.

In Ferrajolis Sicht der Dinge hat der Kalte Krieg dem großen Schlachten das letzte bisschen Romantik genommen und jegliche Poesie ausradiert. Deshalb hat er ihm abgeschworen und sich wieder dem Papier zugewandt, das heißt sein Geschäftsfeld von Weltpolitik, Abenteuer und Revanchismus hin zu Manuskripten, Atlanten und Pergamentschinken verlegt.«

»Von WAR zu MAP«, sagte Amanda Hollis, die sich aufs Abkürzen verstand, auch wenn das nicht unbedingt die Richtung war, die die Stimme vorgegeben hatte.

»Was?«, fragte deshalb sogleich auch die Stimme, doch hatte Amanda Hollis keine Lust auf eine Diskussion über Ordnungsprinzipien, schließlich war sie diejenige, die in diesem Punkt nicht nur die Erfahrung, sondern auch die Verantwortung hatte, weshalb sie kurzerhand »Ach nichts« sagte, und dann: »Erzähl einfach weiter.«

»Nun«, sagte die Stimme, darum bemüht, wie gehabt weiterzumachen, »Ferrajolis Arbeit bestand in den Jahren nach dem Krieg darin, mit seinem Fiat Topolino durch das zerstörte Europa zu fahren und alte Manuskripte und Karten zu Schleuderpreisen aus den Ruinen rauszukaufen. Der Absatz der Ware erfolgte dann auf dem Weg, wobei es Ferrajoli vorzog, die Sachen direkt vom Kofferraum seines Topolino aus unter die Leute zu bringen, auch wenn er sein Geschäft eigentlich in Barcelona hatte.

Es ist also kein Wunder, dass er sich, als er von Rauchs Versteigerung hört, auf den Weg nach Genf macht. Als er im März 1955 dort ankommt, trifft er aber nicht nur auf Nicolas Rauch, sondern auch auf einen jungen Amerikaner namens Laurence Claiborne Witten. Es ist das erste Mal, dass die beiden sich treffen, und Ferrajoli erfährt, dass sich Witten auf mittelalterliche Manuskripte spezialisiert hat. Seine erste Dependance hat er 1951 in Yale eröffnet und …«

»Yale?«, fragte Amanda Hollis, die froh war, einen bekannten Namen zu hören.

»New Haven, um genau zu sein, aber das ist im Grunde dasselbe«, sagte die Stimme.

»Natürlich«, sagte Amanda Hollis, zog ihre Katalogkarte unter dem Rocksaum hervor (sie hatte doch gewusst, dass sie sie noch brauchen würde), strich mit den Händen ein Eselsohr aus und mit Hilfe des Füllers das, was da stand, kurzerhand durch – und schrieb:

Zeit und Ereignis

März/April 1956 : der Leuchter in Drexel verschwindet

Anfang 1957: de Bridias Historia Tartarorum taucht wieder auf

Namen und Orte

ein Esel: Lyon

Giovanni de Plano Carpini (Mönch): Mongolei

de Bridia (Mönch): Polen

Rodrigo de Triana (Matrose): Amerika

Nicolas Rauch (Buchhändler): Genf

Enzo Ferrajoli (Buchhändler): Barcelona / Genf

Laurence Claiborne Witten (Buchhändler): Yale / Genf

So, wie es aussah, fing die Sache an, ein wenig homogener zu werden. Und Buchhändler lagen ihr auch näher als Mönche. (Über Matrosen ließe sich allerdings reden.)

»Die Buchhändler verhalten sich zu den Mönchen wie Yale zur Mongolei«, dachte Amanda Hollis. Aber dann überkam sie beim Blick auf die Karte ein Gefühl der Trauer, und ihr wurde klar, dass sie den Esel vermisste.

XVIII

Amanda Hollis ging hoch in ihr Zimmer, um neue Katalogkarten zu holen, und als sie zurück im Archiv das Archivs war und sich auf die vorletzte Stufe setzte, um der Stimme zu lauschen, war diese bereits fortgefahren, war ein weiteres Mal durch Raum und Zeit gesprungen und hatte den einen verlassen und die andere gewechselt.

»Es ist der 18. Februar des Jahres 1957«, sagte die Stimme, und es klang, als finge sie an, eine neue Geschichte zu erzählen. »An diesem Tag sucht ein junger Wissenschaftler in der Bibliothek der Kathedrale La Seo im spanischen Saragossa nach alten Manuskripten, die er für seine Studien benötigt.«

Amanda Hollis sah von ihren Karten auf, sah das Rohr, sah, wie die Worte aus dem Lüftungsgitter geweht wurden – und begann zu schreiben. Namen, Zeiten, Ereignisse, Orte. Der Versuch einer topologischen Chronologie. Noch ungeordnet und roh, irgendwann aber ein Muster an Ordnung, der Index einer ganzen großen Geschichte. Und die Stimme half ihr dabei, floss dahin wie die Tinte auf dem Papier …

»Der junge Wissenschaftler hat die Manuskripte bereits ein paar Tage zuvor konsultiert und will sie nun weiter erforschen, doch kann er sie an ihrem angestammten Platz nicht mehr finden. Also geht er zum Bibliothekar und fragt ihn, ob er etwas über den Verbleib der Werke wisse. Der Bibliothekar, ein Mann mit seltsam leuchtgrünen Augen, erklärt ihm, dass er von den genannten Werken noch nie etwas gehört habe, bietet ihm aber an, im Zettelkatalog nachzuschauen, um ihren Standort zu lokalisieren. Der junge Wissenschaftler ist froh und hofft, die Manuskripte schon bald wieder in seinen Händen zu halten, doch teilt ihm der Bibliothekar nach der Durchsicht des Katalogs mit, dass die genannten Werke gar nicht in der Bibliothek vorhanden seien und es auch nie waren, da keine entsprechenden Katalogkarten existieren.«

Amanda Hollis hielt kurz inne. Hatte die Stimme eben »Katalogkarten« gesagt? Dann hatte sie sich wirklich nichts eingebildet, dann war es, nach den Wiegendrucken, ein weiterer Hinweis, ein weiteres Puzzleteil in jenem Bild, in dem sich die Schicksalhaftigkeit ihrer Begegnung offenbaren würde, das Codewort, das sie dazu aufrief, Schlagworte zu schreiben.

»Und wie geht die Geschichte weiter?«, fragte Amanda Hollis, begierig darauf, alles zu erfahren.

»Nun, da der junge Wissenschaftler die Werke zuvor in den Händen gehalten hat, gibt er sich mit der Aussage des Bibliothekars nicht zufrieden, geht zur Polizei und erstattet Anzeige. Normalerweise, das weiß er, hat er keine Chance, da die Polizisten nicht nach Büchern suchen können, die offiziell gar nicht in der Bibliothek vorhanden sind. Doch er hat Glück, denn bei der Durchsicht des Bibliotheksarchivs, das sich ebenfalls in der Kathedrale befindet, stellt sich heraus, dass drei Jahre zuvor eine Gruppe geistlicher Gelehrter die Bibliothek besucht hat, genauer gesagt eine vom Papst persönlich ins Leben gerufene Kommission, die den Auftrag hatte, einige der in der Kathedrale befindlichen alten Manuskripte zu fotografieren, und dabei auch jene mit aufgenommen hat, die jetzt verschwunden sind. Mit anderen Worten: Die Bücher, die es auf Grund der Aussage des Bibliothekars und der fehlenden Katalogkarten gar nicht gibt, haben doch existiert und müssen folglich abhandengekommen sein. Die Frage ist nur: Wer hat sie geklaut? Und wann? Und warum?

Um das herauszufinden, fragen die spanischen Polizisten in der Bibliothek rum, und bald schon wird klar, dass nicht nur die Bücher des jungen Wissenschaftlers, sondern mehr als einhundert Manuskripte von geradezu unschätzbarem Wert verschwunden sind, und dass nur ein Mann für den Diebstahl in Frage kommt.«

»Der Bibliothekar mit den leuchtgrünen Augen!«, rief Amanda Hollis, als gelte es eine Preisfrage zu beantworten. Aber es war keine gestellt und die Antwort überdies falsch.

»Falsch«, sagte richtigerweise auch die Stimme und nannte, bevor Amanda Hollis noch ein zweites Mal raten konnte, den Namen des Diebes gleich selbst.

»Es war Enzo Ferrajoli, der die Manuskripte gestohlen hat.«

»Die zwielichtige Gestalt?«, fragte Amanda Hollis, und es klang, als traue sie zwielichtigen Gestalten Bücherdiebstähle nicht zu.

»Genau die«, sagte die Stimme, um Amanda Hollis wenigstens das Gefühl eines halben Punktes zu geben. Und dann: »Ferrajoli wurde also verhaftet, und es stellte sich heraus, dass er sich das Vertrauen des Bibliothekars erschlichen und eine Reihe von Büchern ausgeliehen hatte, die er nie mehr zurückgab. Andere hingegen stahl er direkt aus der Bibliothek, wobei er seine Spuren ganz einfach dadurch vertuschte, dass er die Katalogkarte, auf der das Buch verzeichnet war, ebenfalls mitgehen ließ und anschließend vernichtete. Mit anderen Worten: Ferrajoli zerstörte die Kopie, um die Spur des Originals zu verwischen, was ihm schließlich acht Jahre Gefängnis einbrachte.«

»Das heißt, Ferrajoli ist aus dem Spiel«, sagte Amanda Hollis, und es klang, als wüsste sie, was hier gespielt wird.

»Nicht ganz«, sagte die Stimme, »Ferrajoli wurde aus irgendeinem unerfindlichen Grund erst 1961 verhaftet, und zuvor hat er nicht nur in Saragossa, sondern auch anderswo Geschäfte gemacht.«

»Mit Büchern?«, fragte Amanda Hollis, und es klang noch immer, als hätten zwielichtige Gestalten damit nicht das Geringste zu tun.

»Mit einer Karte«, sagte die Stimme.

»Was für eine Karte?«

»Die sogenannte Vinland-Map«, sagte die Stimme. Und dann, geradezu feierlich: »Es ist die erste Karte in der Geschichte der Menschheit, auf der Amerika dargestellt ist!«

»Ich habe noch nie etwas von einer Vinland-Map gehört«, sagte Amanda Hollis ebenso wahrheitsgemäß wie verdutzt.

»Natürlich nicht«, sagte die Stimme, »die Karte ist ja offiziell auch noch nicht existent.«

»Ich verstehe kein Wort!«, rief Amanda Hollis. Aber dann fiel ihr ein, dass das für jemand, der Schlagworte schrieb, keine sonderlich vertrauenserweckende Aussage war, und deshalb sagte sie: »Das mit der Karte musst du mir erklären.«

»Die Karte wird den Verlauf unserer Geschichte verändern«, sagte die Stimme, und es klang, als meinte sie's ernst.

»Ich bin ganz Ohr«, antwortete Amanda Hollis und hielt den Füller dicht übers Papier.

»Die Karte, von der ich spreche, zeigt zwar nur ein kleines Stück Ostküste, aber das genügt, um unseren Blick auf Amerika komplett zu verändern.«

»Warum nur ein kleines Stück?«, fragte Amanda Hollis.

»Weil die Wikinger ihre großen, behaarten Füße nur auf dieses kleine Stück von Amerika gesetzt haben. Außerdem sieht es so aus, als hätte der Kartenzeichner, nachdem er die ganze, ihm damals bekannte Welt auf das Pergament gemalt hatte, am linken Rand nicht mehr viel Platz gehabt, weshalb es fast schon ein Glück war, dass die Wikinger in Amerika nur ein kleines Stück Ostküste besiedelt haben, denn sonst hätte der Zeichner auf seiner Karte auf den einen oder anderen Landstrich verzichten müssen.«

Amanda Hollis horchte auf.

Eine Karte, auf der etwas fehlte, das kannte sie doch.

»Das kleine Stück Ostküste auf der Vinland-Map ist das große Stück Amerika auf meiner Pauspapier-Karte, und der große fehlende Teil von Amerika auf dem Pergament ist der kleine fehlende Teil auf meinem Papier.«

Und um die Sache abzurunden: »Mein Weinland heißt Alaska. Es ist das Land des Weißweines. Und das des Rotweines ist Hawaii.«

Aber das konnte sie der Stimme im Rohr natürlich nicht sagen. Also tat sie, als sei nichts gewesen, und bat stattdessen darum, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Was die Stimme dann auch tat.

»Nun«, sagte sie, nachdem sie sich kurz geräuspert hatte, »wie üblich in der Historie beginnt die Sache mit einem Versehen, in diesem Fall einem abgedrifteten Schiff, auf dem ein paar Wikinger saßen, die eigentlich von Island nach Grönland segeln wollten, aus irgendeinem Grund aber – angeblich kam der Wind aus der falschen Richtung, wahrscheinlich aber waren sie einfach besoffen – an der Ostküste von Amerika landeten.«

»Wann war das?«, fragte Amanda Hollis, darauf bedacht, alles von Wert zu notieren.

»Im Jahr 986 nach Christus«, sagte die Stimme.

»Und dann?«, fragte Amanda Hollis.

»Dann nannten die Wikinger die Gegend, in der sie landeten, Vinland, was so viel wie Weinland heißt und, wenn du mich fragst, darauf hindeutet, dass es nicht die Strömung war, die sie hergebracht hat.«

»Und wo sind die Wikinger jetzt?«

»Tot«, sagte die Stimme.

»Totgesoffen?«, fragte Amanda Hollis seltsam beschwingt.

»Ausgestorben«, sagte die Stimme. »Aber nicht in Amerika, denn da haben sie es nicht lange ausgehalten. Deshalb sind sie, als sie wieder nüchtern waren, auch zurück nach Grönland gefahren.«

»Wie lange waren sie in Amerika?«

»Drei Jahre«, sagte die Stimme.

»Sie müssen mächtig besoffen gewesen sein«, sagte Amanda Hollis, geradezu trunken von all den Informationen.

»Ja«, sagte die Stimme, »so besoffen, dass es über zweihundert Jahre gedauert hat, bis sie überhaupt irgendwas über ihre Fahrten aufschreiben konnten, was sie dann schließlich in zwei Sagas getan haben, die im 13. Jahrhundert veröffentlicht wurden. Der nüchternste von ihnen hat dann, sozusagen als Beweis, dass sie auch wirklich in Vinland waren und nicht einfach nur besoffen drei Mal rund um Grönland gefahren sind, noch eine Karte gezeichnet, auf der nicht nur die damals bekannten Teile von Europa, Afrika und Asien dargestellt waren, sondern – zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt – auch ein Stück von Amerika.«

»Und das ist die Vinland-Map«, sagte Amanda Hollis, als gelte es, das Gesagte zusammenzufassen.

»Nicht ganz«, erklärte die Stimme, »die eigentliche Vinland-Map ist, nach allem, was man weiß, verloren gegangen, aber eine Kopie der Karte ist erhalten geblieben. Sie stammt aus dem 15. Jahrhundert.«

»Die Geschichte wird von Kopien dominiert«, dachte Amanda Hollis und war plötzlich wieder ganz nüchtern. Aber dann erinnerte sie sich an den Leuchter in Drexel, der ein Original war und fragte: »Und wo ist die Karte jetzt?«

»In Yale«, erklärte die Stimme, »in der dortigen Universität.«

»Im Archiv?«, fragte Amanda Hollis. »Oder in irgendeinem Depot?«

»Keine Ahnung«, sagte die Stimme, »das kann niemand sagen, denn alles, was mit der Karte zu tun hat, ist streng geheim.«

»Genau wie meine durchsichtigen Amerikas«, dachte Amanda Hollis.

Aber davon sollte die Stimme nichts wissen, und deshalb schwieg sich Amanda Hollis darüber aus und sagte stattdessen nur »Oh!« und »Eine geheime Karte!«, und dann nichts mehr, denn die Stimme war fortgefahren, noch bevor Amanda Hollis »Wie aufregend!« rufen konnte.

»Wenn es stimmt, dass die Kopie echt ist, würde es bedeuten, dass nicht nur die Existenz, sondern auch die Lage Amerikas in Europa mindestens ein halbes Jahrhundert vor Kolumbus bekannt war, und wenn man das verlorene Original mit dazurechnet, noch viel länger.«

»Das ändert in der Tat einiges«, sagte Amanda Hollis, die eigentlich fragen wollte, woran man eine echte Kopie erkennt.

Aber die Stimme im Rohr war nicht zu stoppen, und Amanda Hollis hatte Angst, auf ihren Katalogkarten den Anschluss zu verlieren. Und so schwieg sie. Und schrieb weiter, auch wenn sie gern erfahren hätte, woher die Stimme ihre Informationen über die Vinland-Map hatte, wenn die Karte doch so geheim war. Aber das konnte sie später immer noch fragen, während es jetzt darum ging, möglichst alles von Gewicht zu notieren, selbst wenn es kaum mehr als Behauptungen waren, deren Wahrheitsgehalt sich bis auf weiteres nicht überprüfen ließ. Was dann auch auf das zutraf, was ihr die Stimme als nächstes mitteilte.

»Es heißt, Kolumbus persönlich habe die Vinland-Map in den Händen gehalten, um den spanischen König von der Notwendigkeit einer Reise nach Amerika zu überzeugen.«

»Aber wie kommt die Karte dann nach Yale?«, fragte Amanda Hollis.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte die Stimme.

»Wie lang?«, fragte Amanda Hollis.

»Ein paar Jahrhunderte«, sagte die Stimme.

»Dann muss ich mir meine Sloppy Joes holen«, sagte Amanda Hollis, »ich hab nämlich noch nicht gefrühstückt, musst du wissen«, und verschwand über die Treppe nach oben.

XIX

Als Amanda Hollis die kleine dicke hechtgraue Tür hinter sich schloss, traten, als seien sie verabredet, plötzlich ein Dutzend Archivare aus ihren Zimmern und hasteten vor ihren Augen über den Flur.

Einen Augenblick lang dachte sie, dass etwas passiert, ja die Eile vielleicht sogar Resultat ihres Verschwindens in den Tiefen des Hauses war, aber dann bemerkte sie, dass die Archivare Äpfel und Brote in den Händen hielten und dass sie raus auf die Wiese gingen, um ihr Frühstück zusammen mit den ersten Sonnenstrahlen seit Wochen zu sich zu nehmen.

XX

»Moment mal«, dachte Amanda Hollis, kaum dass die Archivare verschwunden und der Flur wieder leer war, »Frühstück ist doch schon lange vorbei«, und lugte wie zum Beweis durch eine der von den Archivaren offen gelassenen Türen. Und sah die Uhr, die in allen Zimmern an derselben Stelle an der Wand hing. Und die zeigte Punkt neun.

»Stehengeblieben«, dachte Amanda Hollis, zog den Kopf aus der Tür und steckte ihn in die nächste.

Punkt neun auch hier.

Die nächste Tür, die nächste Uhr.

Punkt neun.

Die nächste.

Neun.

Die nächste.

Neun.

Die nächste.

Neun.

Die nächste.

Neun. Nein, stopp, neun Uhr und eine Minute.

»Nicht stehengeblieben«, dachte Amanda Hollis, die das, was sie sah, noch nicht so recht zu glauben vermochte und deshalb ihren Kopf auch in die anderen Türen reinsteckte, um nach der Zeit zu schauen, und überall hing die Uhr an derselben Stelle an der Wand, und überall war es neun Uhr und eine Minute, und als sie die ihre öffnete, war es neun Uhr und zwei.

»Noch 18 Minuten offizielle Frühstückszeit« war alles, was Amanda Hollis in diesem Moment denken konnte, wobei die verbliebene Zeit bedeutete, dass sie sechs Minuten für jeden ihrer drei Sloppy Joes hatte – was immer noch doppelt so viel war, wie sie eigentlich brauchte.

Aber dann kam ihr ein weiterer Gedanke, einer, der sich weniger um ihr Frühstück als um die Zeit selbst drehte, und Amanda Hollis befand (oder wurde zumindest von dem Gefühl heimgesucht), dass die Zeit unten im Keller langsamer vergangen war.

Allerdings, so schlussfolgerte sie schon im nächsten Moment, war das alles andere als logisch, schließlich hieße das, dass die Zeit hier oben schneller verging. Genau das aber war gerade nicht der Fall gewesen, was wiederum bedeutete, dass die Zeit im Keller nicht langsamer, sondern schneller vergangen sein musste, und die Tatsache, dass sie das Gefühl hatte, lange unten gewesen zu sein, war nur scheinbar ein Widerspruch dazu, tatsächlich aber die Bestätigung für die in der Tiefe schneller vergehende Zeit, die recht eigentlich – und das hieß: von hier oben aus betrachtet – langsamer ablief als gefühlt und gedacht.

Womit Amanda Hollis wieder am Anfang ihrer Gedanken angekommen war, und einzig ihr Gefühl hatte sich geändert und war von »Aha« zu »Oho« gewechselt. Was, so gesehen, freilich auch nur ein Gedanke war – einer, dem Ausdruck gegeben werden musste:

»Es gehört nicht viel dazu, dass einem die Zeit durcheinandergerät«, dachte Amanda Hollis. »Und« – mit Blick auf William Croswell – »auch der Raum.«

Und siehe da, da lag er. William Croswell. Auf dem Schreibtisch. So wie nur William Croswell auf einem Schreibtisch liegen konnte. Regungslos. In 914 Teilen. Wie ein Puzzle, das froh darüber war, nicht zu Ende gebracht worden zu sein.

»Wer weiß, was sie dir im Laufe der Zeit alles gestohlen haben«, überkam es Amanda Hollis, während sie nach ihren Sloppy Joe-Sandwiches suchte, »deine Faulheit war bestimmt eine Einladung an zwielichtige Typen, dir die besten Stücke aus deiner Geschichte zu klauen. Ich meine, vielleicht haben sie dir ja sogar die entscheidenden Stücke gestohlen, und du hast es nicht mal gemerkt. Kein Wunder, dass sie dich nicht ins große Buch der Bibliothekare aufgenommen haben. Wahrscheinlich haben sie es einfach nicht besser gewusst. Aber mir geht es nicht anders. Und jetzt, jetzt liegst du vor mir wie ein Sandwich, bei dem alle wichtigen Zutaten fehlen«, sprach’s und griff nach ihren drei Sloppy Joes, die sich hinter den Pappboxen versteckt hatten und jetzt hervorgezappelt kamen.

William Croswell aber war das egal. Und Amanda Hollis hatte gefunden, wonach sie gesucht.

Also verließ sie das Zimmer, sah, bevor sie die Tür schloss, ein letztes Mal auf die Uhr, sah, dass die Zeit einen Sprung getan haben musste, sah, dass es neun Uhr und vierzehn Minuten war, sagte, als müsse der Mund erst noch bestätigen, was die Augen gesehen, »neun Uhr vierzehn« und dann »neunhundert und vierzehn Teile« und stieg (»Das hat doch was zu bedeuteten!«) die Treppe hinab (»Nur was? Was?«) ins Archiv des Archivs.

Es fühlte sich inzwischen ganz natürlich an. Das heißt, es fühlte sich überhaupt nicht mehr an. Es war einfach, als würde sie statt zum Frühstück zur Arbeit gehen.

XXI

»Da bin ich wieder!«, rief Amanda Hollis, die nicht vorhatte, sich gegenüber der Stimme im Rohr etwas anmerken zu lassen, weshalb sie sich auch gleich wieder auf ihren angestammten Platz setzte, sich einen der drei Sloppy Joes schnappte und ihn zu entkleiden begann.

Vor ihr das Rohr aber schwieg.

Also schaute Amanda Hollis nach links, sah, wie das Rohr durch die Wand nach draußen lief, schaute nach rechts, sah, wie es hereinkam, fragte sich, ob so ein Rohr nicht auch links hereinkommen und rechts hinausgehen konnte, kam zu keiner Entscheidung und biss – in der Hoffnung, irgendjemand würde schon schreien – in Sloppy Joe Nummer eins.

Aber nichts passierte. Zwei Mal. Und als Amanda Hollis zum dritten Mal in Sloppy Joe den Ersten reinbiss, war es mit ihm vorbei, und ihr blieb nichts weiter übrig, als ihn zu zerkauen und seine Reste runterzuschlucken.

Als das getan war, hatte sie das Gefühl, dass das Rohr sie ansah.

»Was ist?«, fragte Amanda Hollis. Und weil das Rohr nichts sagte: »Ich hab nichts gemacht.«

Aber dann bemerkte sie, dass der Blick, der da aus dem Rohr kam, gar nicht ihr galt, sondern an ihr vorbeizielte, sie sozusagen passierte und auf etwas hinzuweisen versuchte, das an der Wand hinter ihr stand.

»Heath Cover Evil!«, durchfuhr es Amanda Hollis, aber als sie sich umdrehte, war erneut niemand zu sehen, nur die schweren, metallenen Schränke, die dicht an dicht an der Wand gereiht standen, als wären sie Gefangene, die auf ihre Erschießung warteten, ehemals eiserne Wächter, die, angewidert von ihrem eigenen Tun, irgendwann weich geworden und abgefallen waren und die deshalb jetzt selbst fallen mussten – tief unten, in den Katakomben jenes Americas, dem sie dereinst gedient hatten.

Amanda Hollis' Gedanken aber drehten sich nicht um die Veränderungen im Innern der Schränke, mochten sie nun einstige Wächter sein oder auch nicht. Ihre Aufmerksamkeit war einzig und allein auf das Äußere der Schränke gerichtet. Das Äußere, das jetzt ein anderes war.

Jemand hatte große Blätter an die Türen geklebt.

Die Blätter waren von oben bis unten beschrieben, und zwar mit einer so kleinen Schrift, dass es unmöglich war, von der Treppe aus zu erkennen, was auf ihnen stand. Also erhob sich Amanda Hollis und ging hin, um sich die Sache genauer anzuschauen.

Sie entschied sich für das an ihrem Schrank klebende Blatt (als gäbe es eine individuelle Kopie, eine nur auf sie gemünzte Version des Originals), doch wurde ihr nach einigen prüfenden Blicken nach links und nach rechts klar, dass auf allen Blättern derselbe Text stand und, da es keine Spuren von Kohlepapier gab, jedes von ihnen einzeln getippt worden sein musste.

Aber da war noch mehr (bzw. weniger), denn so wie es aussah, war auch nicht jenes Xerox-Vervielfältigungs-Monster zum Einsatz gekommen, dessen Existenz nicht nur in den Augen von Amanda Hollis, sondern in ganz Pusey inzwischen als ausgemachte Sache galt, was freilich weniger an den beiden kopierten Blättern in William Croswells Archiv lag, als an dem Besuch eines gewissen Rolland E. Stevens, der mit dem Kopien speienden Ungetüm übers Land und in die Bibliotheken gezogen war und seine Erlebnisse in einem Aufsatz mit dem Titel Library Experiment with the Xerox 914 Copier (erschienen in den Library Resources & Technical Services, 1962) veröffentlicht hatte – Erlebnisse, die ebenso ungeheuerlich waren wie das Monster selbst, schließlich, so hieß es, hätten seine Kopien die Originale nicht selten an Qualität übertroffen!

Gewiss, bisher hatte in Pusey noch niemand dieses Ungeheuer zu Gesicht bekommen, doch musste Amanda Hollis in diesem Moment weniger an den Kopierer als an die Zahl denken, die dem Modell beigegeben war und die – das konnte kein Zufall sein! – dieselbe war, die die Anzahl von William Croswells papiernen Hinterlassenschaften markierte: 914.

Um von der Uhrzeit (»Neun Uhr vierzehn!«) zu schweigen.

Was um alles in der Welt war hier los?!

Amanda Hollis wusste es nicht. Und selbst wenn, so konnte sie es nicht sagen, denn in ihrem Kopf stand plötzlich jene Zeile aus Hiob 9:14, die damals in Drexel der Leitspruch der Trauermette hätte sein sollen, die sie zu besuchen gedachte, bevor der Getreidespeicher der Stadt seine eigene Trauermette produziert und alle anderen hinweggefegt hatte: »Wie sollte ich ihm denn antworten und Worte finden gegen ihn?«

Wer um alles in der Welt aber war mit »ihm« gemeint? Wer war derjenige, dem es zu antworten galt? Der Allmächtige? Aber der hörte hier auf den Namen Heath Cover Evil! Und sie, Amanda Hollis, sollte Worte für und nicht gegen ihn finden.

Und überhaupt, selbst wenn sie wusste, wer es war – was sollte sie sagen? Dass hinter einer der großen, eisernen Türen ein Kopiermonster wohnte?

Aber das war ganz und gar falsch, schließlich passte dieses Ungetüm in so einen Schrank gewiss nicht hinein, mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass das, was in den Schränken lag, nicht auf seine Vervielfältigung, sondern auf seine Vernichtung wartete.

Ihr Schrank jedenfalls, das wusste Amanda Hollis, war bis obenhin voll mit Papier, und die anderen, dessen war sie sich sicher, waren es auch. Außerdem waren die Blätter, die an den Türen hingen, mit Schreibmaschine getippt worden und das, was auf ihnen stand, nicht nur die Bestätigung des bekannten Vernichtungswillens, sondern Ausdruck seiner baldmöglichsten Umsetzung.

»Das Archiv des Archivs soll aufgelöst werden«, sagte Amanda Hollis, kaum dass sie die Anordnung gelesen hatte, und ihre Stimme klang dumpf, die Zunge war wie in Folie geschlagen. »Es heißt, dass die überflüssigen Akten in Zukunft sofort kassatiert werden sollen.«

Aber wem sagte sie das? Und vor allem: Wer hatte das, was da stand, geschrieben?

Amanda Hollis hatte eine Vermutung, doch sicher wusste sie's nicht, und eine Unterschrift war auch nirgends zu sehen.

Also drehte sie sich zurück zum Rohr, schließlich hatte es ihr diesen Blick zugeworfen, und das hieß, dass es über das, was während ihrer Abwesenheit hier unten passiert war, informiert war.

»Wer war das?«, fragte Amanda Hollis. Und weil das vielleicht ein wenig unkonkret war. »Wer hat das Papier an die Schränke geklebt?«

»Woher soll ich das wissen?«, sagte die Stimme im Rohr.

Nun, das war nicht die Antwort, die Amanda Hollis erwartet hatte, doch ließ sie sich nicht entmutigen.

»Du warst hier«, sagte sie, und das war keine Frage.

»Ja«, sagte die Stimme, »war ich.«

»Also musst du auch etwas gesehen haben«, befand Amanda Hollis, und es klang nach einer Lösung, nach Antwort, Triumph. Aber es war weder das eine noch das andere. Und ein drittes schon gar nicht.

»Für wen hältst du mich?«, fragte die Stimme im Tonfall der Antwort. »Ich bin eine Stimme in einem Rohr. Ich kann nichts sehen, ich reagiere nur auf Geräusche.«

»Aber …«, sagte Amanda Hollis.

»Kein Aber«, sagte die Stimme. »Oder glaubst du, nur weil ich dir ein paar Geheimnisse anvertraue, bin ich über alles informiert?«

»Ja«, sagte Amanda Hollis.

»Nein«, sagte die Stimme.

Womit die Sache erledigt war.

Zumindest fürs Erste, denn kaum dass sich Amanda Hollis wieder auf die Treppe gesetzt und Sloppy Joe Nummer zwei aus seinem Folienkleid gewickelt hatte, kam ihr eine Idee. Eine, mit deren Hilfe sie die Stimme zwingen würde, zu sagen, was sie wusste – und was sie, Amanda Hollis, längst schon vermutete. Doch sie musste vorsichtig sein, denn die Stimme war gewarnt, und ein einfaches Drauflosstürmen würde sie nur ausweichen oder ganz verstummen lassen.

Also entschied sich Amanda Hollis, die Erkenntnis aus dem Bauch des Rohres mit Hilfe von zwei, drei geeigneten Fragen herauszugebären und fragte (nach einem kräftigen Biss in Sloppy Joe Nummer zwei):

»Hat es geraschelt?«

»Was?«

»Hast du, während ich weg war, etwas rascheln gehört?«

»Nein«, sagte die Stimme.

»Gut«, sagte Amanda Hollis.

»Gut?«, fragte die Stimme.

»Nein«, sagte Amanda Hollis.

Mit anderen Worten: Heath Cover Evil war als Ankleber aus dem Spiel, und alles, was Amanda Hollis blieb, war Sloppy Joe Nummer drei, der in ihrem Schoß lag und zitterte.

»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte sie, kaum dass sie ihn ausgezogen und ihre Hände um seinen Weißbrothals gelegt hatte.

»Bei der Frage, wie die Vinland-Map nach Yale gekommen ist«, sagte die Stimme. »Aber warte, ich habe da gerade etwas rascheln gehört.«

»Dasch ischt nischt dasch Rascheln dasch isch meine«, kam es aus Amanda Hollis' Mund, und große, soßige Krümel zogen sinnlose Parabeln zwischen Treppe und Rohr.

»Einen halben Meter weiter und ich hätte das Rohr angespuckt«, überfiel es Amanda Hollis mit Blick auf die ausgesprudelten Krumen, »dann wäre die Alufolie voll mit Sloppy Joes Resten, und es wäre leichter, sie für das Innere eines riesigen Frühstückspaketes zu halten als für das Äußere eines Rohrs.«

Zum Glück aber hatte die Stimme von dem Krumenhagel nichts mitbekommen, und falls doch, so ignorierte sie ihn. Und während Sloppy Joe Nummer drei in Amanda Hollis' Händen seine letzte Reise antrat, begann die Stimme von jener zu berichten, die die Vinland-Map nach Yale gebracht hatte.

»Nun, wir hatten gesagt, dass die Wikinger oder sagen wir besser die Isländer, denn tatsächlich sind die Vinland-Sagas in Island aufgeschrieben worden, dass also diese isländischen Wikinger die Vinland-Map irgendwann im 13. Jahrhundert gezeichnet haben, nur um sie dann wieder zu verlieren. Wobei natürlich niemand weiß, wie genau das passiert ist.«

»Weil sie alle besoffen waren«, sagte Amanda Hollis, und es klang, als wüsste sie das genau.

»Weil das 13. Jahrhundert siebenhundert Jahre her ist und die meisten Wikinger-Quellen aus dieser Zeit verloren gegangen sind«, sagte die Stimme, und es schien, als hätte sie eine Ahnung von der Geschichte. »Womit ich freilich nicht sagen will, dass sie die Vinland-Map nicht doch im Suff irgendwo hingelegt und dann nicht wiedergefunden haben. Oder aufgekaut.«

»Aufgekaut?«, fragte Amanda Hollis.

»Die berühmten isländischen Kaukarten«, sagte die Stimme, »die Wikinger haben auf ihnen all jene Länder eingezeichnet, die sie erobert haben, und dann haben sie diese Länder zum Zeichen, dass sie die Sieger waren, mit ihren Zähnen zermalmt.«

Und weil Amanda Hollis schwieg, das heißt darüber nachsann, ob Prof. Orscube in seiner Vorlesung jemals etwas über isländische Kaukarten gesagt oder wenigstens von angenagten Katalogzetteln berichtet hatte (und zu keinem Ergebnis kam), referierte die Stimme munter weiter: »Manche nennen es aus den genannten Gründen auch Knusperpergament. Dabei ist es eher so eine Art Kautabak. Nur härter. Wahrscheinlich war es aufgrund des Klimas in Island noch gefroren.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand Spaß daran hat, auf einem Stück gefrorenem Pergament rumzukauen«, sagte Amanda Hollis, für die eine solche Mahlzeit den größten anzunehmenden Gegensatz zu ihren Sloppy Joe-Sandwiches darstellte. »Außerdem haben die Wikinger Amerika gar nicht erobert. Du hast schließlich selbst gesagt, dass sie nur drei Jahre da waren.«

»Das stimmt«, sagte die Stimme.

»Es macht also keinen Sinn zu glauben, dass sie die Vinland-Map aufgekaut haben. Denn hätten sie das getan, dann wäre sie nicht überliefert.«

»Zumindest nicht, wenn sie sie weggeknuspert hätten, bevor irgendjemand eine Kopie davon machen konnte. Aber genau das ist passiert. Irgendjemand hat die Karte kopiert.«

»Und wer?«

»Das weiß niemand zu sagen. Es steht nämlich kein Name drauf. Das heißt, weder der Autor noch der Kopist der Vinland-Map sind bekannt. Das Einzige, was man sagen kann, ist, dass das Pergament aus dem 15. Jahrhundert stammt. Genauer gesagt aus der Zeit um 1440, zumindest wenn man das Wasserzeichen auf de Bridias Werk als Vergleichspunkt nimmt. Die Vinland-Map und seine Historia Tartarorum sind nämlich zusammengebunden. Vorn die Vinland-Map und dahinter de Bridias Mongolengeschichte, die aber, weil ‚Tartarorum‘ so schwer auszusprechen ist, im Allgemeinen nur als Tartar-Relation bezeichnet wird.

Aber gut, wie dem auch sei, fest steht, dass jemand aus den zwei Werken irgendwann mal eins gemacht hat. Allerdings ist vollkommen unklar, wer das getan hat und wann und warum, und das Einzige, was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Vinland-Map selbst kein Wasserzeichen besitzt.«

»Das sind aber ziemlich viele Lücken für eine Geschichte«, sagte Amanda Hollis.

»Mag sein«, sagte die Stimme, »aber dafür ist Amerika jetzt auf der Weltkarte mit drauf.«

»Und wie ist diese Vinland-Map dann nach Yale gekommen?«

»Nun, zunächst einmal ist sie nirgendwohin gekommen. Die Vinland-Map ging nämlich für volle fünfhundert Jahre verschollen, zumindest taucht sie nirgendwo auf und wird auch in keiner anderen Quelle erwähnt.«

»Klingt seltsam.«

»Ist es auch«, sagte die Stimme, »aber 1957 kommt die Karte plötzlich ans Licht. Und nun rate mal, wo?«

»In Europa«, sagte Amanda Hollis, die sich an das erinnerte, was mit der Mongolengeschichte dieses de Bridia passiert war.

»Und wo in Europa?«, fragte die Stimme, die offenbar Lust auf ein kleines Spielchen hatte.

»Polen war es sicherlich nicht«, sagte Amanda Hollis.

»Nein«, sagte die Stimme, »da hast du wohl recht.«

»Und in Frankreich sind wir auch schon gewesen.«

»Waren wir.«

»Dann nehme ich Spanien«, sagte Amanda Hollis, der langsam was schwante.

»Hundert Punkte«, kam's aus dem Rohr.

»Dieser Ferrajoli steckt dahinter, nicht wahr?!«, fragte Amanda Hollis, auch wenn es überhaupt nicht nach einer Frage klang.

»Absolut richtig«, sagte die Stimme. »Und weiß du auch, wo er die Vinland-Map herhat?«

»Und ob, er hat sie in Saragossa geklaut!«, rief Amanda Hollis, und es klang ein wenig nach »Haltet den Dieb!«.

»Nein«, sagte die Stimme, »auch wenn es in der Tat verlockend ist anzunehmen, Ferrajoli habe die Karte in Saragossa gestohlen. Aber nach allem, was man weiß, ist die Vinland-Map dort niemals gewesen.«

»Verstehe, Bücher, die angeblich nie in der Bibliothek waren, sind doch da, nur gestohlen. Und Bücher, von denen man annimmt, sie sind dort gestohlen worden, waren nie da.«

»So könnte man es ausdrücken«, sagte die Stimme.

»Und woher hat Ferrajoli dann die Karte?«, fragte Amanda Hollis, die das Gefühl hatte, auf dem richtigen Weg zu sein, auch wenn sie sich ab und zu nach der Richtung erkundigen musste.

»Ich weiß es nicht«, sagte die Stimme, »angeblich hat er sie aus einer europäischen Privatsammlung bekommen, aber das ließ sich bisher nicht verifizieren.«

»Weil du in deinem Rohr feststeckst und nicht bis Europa kommst«, sagte Amanda Hollis und klang ziemlich herausfordernd.

»Weil eine Stimme in einem Rohr im Vergleich zu einer europäischen Privatsammlung ein offenes Buch ist«, sagte die Stimme. »Aber wo wir schon mal beim Thema 'offene Dinge' sind, es ist Ferrajolis Fiat Topolino, oder besser gesagt dessen offen stehender Kofferraum, in dem die Vinland-Map 1957 plötzlich wieder auftaucht.«

»Er hat sie doch nicht etwa als Landkarte benutzt?«, fragte Amanda Hollis.

»Nein«, sagte die Stimme, »andererseits würde das erklären, warum er mit seinem Auto damals planlos durch halb Europa gefahren ist.«

»Was ist passiert?«, fragte Amanda Hollis, die jetzt wieder ganz bei der Sache und überdies darauf erpicht war, sämtlichen Planlosigkeiten mit Füller und Karteikarten zu Leibe zu rücken.

»Nun, sagen wir, es gab ein kleines 'Umwandlungsproblem'. Nachdem Ferrajoli die Karte Anfang 1957 von ebenjenem unbekannten europäischen Privatsammler gekauft hat, versucht er nämlich, das Pergament möglichst schnell in Pesos zu verwandeln, und zieht damit durch halb Europa. Er fängt in Spanien an, aber dort will keiner die Karte haben. Also fährt er weiter nach Frankreich, aber auch dort scheint sich niemand dafür zu interessieren, woraufhin Ferrajoli auf die Insel geht und die Vinland-Map einem Engländer namens Joseph Irving Davis anbietet. Davis besitzt in London eine Buchhandlung, die sich Davis und Orioli nennt und hauptsächlich mit alten Manuskripten handelt.«

»Und der kauft sie dann?«

»Nein«, sagte die Stimme, »Davis ist schon zu lange im Geschäft, um eine Karte zu kaufen, die keinen ordentlichen Herkunftsnachweis hat. Und er macht Ferrajoli klar, dass auch niemand sonst eine solche Karte kaufen wird. Also versucht Ferrajoli, einen solchen Nachweis zu bekommen – und Davis hat dafür die entsprechenden Kontakte, denn er kennt ein paar Leute an dem Ort, der als einziger einen solchen Nachweis erbringen kann: das British Museum.«

»Das British Museum«, flüsterte Amanda Hollis ehrfurchtsvoll. Aber die Stimme hatte andere Sorgen.

»Der erste, den Ferrajoli und Davis treffen, ist ein Mann namens George Duncan Painter, seines Zeichens der hauseigene Maler des British Museum.«

»Die haben hauseigene Maler im British Museum?«, fragte Amanda Hollis, die Spitze des Füllers spuckend und speiend auf dem Papier.

»Kleiner Scherz«, sagte die Stimme, »Painter ist für die Wiegendrucke im British Museum zuständig.«

»Wiegendrucke?«, fragte Amanda Hollis. »Interessant!« Und warf dem Rohr einen komplizenhaften Blick zu, gefolgt von einem Lächeln, das vom Wissen einer stillen Übereinkunft zeugte.

Die Stimme war derweil fortgefahren.

»Nach allem, was sich einer Kopie des damals angefertigten Protokolls entnehmen lässt, empfängt Painter Ferrajoli und Davis im März 1957 im British Museum, lässt sich von ihnen die Vinland-Map samt der daranhängenden Tartar-Relation zeigen und bringt die beiden anschließend in einen großen, runden Raum, eine Art Kartenzimmer, wo schon der Leiter der Handschriftenabteilung, Bertram Schofield, und eine Schar von Mitarbeitern wartet.«

»Und dann? Was ist dann passiert?«, fragte Amanda Hollis, die das Gefühl hatte, einen dieser alten englischen Kriminalromane zu lesen, nur dass er ihr in diesem Fall vorgetragen wurde, was freilich den Vorteil hatte, dass es sich so anfühlte, als würde sie leibhaftig dabei sein und dem Geschehen unmittelbar beiwohnen, als sei sie selbst Teil der Geschichte.

»Nun, im Grunde passiert nicht viel. Schofield und Painter begutachten die Karte, und später kommt noch ein Mann namens Skelton hinzu, seines Zeichens Leiter der Kartographischen Abteilung des Museums.«

»Skelton?«, verwunderte sich Amanda Hollis, »Raleigh Ashlin Skelton?«

»Ja«, sagte die Stimme. »Du kennst ihn?«

»Nicht direkt«, sagte Amanda Hollis, was nicht gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit war, schließlich hatte besagter Skelton Harvard vor Kurzem einen längeren Besuch abgestattet, wobei er sich vor allem für die Kartensammlung der Widener Library interessiert, seinen Kopf aber auch ins Innere von Pusey reingesteckt hatte, allerdings nur in die erste Etage, schließlich gab es dort eine Sammlung von Karten, die alt genug waren, um das Interesse eines Engländers zu wecken.

Ein halbes Jahr lang war dieser Skelton geblieben und erst im Frühjahr diesen Jahres wieder zurück in nach London gereist, allerdings nicht ohne den Bibliothekaren in Harvard ein paar Vorschläge zu hinterlassen, die in Wahrheit reine Anweisungen waren, schließlich war dieser Skelton nicht gekommen, um sich durch ein paar alte Karten zu wühlen und dabei im Kopf Urlaub zu machen, sondern um sich den gesamten Bestand und das heißt den Katalog der Bibliothek vorzuknöpfen und ihn zu begutachten.

Sein Urteil indes war eindeutig gewesen. Der Katalog war seiner Ansicht nach völlig veraltet und die Karten in der Bibliothek dadurch kaum noch zu finden. Also fing Skelton an, Änderungsvorschläge zu machen und, weil ihm das nicht genügte, Ordnung in den Laden zu bringen – oder das, was er für Ordnung hielt, und bald schon wusste ganz Pusey, dass es nebenan, in der Widener Library, nicht nur hoch her, sondern auch drunter und drüber ging, und zwar infolge eines, wie es hieß, englischen Gockels, der wie ein Kommandeur durch die Katalogisierungsabteilung stolzierte und es als seine Aufgabe betrachtete, die betagten Damen, die dort arbeiteten, wie junge Hühner durch die Gänge zu scheuchen.

Allerdings – und auch das wusste Amanda Hollis, denn die entsprechenden Gerüchte liefen durch Pusey wie der Regen durch die bibliothekseigenen Rohre – war Skeltons Eifer damit noch längst nicht erschöpft, denn es zeigte sich, dass er seine Zeit nicht nur zum Scheuchen, sondern auch zum Schreiben nutzte, wobei es hieß, er arbeite an einem Text über eine Karte – eine Karte, die nie jemand zu Gesicht bekam und die, so sagte man, auch gar nicht in der Bibliothek vorhanden war, und alle, die mit ihm über die Karte oder auch nur seinen Text reden wollten, verscheuchte er, sodass man sich bald schon erzählte, dass bei diesem Kartenkopf aus England Schreiben und Scheuchen eins seien und er seine Tage damit verbringe, mit der einen Hand die Hühner durch die Gänge und die Redebedürftigen aus der Bibliothek raus zu jagen und mit der anderen an seinem Text über die geheimnisvolle Karte zu schreiben.

Nun, das mochte ein wenig übertrieben sein. Kein Gerücht dagegen war, dass dieser Skelton am Ende seines Aufenthaltes in Harvard einen Bericht verfasste, in dem er grundlegende Veränderung in der Klassifikation und Aufbewahrung der Karten anmahnte und überdies darauf hinwies, dass der erste und letzte Karten-Katalog aus dem Jahr 1831 stammte, eine Tatsache, die Amanda Hollis auf einen Gedanken brachte – einen, den laut zu äußern sie sich nicht wagte.

»Zu William Croswells Zeiten gab es auch einen Antreiber, auch wenn der nicht Skelton, sondern Kirkland hieß und kein komischer Kartenkundler aus London, sondern der höchst potente Präsident der Harvard-Universität war.«

Aber das war ein anderes Thema, ein Gleichnis, das von ihrer Seite aus ging und deshalb – ihre Hand schien unabhängig von ihrem Kopf parallel zu den Gedanken zu werkeln – auch schon bald fertig aufgeschrieben auf einer der Katalogkarten stand.

»Vielleicht hat mich die Stimme nur auf diesen Skelton aufmerksam gemacht, um mich darauf hinzuweisen, dass die Geschichte ein Sammelsurium von Begebenheiten ist, die allesamt auch anders möglich gewesen wären, schließlich ist ein Jahr nach meiner Ankunft das Institut für Geographische Exploration aufgelöst und die darin befindliche Kartensammlung in die Widener-Library gebracht worden. Wäre ich also nur ein Jahr später nach Harvard gekommen, hätte ich statt vergangener Leben das Schicksal vergangener Länder auf Karteikarten geschrieben.«

Was allerdings auch nicht gerade nach einem aufregenden Tagwerk klang, es sei denn, man schaffte es, auf einer Karte wie durch die wirkliche Welt zu reisen. Was dann aber wieder Fragen der Arbeitsmoral nach sich zog – und im Fall von Amanda Hollis auch tat …

»Gut möglich, dass die Geschichte mit den saumseligen Damen in der Katalogisierungsabteilung nur ein überverklausuliertes Gleichnis ist, und zwar eines von der Art, das ich mir selbst erzählt habe, nachdem mir die Stimme das passende Stichwort dazu geliefert hat, und das alles nur, um mich mit meiner eigenen Arbeitseinstellung zu konfrontieren.«

Und weil sie einmal dabei war … »Dann wäre mein Umgang mit William Croswell bis zu diesem Punkt hier ungefähr das, was für diesen Ferrajoli seine Reise mit der Vinland-Map durch Europa war, samt Ablehnung der Karte in London.

Aber das wäre im Grunde nur die Vorgeschichte, was allerdings passen würde, denn es ist nur folgerichtig, dass man, wenn einem die Geschichte im Archiv erzählt wird, die Vorgeschichte dieser Geschichte im Archiv des Archivs präsentiert bekommt. Die Akten über William Croswell wären so gesehen das, was auch die Vinland-Map ist, nämlich etwas, dessen tatsächliche Bedeutung offenbar noch niemand erkannt hat. Wenn es also der Stimme gelingt, die wahre Bedeutung dieser Karte zu erkennen, würde ich wahrscheinlich auch verstehen, welche Rolle William Croswell spielt, und zwar nicht nur für Heath Cover Evil und Harvard, sondern für die gesamte Bibliothekswissenschaft – und wer weiß, ob William Croswell am Ende nicht doch noch irgendwas mit dieser Vinland-Map zu tun hat.

Eins ist jedenfalls klar: Der Stimme im Rohr geht es genauso wie mir. Sie hat alle Informationen über die Vinland-Map, doch bekommt sie sie noch nicht zusammen, während ich alle verfügbaren Akten über William Croswell habe, sie aber ebenfalls noch nicht zusammenbekomme.«

Was allerdings eine Reihe von Fragen nach sich zog, die sich Amanda Hollis auch umgehend stellte, auch wenn es eher die Fragen waren, die sie stellten, um nicht zu sagen, schon längst gestellt hatten – Fragen, die von oben rechts kamen und ihr durch den Schopf in den Kopf krochen, tief unten, im Keller …

»Ob Heath Cover Evil etwas von der Vinland-Map weiß? Vielleicht hat er mir ja deshalb die Akten von William Croswell gegeben. Damit ich die Verbindung schaffe, die er braucht, um sein Wurzelwerk wachsen zu lassen, auf dass es aus dem amerikanischen Boden trete, ihn einnehme und für sich gewinne. Heath Cover Evil, der zwei Etagen über mir mit großen Schritten sein Büro durchmisst und die Nacht herbeisehnt, in der er ungestört ins Innere seines Betonbunkers kriechen und in die Zimmer hineinrascheln kann, in denen wir die Gegenwart mit Geschichte grundieren …«

Aber waren das wirklich ihre Gedanken? Oder hatte ihr die Stimme das alles nur eingeredet, sie mit Hilfe ihrer Worte in diese Richtung gelenkt – und sie war dieser Eingebung, dieser Vorgabe, gefolgt, genau so, wie sie es mit dem aufgeschlagenen Bibliothekstagebuch auf ihrem Tisch getan hatte.

Nun, dagegen sprach, dass die Stimme im Rohr über die Lage auf ihrem Schreibtisch nichts wusste, gar nichts wissen konnte. Andererseits, hatte sie ihr vielleicht dieselbe Rolle zugewiesen, die ihr auch von Heath Cover Evil gegeben worden war? Mit anderen Worten: Bestand ihre »geheime Aufgabe« vielleicht darin, Verbindungen zu schaffen?

Das war eine Möglichkeit, gewiss, doch hatte sie diese Aufgabe nicht schon selbst reklamiert? Für sich, die sie seit sieben Jahren allein hier unten war? Und für ihn, der aus dem Rohr zu ihr sprach? Und vor allem: Was wusste die Stimme im Rohr über William Croswell? Und was Heath Cover Evil über die Stimme im Rohr?

Nun, wie auch immer die Dinge lagen, eines war klar: Sie, Amanda Hollis, war erneut zur Unbekannten in einer Gleichung geworden, nur dass sie diesmal nicht die einzige Unbekannte war und überdies eine Geschichte erzählt bekam, statt eine in Schlagwortform aufzuschreiben, was zugleich hieß, dass die Lösung des Rätsels nicht allein in ihren Händen lag, sie vielmehr darauf angewiesen war, dass die Stimme weitererzählte.

Und doch, so verschieden die Ausgangspositionen auch waren, eines hatte sich nicht geändert: Die Geschichte mochte größer, unübersichtlicher, verworrener sein und weit über sie, Amanda Hollis, hinausragen – trotzdem war es an ihr, alles miteinander zu verbinden.

Mit anderen Worten: Sie war das Scharnier dieser Geschichte, das große X, der Punkt, an dem sich alles vereinte – und zugleich der Punkt, an dem alles auseinanderzustreben begann. Was geradezu nach einem Gleichnis rief, eines von der Sorte, wie sie Amanda Hollis nun mal so liebte.

»Ich bin die Füllung des Sandwiches, die Tomaten-Zwiebel-Rinderhack-Pampe, diejenige, die die beiden Brötchenhälften zusammenzukleben versucht, denn ich stehe zwischen Heath Cover Evil und der Stimme im Rohr, und wenn ich wieder oben bin, in meinem Zimmer, sitze ich sogar zwischen ihnen.«

Woraufhin Amanda Hollis eilends aufstand, die Treppe nach oben wetzte und die kleine dicke hechtgraue Tür aufriss als läge dahinter das Meer.

XXII

Zurück auf dem Flur, der den Keller mit ihrem Zimmer verband, war Amanda Hollis für eine Sekunde allein. Dann traten, als seien sie zum zweiten Male an diesem Tag verabredet (und tatsächlich waren sie es ja auch), die Archivare aus ihren Türen, und Amanda Hollis begriff, dass der Flur für die Archivare, genau wie für sie, nur eine Zwischenstation war, und dass der einzige Unterschied darin bestand, dass ihr Weg ins Freie nicht hoch aufs Dach der Bibliothek, sondern hinab in den Keller führte – und manchmal auch aus diesem hinauf in ihr Zimmer.

Über dem Betonbunker aber war die Sonne gewiss schon wieder hinter den Wolken verschwunden, und die, die gerade noch in ihren Papierstuben gesessen hatten, liefen jetzt in einer langen Reihe nach draußen, um die ersten Flocken des Jahres auf ihren aufgeplatzten Lippen zu spüren.

»Die Archivare sind Zähne eines Reißverschlusses, an dem jemand zieht«, dachte Amanda Hollis, glitt nach rechts in ihr Zimmer und sah, dass beide Zeiger der Uhr senkrecht nach oben wiesen.

»Punkt Zwölf« sagte sie, und dann »Mittagspause« und »Schneeleckereien« und »Ende der Geschichte«.

Aber da rückte der große Zeiger eins weiter und das Scharnier öffnete sich, gebar eine Lücke, die Vorahnung eines weiteren X, als gelte es, Amanda Hollis zu zeigen, welcher Art die Aufgabe war, die sie sich gestellt hatte – die Aufgabe, in der es darum ging, die beiden Zeiger zusammenzubringen und sie auf einem Punkt, in einem Raum, zu vereinen. Zumindest wenn man die Sache als Gleichnis betrachtete.

Und so kam es, dass Amanda Hollis ihre frisch beschriebenen Karteikarten durchsah, sich einiges aus dem letzten Bericht der Stimme noch einmal sauber notierte und daraus ein kleines System zu gebären versuchte.

William Croswell (Bücher-Katalogisierer):

Harvard

Raleigh Ashlin Skelton (Karten-Katalogisierer):

London / Harvard

Ferrajoli (Katalogkartenvernichter):

Saragossa / London / Harvard?

Landeten am Ende etwa alle in Harvard?

»Ach was«, sagte sich Amanda Hollis und steckte die Kappe zurück auf den Füller, »Skelton ist wieder in London, und Ferrajoli sitzt irgendwo in Spanien im Knast.«

Doch damit war in Amanda Hollis' Augen das Verdikt noch nicht gesprochen.

»Für Leute, die Gewalt gegen Karten und Bücher verüben, haben sie hier in Harvard weder Verständnis noch sonst eine Verwendung«, sagte sie und schaute sich um, als gälte es, den Applaus für diese Aussage zu ernten.

Aber es war niemand da, der ihr applaudieren konnte, und in Amanda Hollis brach sich die Erkenntnis Bahn, dass die Bibliothek, in der sie sich befand, im Grunde auch nichts anderes als ein Gefängnis war. Und nicht weniger das gesamte Harvard rundrum.

Und was die Gewalt betraf, so war ihr Versuch, aus dem geschlagenen William Croswell einen Helden zu machen, auch nicht gerade das, was man eine adäquate Geschichtsschreibung nennt.

Weil es sich mit dieser Erkenntnis aber nicht leben ließ, stand Amanda Hollis auf, trat raus auf den Gang, sah, dass sie die kleine dicke hechtgraue Tür offen stehen gelassen hatte, lief hin, steckte ihren Kopf durch und rief (von oben herab, denn das schien ihr sicherer zu sein) in Richtung des Rohrs: »Ferrajoli sitzt im Knast. Er ist endgültig aus dem Spiel!«

Dann zog sie ihre Bluse glatt, drehte sich um und ging zurück in ihr Zimmer, um Schlagworte zu schreiben.

»Ferrajoli ist vor ein paar Monaten entlassen worden«, sagte die Stimme im Rohr, leise, mit jenem achselzuckenden Ton, in dem man spricht, wenn man weiß, dass da keiner ist, der einen hört, »gute Führung, schlechte Gesundheit, es ist doch immer dasselbe …«

XXIII

Amanda Hollis saß in ihrem Zimmer und verschlag-schlag-schlag-wortete den geschlagenen William Croswell, doch wollte ihr, gleichwohl die Finger wie von selbst übers Papier flogen (oder vielleicht gerade deswegen?), nichts Rechtes gelingen, und kaum dass die Worte geschrieben waren, lagen sie auch schon wieder im Papierkorb, derweil ein paar Meter weiter unten, in dem Raum, in dem das Archiv auf seine eigene Geschichte traf, mächtige Schränke geöffnet wurden, die mit jeder Bewegung ihrer eisernen Flügel Staub vom Boden wischten, ihn aufwirbelten und wie eine Armada blödsinniger Planeten durch den Raum und rund um das Rohr kreisen ließen. Und hätte Amanda Hollis nicht in ihrem Zimmer gesessen, sondern wäre hinab in den Keller gestiegen, so hätte sie bemerkt, dass es mehr Staub war, als irgendjemand in Anbetracht der feinfühligen Akten lieb sein konnte, mochten diese nun dem Tode geweiht sein oder auch nicht.

Aber Amanda Hollis stieg nicht hinab. Und sie sah auch nicht hin. Sie hatte jetzt nur noch Augen für William Croswell. Beziehungsweise für das, was von ihm übrig geblieben war. Wie aber, so fragte sie sich, konnte jemand wie William Croswell einen derart bedeutenden Fund wie die Vinland-Map aufwiegen? Was war ein nichtsnutziger Buchtitelkatalogisierer aus Harvard gegen die erstmalige Kartierung eines Stücks von Amerika?

Amanda Hollis wusste es nicht. Aber es war ihr im Moment auch egal. Sollten sich doch Heath Cover Evil und die Leser vom Register die gebildeten Köpfe darüber zerbrechen. Sie würde den ihren bis auf weiteres nur noch in Angelegenheiten stecken, die man ihr auf den Tisch legte, ganz egal wie alt und nichtig sie waren.

Das Stundenglas in Amanda Hollis' Kopf stand aufrecht und rieselte. Nicht einmal William Croswells lateinische Ode war groß genug, um in der Einschnürung hängenzubleiben.

XXIV

Am nächsten Tag – Amanda Hollis war mit den Schlagworte-Schreiben kein Stück vorangekommen und hatte die Reste von William Croswell, statt sie zu einem System zu vereinen, lediglich zu einem Haufen aus Begriffen zusammengekehrt, die allesamt im Papierkorb lagen und auf dasselbe Nichts hinausliefen – trat plötzlich eine Remington Münzschreibmaschine in ihr Leben. Das heißt, eigentlich kam sie gerollt. Ausgemustert. Aus der Bibliothek. Ein Drama für eine Remington.

Es war eine Standard Type-O-Meter, schwarz lackiert, mit einem großen, roten Münzeinwurfkasten auf der rechten Seite und den Worten »MADE AT ILION« auf einer schmalen Metallleiste unter den Tasten. Auf das Gehäuse aber war eine Hand aufgedruckt, dazu in goldglänzender Schrift die Worte: »30 Minuten Service 10 Cent«.

»Schreibt keiner mehr darauf«, sagte Dick Walrus, der Hausmeister, den man mit der Entsorgung des Gerätes beauftragt hatte, »ich finde höchstens noch Knöpfe im Münzkasten. Das heißt, wenn der Einwurfschlitz nicht gerade von Präservativen verstopft ist«, woraufhin er die ans Untergestell der Maschine geschraubten Räder entfernte, mit seinen fleischigen Händen das Gehäuse der Remington tätschelte und ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer verschwand.

In der Schreibwalze der Remington aber steckte eine Katalogkarte, und auf der Katalogkarte stand: »KPD«

»Kein Platz im Depot«, dechiffrierte Amanda Hollis und war sich sicher, dass Heath Cover Evil hinter der Sache steckte, gleichwohl sie nicht wusste, was er ihr, abseits der Worte, damit zu sagen versuchte.

Lief sie vielleicht auch Gefahr, ausrangiert zu werden? War für sie kein Platz mehr im Archiv, dem Depot der Geschichte? Weil sie Geld kostete, aber seit einer Woche keine Schlagworte lieferte? Oder ging es einfach nur darum ihr mitzuteilen, dass sie ihre Schlagworte von jetzt an mit der Maschine schreiben sollte.

Aber warum?

Amanda Hollis wusste es nicht, und alles, was ihr blieb, war eine Betrachtung dessen, was man den Ist-Zustand nennt.

Da stand sie also, die Remington, wie eine zurückgegebene Speise auf einem Servierwagen. Und vor ihr Amanda Hollis. Ohne einen einzigen Sloppy Joe in den Händen, dafür aber mit einem Kopf auf dem Hals, dessen Innerstes voller Wünsche, Erinnerungen und ungelöster Rätsel war …

Was, so fragte sich Amanda Hollis, während sie um die Maschine herumschlich wie eine Katze um einen Teich voller Fische, was, wenn damals in Drexel das Depot auch voll gewesen war? Der Leuchter war schließlich nicht das einzige Kunstwerk, das nach der Explosion vor dem eindringenden Regen gerettet werden musste, immerhin befanden sich in der Haupthalle der Universität noch zahlreiche klassische Statuen, die zwar nur Abgüsse, das heißt Kopien waren, dafür aber vollständig aus Gips bestanden und sich bei Kontakt mit Wasser ganz unklassisch zu verformen drohten.

Was den Leuchter betraf, so konnte er damals also auch abtransportiert und in einen der unterirdischen Keller von Philadelphia gebracht worden sein, und wer weiß, vielleicht hatte man ihn in den endlosen Gängen und Winkeln später einfach nicht wiedergefunden und jetzt, jetzt hing er noch immer metertief unter der Erde und hielt sich für die Zentralsonne einer kommenden Hohlwelt.

»Quatsch!«, dachte Amanda Hollis, aber da schoss ihr was von oben rechts in den Kopf.

»Bierkeller! Es gibt überall Bierkeller in Philadelphia! Die Brauereien haben Dutzende davon unter der Stadt errichtet!«

Und weil sie sie mit eigenen Augen gesehen hatte und die Erinnerung an diesen Tag unter der Erde von Philly mit einem Male wieder präsent war: »Ein paar von den Brauereien haben regelrechte Gewölbe in den Felsen gehauen. Vierzig Fuß tief und Tausende Quadratmeter in der Fläche. Eine Untergrundbibliothek für Alkohol statt für Akten. Eine Bierbücherei, in der alles, was man sich ausleihen wollte, Hälse und Henkel hatte.«

Und dann, ein wenig nüchterner: »Vielleicht hat Prof. Orscube ja wirklich ein bibliothekarisches Interesse gehabt, als er uns die Bierkeller auf der Studienexpedition gezeigt hat. Immerhin standen die meisten von ihnen schon damals leer und wurden von den Brauereien an jeden vermietet, der irgendwas unterzubringen hatte. Gut möglich, dass man den Leuchter also in einen der Bierkeller gebracht hat. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er aufgrund der Explosion eines Getreidespeichers abgenommen werden musste – eines Getreidespeichers, der, wie die meisten in der Stadt, einer Brauerei gehörte …«

Amanda Hollis schüttelte sich, versuchte das in ihren Hirnschalen gärende Gebräu aus Wünschen, Erinnerungen und ungelösten Rätseln mit Hilfe ihrer Gedanken trockenzulegen, es zu verdrängen und sich wieder der Katalogkarte in der Maschine zu widmen, doch schmierten ihr die Augen sogleich wieder ab (wie schweißnasse Finger, die sich auf der Oberseite eines Rohres aus Aluminiumfolie zu halten versuchten), und schon geriet ihre Sicht auf die Dinge ins Rutschen und fiel (klong-klong) runter in die Typenhebelschlucht, kletterte dann (Nicht liegen bleiben! Auf geht’s! Los!) auf einem der langen Hebel nach vorn, stellte sich auf das an seiner Spitze aufgeprägte »O«, bekam weiche Knie und kippte (Oh weh!) wie in Zeitlupe über den Rand, nur um im nächsten Augenblick ein Stück weiter unten auf einer Reihe aus Tasten zu landen, die (Warum denn? Wozu?) noch über der eigentlichen Tastatur angebracht waren und aus nichts anderem als fünf runden roten Knöpfen bestanden, die keinerlei Markierung aufwiesen (The goddamned Reds!), woraufhin sie sich auf die darunter liegende Reihe flüchtete (2 3 4 5 6 7 8 9 0 – Backspace – 0 9 8 7 6 5 4 3 2, aber wo war denn die 1?), anschließend – als wär nichts geschehen – die kleinen, runden Stufen (W-A-X) hinabtänzelte wie … (Fred Astaire auf der Showtreppe! Swing Time. It’s not in the Cards! It’s not in the Cards!!!), um schließlich auf der Space-Taste zu landen, die (Aus welchem Grund? Wer hatte sie denn halbiert?) in der Mitte geteilt und (Die Kumanen! Die Hunde!) mit vier kupferfarbenen Nieten versehen war.

Was folgte (Oh Augen, schlierigte Augen …) war das Gestell, auf dem die Maschine hereingerollt war und das (Böse Absicht, Anspielung, Verrat!) einer jener Gehhilfen glich, die seit einiger Zeit im allgemeinen Gebrauch waren und Amanda Hollis daran gemahnte, was ihr blühte, wenn sie sich auch die nächsten dreißig Jahre lang ihren Arsch in der Bibliothek breitsaß und dabei zusah, wie ihr Leben lautlos verrieselte.

»Und wenn schon!«, rief Amanda Hollis und hob den Blick und nahm ihre Augen aus der Maschine und steckte sie sich zurück in den Kopf, »dann soll’s eben so sein! William Croswell ging’s schließlich nicht anders.«

Und nach einem Augenblick der Besinnung: »In den Akten heißt es, dass er so verhuscht war, dass man ihn von der Stunde seiner Geburt an für die Welt verloren gab«, sprach's und ging zurück an ihren Schreibtisch, um mit den Augen noch ein bisschen durch William Croswells Bibliothekstagebuch zu spazieren.

Zwei Stunden später fand Amanda Hollis ein Stück Schreibmaschine darin. Genau genommen war es ein Symbol, eine Hand, die gleiche, die auf das Gehäuse der Remington gedruckt war und nach rechts auf den Schlitz wies, der für zehn Cent dreißig Minuten Dienste versprach.

In William Croswells Bibliothekstagebuch dagegen war die Hand auf den inneren Rand einer der Tagebuchseiten gemalt, die seinem Nichtstun Ausdruck verliehen. Und doch war auch sie das Versprechen auf einen Dienst, mochte dieser auch ein ganz anderer sein.

XXV

So wie es aussah, war William Croswells Welt an einem Samstag gekippt. Es war der 14. Juni 1817, und nach allem, was Amanda Hollis dem Tagebuch entnehmen konnte, hatte William Croswell die vergangenen fünf Jahre in der Bibliothek damit verbracht, durch die Gänge zu streunen, Bücherkisten zu öffnen, auf dem Schreibtisch zu schlafen und zur Entspannung im nahe gelegenen Charles-River zu baden. Dazwischen machte er sich obskure Notizen, lauschte knarrenden Türen, bekam davon Kopfschmerzen, verdammte die in die Bibliothek kommenden Studenten und schrieb sich selbst für sechzehn Monate krank.

Am 14. Juni 1817 aber malte William Croswell eine nach rechts weisende Hand in sein Tagebuch und schrieb dahinter die Worte: »Bin in der Bibliothek. Arbeite.« Und dann: »Fange an, meine Manuskripte zu zerschneiden.«

Irgendwas war in ihn gefahren, war in ihn gefahren wie die Remington in Amanda Hollis' Leben.

»Na schön«, dachte sich Amanda Hollis, die sich einen Reim auf die Sache zu machen versuchte, »da ist also eine Schreibmaschine, die einem dreißig Minuten Zeit gibt, aufzuschreiben, was man aufschreiben will oder aufschreiben muss, und die, wenn nach Ablauf der Zeit auch nur ein einziges Wort fehlt, noch einmal zehn Cent für ihre Dienste verlangt. Und da ist William Croswell, der sich fünf Jahre Zeit genommen hat, aufzuschreiben, was er aufschreiben sollte, aber aus irgendeinem Grund nicht aufschreiben wollte, und als er irgendwann nicht mehr umhinkam, etwas zu tun, schnitt er alles entzwei.«

Hier wie da aber war eine Hand – und als Amanda Hollis mit der ihren über die Remington strich, hinterließen ihre schwitzenden Finger Schlieren auf dem Lack.

Bei der heiligen Wiborada, was hatte das alles zu bedeuten?

War William Croswell vielleicht eine Schreibmaschine? Eine, in die Präsident Kirkland ein paar tausend Dollar gesteckt hatte, in der Hoffnung, dafür einen Bibliothekskatalog zu bekommen? Oder war William Croswell einfach die Zeit weggelaufen, hatte er, genau wie sie, schlichtweg zu lange mit dem Schreiben gewartet und, als es sich nicht mehr umgehen ließ, bemerkt, dass in all den Jahren nicht nur er, sondern auch das Geld nicht gearbeitet hatte?

Aber selbst wenn es so war, warum um alles in der Welt zerschnitt er dann seine Manuskripte? Und was war eigentlich aus dem Kronleuchter in Drexel geworden? Und was aus der Stimme in dem glanzvollen Rohr?

Zumindest Letzteres ließ sich herausfinden, und kaum dass Amanda Hollis die Treppe hinab in den Keller gestiefelt war und sich hingesetzt hatte, fuhr die Stimme auch schon fort, als hätte sie nur auf sie gewartet, und so wie es klang, schien sie auch nicht beleidigt, dass Amanda Hollis ihr gestern von oben ein paar launige Worte zugerufen hatte und dann gegangen und nicht wiedergekommen war.

Die Stimme jedenfalls machte da weiter, wo sie stehengeblieben war, und auch Amanda Hollis saß wieder da, wo sie seit sieben Jahren jeden Morgen saß.

»Wir sind noch immer im British Museum«, hob die Stimme an, »im März des Jahres 1957, und im Kartenraum liegt die Vinland-Map und rundherum stehen all diese englischen Gelehrten und begutachten das Pergament, und die ganze Szene sieht aus wie eine Obduktion. Als wäre jemand gestorben.«

»Ist denn diesmal niemand gestorben?«, fragte Amanda Hollis, der aufgefallen war, dass es seit dem russischen Fürsten erstaunlich wenig Tote in der Geschichte gegeben hatte. Um genau zu sein, hatte es, außer dem armen Hund, der halbiert worden war, gar keine mehr gegeben, doch war sich Amanda Hollis sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis …

»Nun, es ist nicht direkt jemand gestorben«, sagte die Stimme, »aber für Bertram Schofield, den Leiter der Handschriftenabteilung, ist die Vinland-Map schon nach ein paar Minuten tot, und zwar mausetot, denn Schofield glaubt, dass die Karte nicht echt ist, da ihn die Handschrift in der Legende der Vinland-Map an jene Karten erinnert, die deutsche Fälscher im 19. Jahrhundert hergestellt haben, weshalb seiner Ansicht nach auch weder ein Ankauf zu verantworten ist noch irgendein Echtheitsnachweis ausgestellt werden kann.«

»Die Vinland-Map ist eine Fälschung?«, fragte Amanda Hollis und klang reichlich enttäuscht. Andererseits waren jetzt wenigstens auch die Deutschen im Spiel, nicht nur ein ausgedienter italienischer Faschist mit einer Vorliebe für spanische Krankenschwestern und kahlköpfige Diktatoren …

»Nun, dass die Vinland-Map eine Fälschung ist, will ich nicht behaupten«, fuhr die Stimme fort, darum bemüht, die Enttäuschung zu mindern und die Möglichkeiten der Geschichte zu wahren, »zumal nicht alle Anwesenden im British Museum diese Ansicht vertraten. Zumindest gibt es Hinweise, dass die Herren Painter und Skelton schon damals anderer Meinung waren, weshalb es kein Zufall ist, dass sie jetzt die Publikation der Vinland-Map unterstützen. Allerdings mussten sie sich anno ’57 dem Verdikt ihres Vorgesetzten Schofield beugen, woraufhin Ferrajoli und Davis mit hängenden Köpfen von dannen zogen.«

»Sie sind gescheitert«, postulierte Amanda Hollis, offenbar in Gedanken an William Croswell befangen.

»Das würde ich nicht sagen«, erklärte die Stimme ihr gegenüber, »Davis hatte nichts zu verlieren, und Ferrajoli hat sich, kaum dass er aus dem British Museum raus war, seinen Topolino geschnappt, die Karte in den Kofferraum geworfen und ist nach Genf abgedüst.«

»Zu Nicolas Rauch!«, rief Amanda Hollis, und es klang, als habe sie beim Puzzeln zwei passende Teile gefunden.

»Ganz recht, zum guten alten diskreten Nicolas Rauch. Und nun rate mal, wer just in diesem Augenblick ebenfalls in Genf anwesend ist?«

»Doch nicht etwa …«

»Doch, genau der. Laurence Claiborne Witten. Unser Mann aus Yale.«

»Europa ist für die Amerikaner ein Dorf«, sagte Amanda Hollis, die das eigentlich nur denken wollte.

»Und die Schweiz ist sein Marktplatz«, pflichtete ihr die Stimme bei. »Oder vielleicht sollte ich besser sagen: das Hinterzimmer der Kneipe, in der sie alle absteigen. Aber wie dem auch sei, fest steht, dass niemand weiß, warum Witten just an diesem Tag in Genf ist, aber als Ferrajoli ankommt und ihn bei Rauch vor der Tür stehen sieht, öffnet er sofort die Kofferraumklappe und heraus kommt –«

»Die Vinland-Map!«

»Samt zugehöriger Tartar-Relation …«

Und dann, als sei die Stimme persönlich dabei gewesen: »Natürlich wirft auch Rauch einen Blick in Ferrajolis Kofferraum, überlässt aber aus Gründen, die nur er selbst kennt, Witten das Vorrecht – und der schlägt zu.«

»Das heißt Witten kauft die Vinland-Map?«

»Die Vinland-Map und die Tartar-Relation. Aber natürlich erst, nachdem er sie untersucht hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass beide echt sind.«

»Wie hat er das denn herausgefunden?«, wollte Amanda Hollis wissen.

»Keine Ahnung«, sagte die Stimme, »vielleicht hat er aufs Pergament gebissen, vielleicht hat er aber auch einfach nur dran gerochen, oder im Kalbsleder irgendein geheimes Brandzeichen entdeckt. Ich weiß es nicht. Fest steht jedenfalls, dass Witten beide Dokumente für insgesamt 3.500 Dollar kauft.«

»Und was ist mit diesem Davis?«, fragte Amanda Hollis, die den Inhalt ihrer Karten in sich aufgesaugt hatte wie den soßigen Rest eines Sloppy Joe.

»Davis ist erstmal aus dem Spiel. Allerdings erzählt Ferrajoli Witten auch nichts vom Scheitern seiner englischen Mission.«

»William Croswell ist auch nach England gegangen«, erinnerte sich Amanda Hollis, zu ihrem eigenen Glück lautlos, »genau wie dieser Ferrajoli wollte auch er eine Karte herausbringen und hat sich in London Unterstützung für ihre Publikation erhofft. Aber genau wie Ferrajoli hat auch William Croswell in London keine Empfehlung für seine Karte bekommen und ist dort gescheitert.«

Da aber »Scheitern« kein Schlagwort war, zumindest keines, das man in Harvard auf der Liste hatte, und Amanda Hollis vor sich jenen Fluchtpunkt sah, den jede Unendlichkeit braucht, damit sich die Parallelen vereinen, und seien es auch nur die Stränge zweier Geschichten – und weil sie sich darüber hinaus daran erinnerte, dass William Croswell später, ebenso wie Ferrajoli, in London doch noch zwei Fürsprecher für sein Kartenprojekt gefunden hatte, auch wenn sie nicht Skelton und Painter, sondern Bonnycastle und Nicholson hießen – kurzum: weil das also alles so war, wie es war, und Amanda Hollis die riesenhaften Zusammenhänge nur spüren, aber nicht – noch nicht! – in Worte fassen konnte, behielt sie die Sache erstmal für sich. Und schrieb auf, was aufzuschreiben war, derweil die Stimme ungerührt fortfuhr.

»Nun, um es kurz zu machen, Davis ist nicht lange aus dem Spiel, denn schon zwei Tage, nachdem Witten die Vinland-Map von Ferrajoli gekauft hat, reist Davis von London aus nach Mailand. Und nun rate mal, wer just in diesem Augenblick ebenfalls in Mailand eintrifft?«

»Doch nicht etwa …«

»Und ob! Laurence Claiborne Witten.«

»Europa ist wirklich ein Dorf«, sagte Amanda Hollis, die das Gefühl hatte, dass sich die Geschichte zunehmend um sich selbst zu drehen begann. Andererseits, wenn es stimmte, was ihr die Stimme da erzählte, und die Schweiz das Hinterzimmer dieser Dorfkneipe namens Europa war, was war dann Italien?

»Ganz einfach«, sagte die Stimme, die, falls Amanda Hollis nicht laut gedacht hatte, Gedanken lesen konnte, »Italien ist die Kneipe selbst, das Vorzimmer, der Gastraum. Oder von mir aus auch der Marktplatz, schließlich trifft Witten Davis nicht irgendwo, sondern auf einer Auktion für alte Manuskripte, und jeder weiß, dass für Buchhändler solche Auktionen das sind, was für normale Menschen die Kneipe ist – ein Ort, wo man sich etwas bestellt, das keinen praktischen Nutzen hat, dafür aber einen ausgeprägten Schönheitswert besitzt, nur dass es bei den einen eben ein Pint und bei den anderen ein Pergamentschinken ist.«

»Bier ist nicht wertsteigernd«, sagte Amanda Hollis, »wenn man es eine Weile bei sich behält, erhöht sich nicht der Preis, sondern der Druck.«

»Das ist ein Argument«, sagte die Stimme, »aber wir sollten später drauf eingehen.«

»Und was ist mit der Vinland-Map?«, begehrte Amanda Hollis zu wissen, die das Gefühl hatte, als wachse sich die Geschichte zu einem Epos aus, als sei das, was sie da hörte und aufzuschreiben versuchte, die Umkehrung von Heath Cover Evils geplanter Aktion – das Eindampfen einer riesenhaften, ja geradezu unheimlich riesenhaften Geschichte auf Karteikartengröße, derweil der, der über ihr saß, aus einem Nichts etwas Großes und aus einem Niemand einen Helden zu machen versuchte.

»Wo waren wir stehengeblieben«, fragte Amanda Hollis, kaum dass sie ihren Gedanken zur Seite gelegt hatte wie ein Buch, das noch längst nicht beendet …

»Nun, ich hatte gesagt, dass Witten in Mailand auf Davis trifft und ihm die Vinland-Map zeigt. Aber ich weiß nicht, warum und wieso.«

»Vielleicht wollte er mit seinem Kauf angeben.«

»Gut möglich, aber das würde voraussetzen, dass Davis, genau wie Ferrajoli vor ihm, Witten nichts von der Abfuhr erzählt hat, die sie im British Museum mit der Karte erlebt haben, und Witten gegenüber auch verschwiegen hat, dass Ferrajoli ihm die Vinland-Map schon zuvor zum Kauf angeboten hatte, er sie aber wegen ihrer unklaren Herkunft nicht haben wollte.«

»Du meinst, Davis und Ferrajoli haben Witten reingelegt?«

»Schwer zu sagen. Dagegen spricht, dass Witten über die Zustände in Europa Bescheid gewusst haben dürfte, schließlich war er schon ein paar Jahre am Markt und des Öfteren nach Europa gereist. Andererseits, selbst wenn ihm – von wem auch immer – hier die Rolle des nichtsahnenden Yankees zugewiesen worden ist, bleibt noch immer die Frage, ob sich der Verkauf einer Karte samt anhängender Tartar-Relation im Wert von 3.500 Dollar lohnt, wenn man dazu monatelang erfolglos durch halb Europa tingeln und sich dabei auch noch von irgendwelchen Experten des British Museum vorführen lassen muss.«

»Das ist ein Argument«, sagte Amanda Hollis. »Und damit ist auch klar, wie die Karte nach Amerika kommt. Witten kauft sie, und nachdem er sie in Mailand rumgezeigt hat, fliegt er mit ihr zurück nach Yale.«

»Ja«, sagte die Stimme, »aber damit beginnt die Geschichte im Grunde erst. Und ich fürchte, auch das Problem.«

»Es gibt Probleme?«, fragte Amanda Hollis, die selbst nicht so genau wusste, ob das ironisch gemeint war.

»Allerdings«, sagte die Stimme, »die Würmer, du erinnerst dich …?«

»Ja«, fispelte Amanda Hollis, die die Würmer schon wieder vergessen hatte. »Was ist mit den Würmern?«

»Erstmal noch nichts, zumindest nichts, was irgendjemanden beunruhigen müsste, schließlich bietet Witten die Vinland-Map, kaum dass er wieder in Yale ist, der dortigen Universität zum Kauf an.«

»Wann genau war das?«, wollte Amanda Hollis wissen, um es sich zu notieren.

»Im Oktober 1957«, sagte die Stimme, »und die Tartar-Relation will Witten bei der Gelegenheit natürlich auch gleich mit verkaufen, weshalb er sich an die Kartenabteilung der Bibliothek wendet, genauer gesagt an zwei Männer, deren Namen Thomas Marston und Alexander Vietor lauten.«

»Und die Yale-Jungs schlagen natürlich zu«, ergänzte Amanda Hollis, die nicht nur froh darüber war, dass ihr die Stimme das Datum und sämtliche Namen genannt, sondern auch eine Verbindung zu ihr hergestellt, das heißt eine Linie bis nach Harvard gezogen hatte. Denn zuschlagen, das konnten sie hier, die Hutmacher wie die Gelehrten.

»Nun, Marston und Vietor würden in der Tat gern zuschlagen«, erklärte die Stimme, »schließlich ist die Vinland-Map in Amerika zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen unbekannt und die Kartierung eines Stückes von Gottes eigenem Land vor Kolumbus eine absolute Sensation.«

»Und die Mongolengeschichte?«

»Die ist, zumindest was de Bridias Version von Carpinis Reise betrifft, ebenfalls noch unbekannt, wobei in diesem Fall hinzukommt, dass das Kalbsleder, in dem die Tartar-Relation steckt, sehr gut erhalten ist. Allerdings steht auf der Rückseite der Vinland-Map etwas, das den Anschein erweckt, als würde etwas fehlen, als würden Karte und Text, Vinland und die Mongolei, nicht zusammenpassen, denn da steht – natürlich auf Latein – ›Beschreibung des 1., 2. und 3. Teils des Spiegels.‹«

»Was für ein Spiegel?«, fragte Amanda Hollis, die Feder des Füllers spitz auf dem Papier.

»Gleich«, beschwichtigte die Stimme, »es gibt noch einen zweiten Hinweis, der dazu führt, dass man in Yale zwar zuschlagen will, aber nicht zuschlagen kann, denn sowohl die Vinland-Map als auch die Tartar-Relation sind von vorn bis hinten von Würmern durchlöchert, nur leider so, dass die Wurmlöcher nicht zueinander passen, das heißt nicht deckungsgleich sind.«

»Was denn, die amerikanische Geschichte wird von Wurmfraß bedroht?«, schoss es Amanda Hollis von oben rechts in den Kopf, wobei es sich in diesem Fall eher so anfühlte, als würde jemand einen großen Eimer Enttäuschung über ihr auskippen. Und dann noch einen Eimer Ernüchterung hinterher.

»Ist das alles? Sind das die gefährlichen mongolischen Horden, von denen am Anfang die Rede war? Ein paar Würmer, die durch zwei alte Manuskripte gekrochen sind? Das große Amerika nichts als ein lausiger Packen Pergament?«

Und weil Amanda Hollis der kalten Dusche, die auf ihr niedergegangen war, irgendwie Ausdruck verleihen musste (und ihr auf die Schnelle nichts Besseres einfiel): »Das geht doch auf keine Kuhhaut!«

Nun, die Frage des Platzangebotes auf einer Kuhhaut mochte angesichts des nicht zu verachtenden Umfanges der Vinland-Map und der dazugehörigen Tartar-Relation durchaus diskussionswürdig sein, doch änderte es nichts an der Tatsache, dass das, was ihr die Stimme erzählt hatte, offenkundig ein Witz war, und dies umso mehr, als dass die Sache mit den Würmern für die Stimme inzwischen kein Thema mehr zu sein schien. Jedenfalls teilte sie ihr im nächsten Augenblick mit, dass man in Yale Abstand von dem Kauf der Vinland-Map nahm. Und damit Punkt. Ende. Aus.

Alles war ruhig, verharrte, saß still. Amanda Hollis auf der Treppe. Der Füller in ihrer Hand. Die Stimme im Rohr.

Ein paar Meter weiter oben, in Amanda Hollis’ Zimmer, lief die Uhr derweil weiter. Es war 12 Uhr und 15 Minuten. Die Geschichte bildete einen rechten Winkel zur Gegenwart, und unten, im Keller, die Stimme, fuhr mit einem Mal fort, als wär’ nichts geschehen.

»Nun, nachdem man in Yale die Hände von den Manuskripten gelassen hat, geraten sie in die übliche Vergessenheit, allerdings dauert sie diesmal nicht fünfhundert Jahre, sondern nur ein einziges, denn am 8. April 1958 ereignet sich etwas Seltsames. Nach eigenen Angaben erhält Thomas Marston an diesem Tag die Vorabausgabe des Katalogs eines Londoner Buchhändlers, der – vielleicht zufällig, vielleicht aber auch nicht – Davis und Orioli heißt. In diesem Katalog nun findet er ein Manuskript von Leonardo Brunis Übersetzung der Parallelgeschichten des Plutarch. Da Marston dieses Manuskript noch nicht in seiner Sammlung hat, beschließt er, zu einem in Yale ansässigen Buchhändler namens C. A. Stonehill zu gehen und seinen Leiter, einen gewissen Mr. Barry, zu bitten, Brunis Übersetzung für ihn zu bestellen.

Auf dem Weg dorthin blättert Marston noch ein bisschen durch den Katalog, und dabei fällt ihm ein weiteres Manuskript auf. Es handelt sich um die Spiegelgeschichte des Vinzenz von Beauvais, eines französischen Gelehrten des 13. Jahrhunderts. Sie ist Teil einer großangelegten Enzyklopädie, die nicht nur die Geschichte, sondern auch die Natur, die Moral und die gesamte Theologie ergründen will. Allerdings beinhaltet das Manuskript lediglich einen Teil der Spiegelgeschichte, mithin nur den Teil eines Teils der Enzyklopädie. Außerdem ist das, was da in dem Katalog angeboten wird, nur eine Kopie aus dem 15. Jahrhundert, die rein textlich gesehen nicht von größerem Wert ist. Formal betrachtet aber hat die Spiegelgeschichte durchaus ihre Bedeutung, denn sie ist eines der ersten Werke – und unter den historischen Werken sogar das erste überhaupt –, das ein Register verwendet.«

Amanda Hollis wurde hellhörig.

»Betrachtet man nun das Register der Spiegelgeschichte, so sieht man, dass es streng alphabetisch geordnet ist. Darüber hinaus ist es ein sogenanntes Kreuzregister, das heißt, es vereint Personen und Sachverhalte.«

»Und Orte«, fügte Amanda Hollis leise hinzu.

Die Stimme aber hörte sie nicht, sollte es gar nicht tun – und erzählte deshalb auch weiter.

»Allerdings hat dieser Vinzenz nicht sein ganzes Buch indiziert, sondern nur die Kapitelüberschriften der einzelnen Bände erfasst, weshalb sein Register im Grunde lediglich die Spiegelung eines Spiegels seiner Spiegelgeschichte ist.«

Unter Amanda Hollis' Hand begann die Feder des Füllers bläulich zu leuchten, vielleicht auch zu glühen, derweil in ihrem Kopf kleine Blasen aufzusteigen begannen, die sie mit ihrer Hand einzufangen versuchte.

Aber es war keine Hand mehr frei, denn die eine hielt den Füller und die andere die Katalogkarten, derweil die Geschichte langsam anfing, nicht nur das versteh-, sondern auch das aufschreibbare Maß zu sprengen.

Aber das interessierte die Stimme kein Stück, sie referierte einfach munter weiter. Und Amanda Hollis hörte zu. Und schrieb, in der Hoffnung, genug leere Karten zu haben – und einen Füller, der noch voll genug war.

»Was nun das Register von Vinzenz’ Spiegelgeschichte angeht, so wurde es im 14. Jahrhundert verfeinert, und zwar von einem Mann, der sich Johannes von Hautfuney nannte, ansonsten aber im Dunkeln bleibt.«

»Genau wie dieser de Bridia und der Leuchter-Dieb aus Drexel«, dachte Amanda Hollis. Aber dann kam ihr von rechts oben wieder einer dieser Gedanken …

»Im Grunde genommen bleibe auch ich im Dunkeln, und meine Arbeit erst recht. Wenn ich Glück habe, erwähnt mich Heath Cover Evil in seinem Aufsatz in einer Fußnote, falls er überhaupt welche setzt, und die Tatsache, dass ich hier unten im Scheinwerferlicht sitze, ist im Grunde nichts anderes als ein besonders hell scheinendes Beispiel für Ironie in der Geschichte.«

Und dann, als müsse auch das Gesagte, das heißt das eigene Leben noch zusammengefasst werden: »Einer Indexschreiberin flicht die Nachwelt keine Kränze – und die Gegenwart wirft auch nicht gerade ein Auge auf sie.«

Was freilich für die Stimme kein Grund war, in Mitleid auszubrechen. Zumal sie von Amanda Hollis’ dunkler Vorahnung, von ihrer tiefblauen Schicksalsergebenheit, nicht das Mindeste hörte. Also erzählte sie weiter. Namen, Orte, Zahlen, Fakten … So viele, dass Amanda Hollis irgendwann das Gefühl überkam, von der Stimme im Rohr angespuckt zu werden. Aber es waren nur Tintenspritzer, die ihre wie von selbst übers Papier fliegende Hand ganz von allein produzierte.

»Was nun diesen Johannes von Hautfuney betrifft«, sagte die Stimme, »so mag er uns zwar völlig unbekannt sein, doch gibt es zur selben Zeit, das heißt im 14. Jahrhundert, in Frankreich einen Bischof, der Jean de Hautfune heißt und mit ihm identisch sein könnte.«

»Identisch?«, fragte Amanda Hollis.

»Könnte«, sagte die Stimme, »wahrscheinlich waren sie aber doch zwei verschiedene Personen.«

Und dann, nach ein paar Sekunden, die, so schien es Amanda Hollis, nur dazu da waren, damit sich die neuerliche Enttäuschung in ihr ausbreitete:

»Im Grunde ist es egal, wer dieser Johannes war, denn was zählt, ist, dass er das Register der Spiegelgeschichte vergrößert und die Zahl der Einträge vervielfacht hat. Aber er tat noch mehr. Er begann nämlich damit, im Register von einem Schlagwort auf andere zu verweisen. Zum Beispiel schrieb er hinter abstinentia (Enthaltsamkeit)‚ siehe auch: alimentum (Nahrungsmittel), cibus (Speise, Futter), comedere (essen, schlemmen, verzehren, im übertragenen Sinne auch: zugrunde richten), desweiteren continentia (Mäßigung), gula (Kehle, Schlund und Gaumen bzw. Gefrässigkeit, Schlemmerei und Genusssucht), ieiunium (Hunger bzw. Fasten) und temperantia (Selbstbeherrschung)‘.«

»Stopp!«, rief Amanda Hollis, die zu schreiben aufgehört und den langen, stählernen Schnorchel unter der Feder ihres Füllers herausgedreht hatte und mit seiner Spitze aufs Rohr wies. »Wir hatten gesagt, keine miesen Vergleiche mehr!«

»Das sind die Fakten!«

»Das ist mir egal!«

»Ich hab' aber noch mehr.«

»Aber ich keine Lust mehr, mir deine Gemeinheiten anzuhören.«

Und dann, als habe die Stimme im Rohr eine Erklärung gefordert: »Das mit der Enthaltsamkeit habe ich mir nicht ausgesucht, und was meine Gefräsigkeit angeht, so ist die nur eine Folge davon. Wenn eines Tages Trimteed Vandal vor meiner Tür steht, werde ich die Sache mit den Sloppy Joes sofort beenden und meine Genusssucht nur noch an ihm ausleben.«

»Wer ist Trimteed Vandal?«, begehrte die Stimme zu wissen.

»Niemand«, sagte Amanda Hollis ein wenig schneller, als ihr lieb war. Aber dann sah sie, dass der ausgefahrene Schnorchel ihres Füllers noch immer aufs Rohr zeigte – und schob ihn zurück, um die Feder wieder auf dem Papier zu platzieren und sich Gedanken über, nein, nicht Trimteed Vandal, sondern William Croswell zu machen.

»William Croswell hat 1827 den ‚Füller am Stock‘ erfunden und anschließend per Zeitungsannonce Leute gesucht, die lernen wollten, wie man damit schreibt. Aber wie es aussieht, hat sich niemand bei ihm gemeldet, was allerdings nicht weiter verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass es die Sache nicht unbedingt leichter macht, wenn man seinen Füller auf das untere Ende eines Rohrstocks montiert, den Stock am oberen Ende greift und damit zu schreiben versucht. Mal ganz abgesehen von der Frage, wozu derartige Fähigkeiten überhaupt gut sind.

Andererseits, hätte sich William Croswells Langfeder durchgesetzt, hätte ich mit meinem Füller jetzt nicht auf das Rohr gezeigt, sondern in es hineingestochen, und wer weiß, was dann alles herausgekommen wäre.«

Und weil auch hier noch die Zusammenfassung fehlte: »Manchmal ist es gut, wenn Dinge nicht funktionieren, wenn einer, der etwas will, es nicht schafft, das zu tun.«

Aber das war natürlich nur eine Ausrede, eine Entschuldigung gegenüber sich selbst, und Amanda Hollis wusste es. Was sie dagegen nicht mehr wusste, war, wovon die Stimme als Letztes erzählt hatte, und deshalb – und weil die Stimme schwieg – fragte sie (mal wieder): »Wo waren wir stehengeblieben?«

»Bei den Fakten zur Spiegelgeschichte«, sagte die Stimme.

»Und welche sind das?«, fragte Amanda Hollis, die sich nicht mal mehr dunkel entsann.

»Nun, ich hatte gesagt, dass die Spiegelgeschichte des Vinzenz von Beauvais ein ausgezeichnetes Register besitzt, was allerdings nicht sein Verdienst ist, sondern das eines Mannes namens Johannes von Hautfuney, was aber auch nicht weiter wichtig ist, um nicht zu sagen genauso unwichtig wie die Frage, ob dieser Registermacher Johannes von Hautfuney mit dem Bischof Jean de Hautfune identisch ist, denn Vinzenz’ Spiegelgeschichte hat uns einzig und allein deshalb interessiert, weil Thomas Marston aus Yale eine Kopie von ihr kauft, oder besser gesagt einen Teil dieser Kopie, die aus dem 15. Jahrhundert stammt und eigentlich nicht weiter wertvoll ist, weshalb er sie auch für 75 Pfund Sterling bekommt.«

»Ist das alles?«, fragte Amanda Hollis, die das Gefühl hatte, dass in diesem Fall zwischen der Stimme und ihr, das heißt zwischen dem Gesagten und dem Geschriebenen, eine Lücke bestand.

»Nicht ganz«, erklärte die Stimme, »ich hatte nämlich noch gesagt, dass sich auf der Rückseite der Vinland-Map ein Hinweis auf die Spiegelgeschichte findet. Gewiss, ich hatte auch gesagt, dass es durch diesen Hinweis den Anschein hat, als würde irgendetwas mit der Vinland-Map und der Tartar-Relation nicht stimmen, als würde etwas fehlen.«

»Die Geschichte ist eine Aneinanderreihung von Lücken«, befand Amanda Hollis in gewohnt zusammenfassender Weise.

»Gut möglich«, erwiderte die Stimme, »aber nicht mehr lange.«

»Was soll das heißen?«

»Nun, nehmen wir einfach mal an, es war diese Spiegelgeschichte, die fehlte. Und nehmen wir darüber hinaus einmal an, jemand findet das raus und kauft diese Spiegelgeschichte und dann noch die Vinland-Map und die Tartar-Relation und macht aus allen dreien ein großes, dickes, wissenschaftliches Buch. Was glaubst du, würde ein solches Buch dann brauchen?«

»Einen Index«, sagte Amanda Hollis wie selbstverständlich. »Ein Register!«

»Genau«, pflichtete ihr die Stimme bei, auch wenn Amanda Hollis das Gefühl hatte, als sei sie es, die da gerade um Zustimmung gebeten worden war – und sie auch gegeben hatte. Aber die Stimme war bereits fortgefahren.

»Und jetzt stell dir mal vor, dass dieses Buch tatsächlich existiert und nicht nur ein, sondern gleich drei Register besitzt: Ein allgemeines. Eins, das die Übersetzung sämtlicher lateinischer Begriffe enthält. Und eins für die mongolischen und sonstigen Namen. Insgesamt zwanzig großformatige Seiten voller kleiner Verweise, wo was im Buch zu finden ist.«

»Interessant«, sagt Amanda Hollis.

»Ja«, sagte die Stimme, »interessant, aber nicht entscheidend, denn entscheidend ist, was in diesem überaus ausführlichen Index nicht mit aufgeführt ist. Und das sind drei Namen: Enzo Ferrajoli de Ry, Joseph Irving Davis und Nicolas Rauch. Und das, obwohl nicht nur die Vorgeschichte der Vinland-Map, sondern auch ihr Ankauf in dem Buch beschrieben ist. Und glaub mir, ich habe bei Ferrajoli sowohl unter e, f, d und r nachgeschaut, bei Davis auch alle Möglichkeiten probiert und im Fall von Rauch vier andere Nicolasse im Index gefunden, die noch nicht mal ich alle kenne.«

»Oh«, sagte Amanda Hollis, der plötzlich wieder einfiel, dass William Croswell in den Librarians of Harvard College auch nicht mit aufgeführt war.

Da war sie also, die nächste Parallele, der nächste Nagel im Sarg der Zufälligkeit, ein weiterer Hinweis für die verborgenen Zusammenhänge einer Geschichte, die zu finden und aufzuschreiben Amanda Hollis' Aufgabe war.

Aber noch war es nicht soweit, war sie nicht soweit – und die Stimme offenbar auch nicht. Und so kam es, dass sich Amanda Hollis – statt zu fragen, woher die Stimme ihre Informationen bezog, wie sie an die angeblich geheime Karte und das dazugehörige Buch gekommen war und aus welchem Grund sie seine sämtlichen Register durchsucht hatte – entschied, noch ein bisschen weiter jene Registerschreiberin zu spielen, die sie ja tatsächlich war.

Eine, die, wenn schon nicht davon besessen, so doch damit beauftragt war, alles Leben zu indizieren und in Schlagworte zu packen, eine kleine graue Maus unter großen leuchtenden Männern, Lichtgestalten, die sich nicht für sie interessierten – und sie genauso wenig für sie, denn ihr Begehren zielte auf die Richtigkeit eines Registers und die Vollständigkeit seiner Verweise, und deshalb (und nur deshalb) sagte sie: »Wenn in einem Register drei wichtige Namen fehlen, dann erfüllt es nicht seine Funktion.«

»Warum?«, fragte die Stimme.

»Weil das Register dann nicht auf das verweist, was im Buch steht und von Bedeutung ist.«

»Nun, das könnte man meinen, nur ist es in diesem Fall so, dass weder Ferrajoli noch Davis noch Rauch in dem Buch überhaupt erwähnt werden.«

»Dann taugt nicht nur das Register, sondern das ganze Buch nichts«, sagte Amanda Hollis, »dann ist nämlich nicht nur der Verweis, sondern auch die Quelle der Geschichte vernichtet.«

»Und wenn es Absicht war, die drei nicht zu erwähnen?«

»Dann wäre das unredlich«, sagte Amanda Hollis und klang dabei so klein und grau und nüchtern, wie nur eine Archivmaus klingen kann.

»Vielleicht will man ja, dass die Herkunft der Vinland-Map im Dunkeln bleibt.«

»In der Geschichte ist schon genug im Dunkeln geblieben«, sagte Amanda Hollis, »ich erinnere nur an diesen de Bridia. Oder deinen Johannes.«

»Meinen Johannes?!«, entrüstete sich die Stimme.

»Johannes von Hautfuney«, beschwichtige Amanda Hollis, darum bemüht, keine falschen Bedeutungen aufkommen und auch sonst nichts hoch-oder gar überkochen zu lassen, »der Registerschreiber.«

Aber die Stimme schien von Aufklärung nicht viel zu halten, zumindest nicht von der, die auf die Beseitigung der Dunkelheit zielt. Stattdessen stürzte sie sich auf den Namen, bog, als sei sie ein Maulwurf und das Rohr ein Weg in die erdigen Tiefen der Geschichte, kurzerhand ab und fing an, neue Probleme auszugraben, die sie Amanda Hollis in Form von Fragen präsentierte – Fragen, die jenen Geist von Harvard atmeten, der nach einem besonderen Bewusstsein, nach einem Mehr an Papierwissen, kurzum: nach historisch gewachsener Überheblichkeit klang.

»Wusstest du, dass das Register-Machen zu Zeiten des seligen Johannes von Hautfuney eine Art Geduldsspiel gegen die Langeweile war?«, fragte die Stimme, auch wenn das überhaupt keine Frage war.

»Heute ist es die Langeweile«, sagte Amanda Hollis ein wenig lauter, als ihr lieb war, aber offensichtlich nicht laut genug, um gehört zu werden, denn die Stimme ging überhaupt nicht darauf ein, sondern fuhr einfach fort, machte weiter, als sei nichts geschehen, und Amanda Hollis hatte das Gefühl, als sei sie berauscht von der eigenen Fähigkeit, Linien aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart zu ziehen.

»Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass die Register in den Büchern die Vorläufer der heutigen Bibliothekskataloge sind?«

»Nein«, sagte Amanda Hollis, die davon tatsächlich noch nie etwas gehört hatte, selbst in Prof. Orscubes Vorlesung nicht – was die Stimme sogleich zum Anlass nahm, noch tiefer in die Geschichte des Bücher-, Register-und ganze Bibliotheken-Machens einzutauchen, derweil Amanda Hollis das Gefühl nicht los wurde, als liefe das Gesagte direkt auf sie zu, als hätte vor ihr jemand eine Tür aufgerissen und schloss sie jetzt ganz langsam wieder, dabei sie auf der vorletzten Stufe einer Rundtreppe saß und die einzige Tür weit und breit vier Meter oberhalb ihres Kopfes in der Wand steckte, wie nur eine kleine dicke hechtgraue Tür in einer Wand stecken konnte.

Es war zum Verrücktwerden. Amanda Hollis hatte von dem, was die Stimme ihr da erzählte, noch nie was gehört, und das, obwohl es ihr eigenes, ihr ureignes Gebiet war.

»Als Johannes von Hautfuney das Riesenregister der Spiegelgeschichte erstellt hat, hat er es wahrscheinlich mit Hilfe kleiner Kärtchen getan«, referierte die Stimme ungerührt weiter. »Er hat auf ihnen alle Begriffe von Wert notiert. Insgesamt fast 13.000 Stück. Und weißt du auch, warum er das getan hat?«

»Nein«, sagte Amanda Hollis, die eigentlich gar nichts mehr sagen wollte.

»Er hat es getan, weil sein Kartensystem der Ariadnefaden war, der ihn durch das Labyrinth der Spiegelgeschichte geführt hat. Es war der einzige Weg, um nicht nur in diese Riesenenzyklopädie rein-, sondern auch wieder aus ihr rauszukommen.«

»Oh«, kam es aus Amanda Hollis' Mund geploppt. Und dann, mehr an sich selbst denn an die Stimme im Rohr gewandt: »Ich habe auch mal eine Karte bekommen. Sie klebte an dem Stück Papier, das man mir zum Tausch für meine Urkunde aus Drexel gegeben hat. Die Karte hat mich hierhergeführt, aber ich weiß nicht, ob ich hier auch wieder rauskomme. Ob ich überhaupt wieder rauskommen will. Ich habe immer gedacht, dass es meine Aufgabe ist, fremder Leute Leben auf Katalogkarten zu bannen, aber vielleicht mache ich ja in Wahrheit nichts anderes als den Katalog meines eigenen Lebens zu schreiben, eines Lebens, das ich nie hatte.«

Aber auch das schien die Stimme nicht zu interessieren. Jedenfalls macht sie weiter, wo sie stehengeblieben war. Und vielleicht hatte Amanda Hollis ja auch gar nichts gesagt, vielleicht waren die Erinnerungen einfach nur in ihrem Kopf nachgehallt und hatten den Eindruck von Sprechen, die Imagination einer Stimme, erzeugt, die ihre eigene sein mochte oder auch nicht.

»Weißt du, dieser Johannes von Hautfuney hat das Register der Spiegelgeschichte nicht nur zu seiner eigenen Rettung erstellt, sondern auch zu der seiner Leser. Er wollte es ihnen einfach ersparen, das ganze Werk zu lesen.«

Und weil Amanda Hollis nichts sagte: »Im Grunde genommen hat dieser Johannes die Aufgabe eines Registers perfekt erfasst – und seine eigene erst recht. Ein Registermacher ist ein Diener, der andere Diener erschafft. Und zwar so viele, wie er glaubt, dass nötig sind, um alle Wünsche seiner Herren zu erfüllen, schließlich muss er jedem genau den Weg weisen, nach dem er ihn fragt. Und genauso verhält es sich mit dem Katalog in einer Bibliothek und den Katalogkartenerstellern. Was nur einen Schluss zulässt: Beide, das Register in einem Buch und der Katalog in einer Bibliothek, sind Hilfsmittel, die an das Werk heranführen, mit dem sie sich beschäftigen.«

»Mit dem sich andere beschäftigen«, korrigierte Amanda Hollis stillschweigend und musste an Heath Cover Evil denken, wobei sie das Gefühl überkam, dass vielleicht doch er es war, der sich hinter der Stimme verbarg.

Aber warum sollte Heath Cover Evil so etwas tun? Dafür gab es überhaupt keinen Grund, schließlich ging es ihm darum, Verbindungen zu schaffen, nicht welche zu lösen. Und Schlagworte wollte er auch.

Andererseits, selbst wenn sie sich irrte und unter Beobachtung stand – sie würde trotzdem nicht aufhören, der Stimme im Rohr zuzuhören, und zwar so lange, bis die Geschichte aufgelöst war, bis sie sich mit Hilfe ihrer Katalogkarten selbst aufgelöst hatte, und deshalb sagte sie, als Bestätigung dessen, was ihr die Stimme im Rohr lang und breit erklärt hatte:

»Die Katalogkarte weist den Weg zum Buch, das Register aber weist den Weg ins Buch hinein. Wenn man also etwas in einem Buch sucht, muss man das Pferd von hinten aufzäumen.«

»So könnte man’s sagen«, sagte die Stimme, »doch vergisst man dabei nur allzu leicht jene Verweise, die direkt im Buch, das heißt auf der Seite selbst angebracht sind, zum Beispiel durch den Finger einer Hand, der auf eine besonders wichtige Stelle verweist. Die Spiegelgeschichte ist eines der ersten Bücher, das einen solchen Finger benutzt und –«

»Stopp!!!«, rief Amanda Hollis. Das heißt, eigentlich schrie sie’s.

»Aber ich hab doch gar nichts Schlimmes gesagt«, verwunderte sich die Stimme.

»Aber ich einen schlimmen Verdacht«, sagte Amanda Hollis, stand auf, kreiselte ohne weitere Erklärungen über die Treppe nach oben und verschwand in der Tür.

XXVI

Der Verdacht, den sie hatte, war eher klandestin als klar, war ein Zeichen, ein Symbol, eine Hand – dreifach vorhanden, eine irdische Trinität aus einem Schreibmaschinenaufdruck, einem Tagebucheintrag und dem Verweis in einem alten Manuskript, ausrangiert, ihres Sinnes beraubt und nur noch von historischem Wert – und vielleicht war dieses Abtauchen und Verrutschen, war diese ganze Vergänglichkeit das, worauf es am Ende hinauslief, ein Geheimnis, das überhaupt keines war, sondern ein Hinweis, ein Fingerzeig auf das, was ihr Schicksal war, in diesem vierzig Fuß tiefen Loch im Boden, das sie Tag für Tag schluckte, derweil die Jahre an ihr vorbei durch ihr Leben zogen.

Aber was konnte sie tun? Amanda Hollis wusste es nicht – und ging um Punkt 18 Uhr, als Geschichte und Gegenwart eine perfekte Linie bildeten, deren Enden in je verschiedene Richtungen wiesen, nach Hause und stellte sich erst vor den einen und dann vor den anderen ihrer beiden Spiegel im Bad und streckte den Arm aus, dann die Hand und zum Schluss noch den Finger. Der Finger zeigt auf ihr Spiegelbild. Der Finger im Spiegelbild aber zeigt auf sie. Dann trat Amanda Hollis zur Seite – und die beiden Finger zeigten ins Leere.

XXVII

Am nächsten Tag schneite es, und Amanda Hollis rutschte auf der Treppe hinab zur Untergrundbibliothek aus, schunderte mit dem Hintern über die Stufen und schlug – Füße voran – gegen die Tür.

Dick Walrus, der Hausmeister, hörte es klopfen und öffnete, und als er Amanda Hollis vor sich liegen sah, wollte er ihr aufhelfen, doch ließ sie ihn mit ausgestrecktem Arm über sich stehen, kroch im Krebsgang zurück und setzte sich erst auf die letzte und dann auf die vorletzte Stufe dieser Rodelbahn aus kanadischem Granit. Dann stand sie auf, schüttelte sich den Schnee aus den Sachen und ging an Dick Walrus vorbei ins Innere der Bibliothek, wo sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, sogleich die Treppe hinab in die zweite Etage nahm, in ihrem Zimmer verschwand und sich auf den Stuhl fallen ließ wie eine Flocke, die zu nass und zu schwer war zum Fliegen.

So wie es aussah, war Heath Cover Evil über Nacht nicht dagewesen (oder hatte keine Spuren hinterlassen, doch da er seine Anwesenheit für gewöhnlich zu markieren pflegte, hatte er seinen Kopf offenbar tatsächlich nicht in ihr Zimmer oder den Papierkorb gesteckt), und Amanda Hollis nahm das zum Anlass, um in Ruhe über die Dinge nachzudenken.

Was, so fragte sie sich, während sie sich ihres Mantels entledigte und – das hatte sie zuvor noch nie getan – unter dem Tisch ihre Schuhe auszog, was um alles in der Welt war hier eigentlich los? Ging es wirklich nur darum, einem Durcheinandergeratenen zuzuhören und ihm zu helfen, seine Geschichte zu ordnen, ihr Sinn und System zu geben? Oder war sie selbst das Ziel der ganzen Übung? Dann waren die Zeigefinger tatsächlich Verweise, und zwar solche, die auf sie gerichtet waren bzw. auf das, was sie ihr Leben nannte, waren Fingerzeige der etwas direkteren Art und nicht nur Symbole für Geld, das man einwerfen, Worte, die man nachschlagen und Manuskripte, die man zerschneiden konnte.

Immerhin, zwei dieser Verweise hatte sie selbst gefunden, auch wenn einer via Dick Walrus von Heath Cover Evil gekommen war. Den dritten aber hatte ihr die Stimme gegeben. Nur, was bedeutete das? Dass die Stimme ihr etwas Gutes tun wollte? Weil sie wusste (aber woher?), dass das Leben an ihr vorbeilief wie ein Fremder auf einer Straße. Erzählte sie ihr deshalb von einer Welt, die groß und voller Geheimnisse, Abenteuer und Verstrickungen war, damit sie, Amanda Susan Marie Hollis, sah, dass es neben dem langweiligen William Croswell und seinem Papierleben noch etwas anderes gab? Und neben ihrem eigenen erst recht?

Oder steckte hinter der Stimme doch kein verrückt gewordener Student und auch kein lichtscheuer Privat-Philantroph, sondern der alles berechnende Heath Cover Evil? Heath Cover Evil, der ihr die Schreibmaschine geschickt hatte. Und Zugang zu sämtlichen Kellerräumen der Untergrundbibliothek besaß. Und ihr obendrein den nichtsnutzigen William Croswell auf den Tisch gelegt hatte, vielleicht nicht nur um zu sehen, was sie aus diesem Nichts machte, sondern auch um zu sehen, was dieses Nichts aus ihr machte.

Nun, wenn dem so war, dann lagen die Tatsachen auf der Hand, dann hatte sie seine Erwartungen erfüllt und versagt, hatte keine Schlagworte geschrieben und sich von William Croswells Faulheit vereinnahmen lassen – und die Geschichte im Rohr war das passende Gleichnis dazu. Das setzte allerdings voraus, dass es ihre Geschichte war, die ihr die Stimme erzählte. Und vor allem: Dass es nur ihre war.

Aber danach sah es einfach nicht aus, schließlich hatte die Geschichte riesenhafte Dimensionen im Raum und in der Zeit, derweil sie, Amanda Susan Marie Hollis, nur ein kleines, um nicht zu sagen zu kleines Licht war. Warum also sollte ihr die Stimme eine solche Geschichte erzählen? Weil die große Geschichte auch mal von einem kleinen Licht behelligt werden wollte? Weil sie mal sehen wollte, wie es sich anfühlt, wenn man reinrutscht in so ein Leben, in so eine Bibliothek, in so ein Archiv und in das Archiv eines solchen Archivs? Weil sie schon immer mal wissen wollte, wie es ist, wenn man nichts erkennt und Tag für Tag sehenden Auges im Dunkeln tappt, in einem Raum ohne Fenster und Sonnenlicht, in einem Raum voller Papiermenschen und Toter?

Oder war ihr kleines Licht genau das, was die Stimme im Rohr brauchte, um jenes Maß an Klarheit zu bekommen, für das sie selbst nicht sorgen konnte, und deshalb hatte sie sie auserwählt, weil sie klein genug war, um nicht beachtet zu werden, aber groß genug, um so viel Licht wie nötig in die Geschichte zu kriegen. Aber nötig wofür?

Amanda Hollis wusste es nicht.

Andererseits, vielleicht hatte die Stimme – mochte hinter ihr stecken wer wollte – auf ihrem Weg durch den Zeit-Raum namens Geschichte etwas entdeckt, war, zufällig oder auch nicht, auf klandestine Verweise, Lücken und Unregelmäßigkeiten gestoßen und so einer Verschwörung auf die Spur gekommen, wie sie nur hier, in Amerika, entstehen konnte, groß und das ganze Land durchdringend wie … Würmer einen Packen Pergament …?

Wenn das stimmte, dann war die Sache mit der Vinland-Map ein Symbol, ein Gleichnis, eine in der Vergangenheit lauernde Warnung, die bis in die Gegenwart reichte. Und das bedeutete: die Stimme hatte recht, Amerika war wirklich bedroht.

Aber es bedeutete noch mehr, denn es hieß auch, dass weder sie noch die Stimme im Rohr das Zentrum dieser Geschichte waren. Vielleicht waren sie noch nicht mal ein Teil von ihr, oder wenn, dann nur ein ganz kleiner, einer, der unbedeutend genug war, um nicht beachtet zu werden, und genau deshalb dieser Verschwörung auf die Spur kommen konnte.

Dann war es so, dass die Stimme Zeuge dieser Verschwörung war – und sie diejenige, deren Aufgabe darin bestand, die Beweise zu dokumentieren, sie zu sammeln und in eine Ordnung zu bringen, um auf diese Weise das ganze Ausmaß sichtbar zu machen.

Das aber bedeutete letzten Endes nichts anderes als einen Index der Verschwörung zu erstellen, ein Kreuzregister aller genannten Namen, Zeiten, Ereignisse und Orte, ein System von Verweisen und Unterverweisen, die allesamt aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden mussten, so lange, bis die Geschichte gar nicht mehr umhinkam, sich selbst zu entschlüsseln und das freizulegen, was die Verschwörung und das heißt: die wahre Bedrohung Amerikas war.

Trotzdem, eine Frage blieb noch: Warum gerade sie? Sie wusste doch gar nichts von dem, was ihr die Stimme erzählte, kannte sich damit weder aus, noch war sie in der Lage, das Gesagte zu überprüfen. Und wie auch? Sie war die Registermacherin toter Männer, eine Indexschreiberin, die an der Zukunft der Vergangenheit baute, eine, die half, die Größe von Harvard parallel mit der Zeit wachsen zu lassen, und auch wenn sie noch immer nicht wusste, welche Rolle William Croswell dabei zukam, so wusste sie doch, dass das, was sie in den vergangenen siebeneinhalb Jahren getan hatte, der größtmögliche Gegensatz zu dem war, was jetzt offensichtlich ihre Aufgabe war, denn die bestand darin, das Register einer Verschwörung zu erstellen, oder besser gesagt: das eines Buches, dessen Worte sie nur bedingt verstand und deren Autor noch nicht mal einen Namen hatte, ihn zumindest nicht nannte, was allerdings noch nicht mal die größte Schwierigkeit beim Erstellen dieses Registers war, denn die bestand darin, dass dieser Jemand (bzw. noch ganz andere Leute) beständig weiter am großen Buch dieser Verschwörung schrieben.

Wie also sollte sie da einen vernünftigen Index erstellen, wie einen Überblick über die Geschichte und das ganze Ausmaß der Verschwörung bekommen? Sie wusste ja noch nicht einmal, ob es diese ominöse Vinland-Map überhaupt gab.

Und selbst wenn, wie sollte sie entscheiden, ob die Karte echt war oder nicht? Die Stimme hatte doch selbst gesagt, dass es auch eine Fälschung sein könnte. Woher also sollte sie es dann wissen? Sie hatte keine Ahnung von alten Karten und auch nicht von neuen, hatte weder welche begutachtet noch katalogisiert, denn das war Aufgabe der Damen in der Widener-Library nebenan. Oder derjenigen, die hier in Pusey in der Kartenabteilung arbeiteten, doch befanden sich deren Räume nicht im Keller, sondern oben, in der ersten Etage.

Gut möglich also, dass sich die Stimme bei der Auswahl ihrer »Gehilfin« geirrt und fälschlicherweise geglaubt hatte, dass sie eine von den Landkarten-Ladys sei, derweil sie gar keine Karten, sondern Katalogisierer kartierte. Das aber hieß, es nicht mit Abbildern, sondern nur mit den Abbildern von Abbildern zu tun zu haben bzw. mit Wörtern auf Wörter zu verweisen, die selbst wiederum auf nichts anderes als Wörter verwiesen, was schlussendlich bedeutete, es mit gar nichts zu tun zu haben, sondern einfach nur Katalogkarten über einen Katalogisierer zu schreiben und Schlagworte für einen Schlagwortsetzer zu suchen, der selbst ein Nichts und Niemand und obendrein auch noch geschlagen worden war – von einem Hutmacher, der, nach allem, was sich den Akten entnehmen ließ, noch nicht mal einen Hut aufhatte, als er seine Faust im Gesicht von William Croswell platzierte.

Kaum dass Amanda Hollis die Gedanken gedacht und die Nichtigkeit ihres Ergebnisses mit einem lauten »Arrghhh!« untermalt hatte, ließ sie den Kopf, als sei er plötzlich zu schwer und nicht mehr zu halten, ungehemmt fallen – und William Croswell bekam die nächste reingedrückt, wobei es diesmal nicht die kalte Faust eines Hutmachers, sondern Amanda Hollis’ schwitzende Stirn war, die ihm ins Gesicht klatschte bzw. in das, was davon in Form von Papier noch übrig war.

Was folgte, war ein weiterer Sturzbach nihilistischer Gedanken, die sich von Amanda Hollis' Stirn aus übers Papier ergossen – oder vom Papier aus hoch in die Stirn krochen, das war so genau nicht zu sagen. Fest jedenfalls stand in ihrem Kopf nur eins: Das Schreiben des Registers eines unfertigen und ihr nur bedingt verständlichen Buches lag an der Grenze zur Unmöglichkeit und konnte, wie sorgfältig auch immer sie vorging, bis auf Weiteres nur vorläufige Resultate liefern. Der Versuch aber, einen Index zu erstellen, ohne ein dazugehöriges Werk zu haben, hieß, diese Grenze ein für alle Mal zu überschreiten.

Mit anderen Worten: Sie, Amanda Hollis, blieb auf bekanntem Gebiet und behielt, so schwankend er auch war, wenigstens Boden unter den Füßen, wenn sie die Geschichte im Rohr weiter verfolgte, die Schlagworte notierte und sie zu ordnen versuchte. Dasselbe mit William Croswell zu tun bedeutete dagegen, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, dabei jedoch nicht dem Abenteuer, sondern der Leere ins Auge zu schauen. Von der aber hatte sie in ihrem Leben genug.

Warum also sollte sie sich weiter um William Croswell kümmern? Weil Heath Cover Evil es von ihr verlangte? Aber der hatte sie mit der Maßgabe eingestellt, Schlagworte zu notieren, nicht sie zu negieren. Genau das aber würde im Fall von William Croswell passieren – und war in den vergangenen Tagen ja auch schon passiert, ganz einfach indem nichts passiert war. In William Croswells Leben gab es nämlich kein Werk, und er selbst stellte auch keines dar, schließlich war sein Leben ein einziges Desaster, eine Abfolge von Niederlagen und Enttäuschungen, von Krankheiten und Kummer, und seine Faulheit war das einzige Pfund, mit dem er nach all den erfolglosen Jahren noch wuchern, das Einzige, was er in die Waagschale jenes Lebens werfen konnte, das ihn bis dahin so sehr enttäuscht hatte.

Und doch, so sympathisch ihr William Croswells Nichtstun in mancherlei Hinsicht auch war, so unmöglich war es, ihm einen Index zu schreiben, schließlich ließen sich für seine Zeit hier in der Bibliothek nur »Faulheit«, »Nichts« und »Niederlage« notieren – allesamt Begriffe, die das in über dreihundertjähriger Kleinstarbeit gefüllte große Buch der Geschichte von Harvard nicht kannte und die auch nicht in dem vergleichsweise kleinen Schlagwortregister vorkamen, das Amanda Hollis seit nunmehr siebeneinhalb Jahren im Universitätsarchiv pflegte.

Aber wie sollten sie auch Teil davon sein? Der Geist von Harvard war einer des Machens, der Arbeit und des Erfolgs. Im Fall von William Croswell aber bestand die ganze Arbeit darin, dass er seine eigenen Manuskripte zerschnitten hatte – und den bis dahin existierenden Bandkatalog der Bibliothek gleich noch mit. Zerschneiden aber, das wusste Amanda Hollis, war keine Arbeit, schon gar nicht bei ihr, deren Aufgabe es war, die Fragmente der Geschichte zusammenzusetzen zum Ruhme von Harvard. Was also musste die Welt von William Croswell schon wissen? Und was sie von einer alten Karte, die als Erste ihrer Art Amerika zeigte?

»William Croswell hat auch eine Karte gezeichnet«, sagte plötzlich das Blatt, das direkt unter Amanda Hollis' schwitzender Stirn lag, und klang, als wolle es sich damit die Freiheit erkaufen, »es war die erste Karte der Sterne und Konstellationen, die jemals in Amerika produziert worden ist.«

»Wann war das?«, fragte Amanda Hollis ein wenig überrascht, denn es hatte den Anschein, als sei das Blatt auf dem Tisch eine Manifestation der Stimme im Rohr.

Dann hob sie den Kopf. Doch das Blatt folgte ihr, klebte fest wie dereinst der Stuhl im Personalbüro an ihrem Hintern, war an ihre Stirn geheftet wie die Karte an dem Stück Papier, das man ihr im Tausch gegen die Urkunde aus Drexel gegeben hatte.

Kein Wunder, dass statt ihrer Ohren jetzt die Augen die Richtung vorgaben, derweil ihr Mund weitersprach …

»Also, wann hat William Croswell die Karte gezeichnet?«

»1810«, sagten die Augen, die die Zahl direkt vor sich aufscheinen sahen.

»Und es war wirklich die erste Karte?«, fragte Amanda Hollis, die das gern glauben wollte, es aber noch nicht so recht konnte.

»Die allererste«, sagten die Augen. »Sie umfasst den Himmel von 66,6 Grad Nord bis 66,6 Grad Süd.«

»Stopp!«, sagte Amanda Hollis.

»Wir gehören zu dir«, sagten die Augen, »es ist deine Sache, ob du aufhörst oder nicht.«

»Verstehe«, sagte Amanda Hollis und riss sich das Papier von der Stirn – und sah vor sich an der Wand Amerika aufscheinen, groß und grün und in der Mitte der Welt, und in ihrem Kopf standen die Zahlen, drei Mal die sechs.

»Heath Cover Evil!«, rief der Mund. Oder war’s eine Stimme in ihrem Innern?

Egal, Amanda Hollis rannte los, eilte hinab ins Archiv des Archivs.

XXVIII

»Ich weiß, wer du bist!«, rief Amanda Hollis, während sie die Treppe heruntergewetzt kam.

»Oh«, sagte das Rohr, und es klang, als hätten sie beide die Rollen getauscht.

»Dein Name ist« – Amanda Hollis machte eine kurze Pause, um ihren Triumph auszukosten und der Situation ein bisschen mehr Dramatik zu geben – »Heath Cover Evil!«

»Nein«, sagte die Stimme, »der sitzt oben in seinem Zimmer.«

»Beweise!«, rief Amanda Hollis.

»Ich kann schlecht aufstehen und zu ihm gehen«, sagte die Stimme. »Aber du.«

»Na schön«, sagte Amanda Hollis, »aber du wartest hier«, und es klang, als habe das Rohr tatsächlich vor, den Raum zu verlassen, derweil Amanda Hollis es selbst tat und nicht nur eine, sondern zwei Treppen nach oben lief, an eine Tür klopfte, die nicht ihre eigene war und eine Antwort bekam, die sie ein-, tatsächlich aber abtreten ließ, woraufhin sie die zwei Treppen wieder hinabstieg und, irgendwie desillusioniert, »Beweis erbracht« sagte und dann »Jetzt bist du dran, dich zu bewegen«, was natürlich nur symbolisch gemeint und eine Aufforderung war, mit der Geschichte fortzufahren. Was die Stimme dann auch tat.

Allerdings begann sie nicht an der Stelle, an der sie gestern geendet hatte, bei der Spiegelgeschichte und dem Finger von irgendeinem Johannes aus Frankreich, sondern bei einem Mann namens Chester Kerr, der, so die Stimme, »der Leiter der Yale University Press ist und gerade die Publikation eines Buches vorbereitet, dass The Vinland Map and the Tartar Relation heißen soll.«

»Ist das das große, dicke, wissenschaftliche Buch, von dem du gestern gesprochen hast?«, wollte Amanda Hollis wissen. »Das mit dem kaputten Register?«

»Genau das«, sagte die Stimme.

»Und dieser Chester Kerr ist der Verantwortliche für das Buch?«

»Nun, sagen wir, er ist dafür verantwortlich, aus dem Buch eine Sensation zu machen, was allerdings nicht schwer werden dürfte, schließlich geht es um die vielleicht wichtigste kartographische Entdeckung in der Geschichte. Diejenigen, die das Buch in den Händen halten, werden darin eine Karte finden, die aus der Zeit vor Kolumbus stammt und trotzdem Amerika zeigt.«

»Die Vinland-Map«, kam es fiepend aus Amanda Hollis' Mund. Und dann, weil sie immer noch nicht wusste, wer sich hinter der Stimme verbarg, gleichwohl aber das Gefühl hatte, es herausbekommen, zumindest raten zu müssen: »Bist du vielleicht ein Rohrakel?«

»Ja«, sagte die Stimme.

»Oh«, sagte Amanda Hollis.

Und das war eben das.

»Ich nehme an, wir können jetzt weitermachen«, kam's kurz darauf aus dem Innern des Rohrs.

»Ja«, sagte Amanda Hollis und sackte mit ihrem Hintern auf die Treppe (sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie die ganze Zeit über gestanden, um nicht zu sagen in der Luft gehangen hatte), wobei sich ihr Hintern diesmal nicht auf der vorletzten, sondern (Erduntergeschoss! Keller!) auf der letzten Stufe platzierte, auf welcher (Überraschung!) noch ein Sloppy Joe zu ruhen gedachte, zu der angedachten Ruhe aber nicht kam, denn kaum dass sich der Amanda Hollissche Hintern platziert hatte, ertastete die Linke den Überraschungsgast (Fand ihn sozusagen blindlinks), die Rechte wendete ihn gedankenverloren von einer Seite zur andern (Immerhin etwas, an dem man sich festhalten konnte), und der Mund biss hinein. Und wunderte sich über den ungewohnten Geschmack auf der Zunge. Über das Schaben an den Zähnen. Und das Gefühl, auf Aluminiumfolie zu kauen.

Also zog Amanda Hollis Sloppy Joe wieder raus, entkleidete ihn (nackt sah er sowieso besser aus), sah plötzlich (wo kam der denn her?) ihren Füller vor der Treppe auf dem Fußboden liegen, fand (sie musste sich das alles irgendwie eingesteckt haben) noch ein paar Katalogkarten und war (Alltag, Arbeit, Trallalla) bereit zu schreiben.

»Weißt du noch, wo wir stehengeblieben waren?«, fragte die Stimme.

»Ja«, sagte Amanda Hollis, den Füller fest in der Rechten, »die Hand in der Spiegelgeschichte.«

»Nun, eigentlich war es der Zeigefinger einer Hand und die Sache mit der Spiegelgeschichte selbst nur ein Exkurs, ein kleiner Richtungswechsel in den Untiefen der Historie, denn in Wahrheit waren wir bei zwei Männern aus Yale stehengeblieben, Alexander Vietor und Thomas Marston, die die Vinland-Map und die Tartar-Relation angeboten bekamen, aber nicht kauften. Ein paar Monate später, im April 1958, ging dieser Marston dann aber doch noch auf Shopping-Tour und bestellte, wie wir gesehen hatten, mit Hilfe eines Buchhändlers in Yale bei Davis und Orioli in London die Parallelgeschichten des Plutarch und dazu noch eine Version der Spiegelgeschichte des Vinzenz von Beauvais, wobei ich darauf hingewiesen hatte, dass letztere nicht vollständig und überdies nur eine Kopie aus dem 15. Jahrhundert war, die rein textlich betrachtet keinen größeren Wert hatte.«

»Und warum bestellt dieser Marston sie dann? Ich meine, wenn es nicht das Register war, das ihn interessierte, und auch nicht der Finger?«

»Nun, angeblich hatte Marston eine entsprechende Sammlung und in der Sammlung eine passende Lücke.«

»Das ist nicht die erste Lücke in deiner Geschichte«, sagte Amanda Hollis, doch klangen die Worte diesmal vertraut, und statt eines klagenden Tones schwang fast schon so etwas wie Vorfreude (oder Nachsicht) in ihrer Stimme. Weshalb sie dann auch gleich fortfuhr:

»Also gut, ich fasse noch mal zusammen. Dieser Marston hat eine Sammlung mit alten Manuskripten aus dem 15. Jahrhundert. Und in dieser Sammlung eine Lücke. Und um die ein bisschen kleiner zu machen, bestellt er sich ein Stück Spiegelgeschichte, das in diesem Fall zwar nur eine Kopie ist, aber dafür ebenfalls aus dem 15. Jahrhundert stammt.«

»Genau«, sagte die Stimme.

»Und was ist dann passiert?«, wollte Amanda Hollis wissen.

»Dann verging ein bisschen Zeit, was ich hier nur mit 'dann verging ein bisschen Zeit' ausdrücken kann, und als sie dann vergangen war, erhielt Marston einen Anruf von seinem Buchhändler, der ihm mitteilte, dass die bestellten Manuskripte aus London eingetroffen sind.

Marston begab sich daraufhin in die Buchhandlung, nahm die Manuskripte an sich, ging zurück in sein Büro und überlegte sich, was er mit all diesen Spiegel-und Parallelgeschichten anstellen sollte. Allerdings fand er, außer der Lücke in seiner Sammlung, nichts Passendes, das heißt, er hatte keine Idee und auch sonst noch eine Menge zu tun, weshalb er sich entschied, Laurence Witten anzurufen, jenen Buchhändler, der ihm ein halbes Jahr zuvor die Vinland-Map und die Tartar-Relation angeboten hatte.«

»Und dann?«

»Dann bat er ihn, die Manuskripte für ihn zu untersuchen, und wenig später stand Witten auch schon in Marstons Büro, betrachtete die Einkäufe, nahm sie zum Zwecke weiterer Untersuchungen an sich und ging.«

»Und Marston?«

»Der blieb in seinem Büro, denn er hatte an diesem Tag wirklich eine Menge zu tun. Erst gegen 22 Uhr kehrte er nach Hause zurück, und als er die Tür aufschließen wollte, hörte er, dass im Flur das Telefon klingelte.

Er dachte sich nichts weiter dabei, öffnete in aller Ruhe die Tür und legte seine Tasche beiseite. Das Klingeln aber hörte nicht auf, und als sich Marston seiner Jacke entledigt und die Tür wieder geschlossen hatte, ging er schließlich ran. Am Apparat war Laurence Witten, der ihm in heller Aufregung mitteilte, dass die Spiegelgeschichte der Schlüssel zur Vinland-Map und auch zur Tartar-Relation sei.«

»Wie das?«

»Nun, das Entscheidende waren die Wurmlöcher. Du erinnerst dich, die passten bisher nicht zusammen, ganz einfach, weil die Wurmlöcher der Vinland-Map mit denen der Tartar-Relation nicht deckungsgleich waren. Jetzt aber hatte Witten die frisch erworbene Spiegelgeschichte genommen und sie, vielleicht weil er was ahnte, vielleicht aber auch nur so zum Spaß, zwischen die Vinland-Map und die Tartar-Relation gepackt – und siehe da, die Wurmlöcher waren plötzlich keine Sackgassen mehr.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass sich die Wurmaustrittslöcher der Vinland-Map jetzt in absolute Übereinstimmung mit den Wurmeintrittslöchern der Spiegelgeschichte bringen ließen, deren Austrittslöcher wiederum exakt auf die Eintrittslöcher in der Tartar-Relation passten.«

»Die drei Manuskripte waren mal eins?«

»Gut kombiniert«, sagte die Stimme, »irgendjemand hatte sie offensichtlich vor langer Zeit mal zusammengebunden, allerdings nichts gegen die Würmer getan, die sich daraufhin quer durch den ganzen Pergamentpacken fraßen. Irgendwann aber war das in der Mitte steckende Spiegelgeschichts-Stück aus der Sammlung herausgelöst und weiterverkauft worden, wodurch die Vinland-Map und die Tartar-Relation allein zurückblieben. Als Witten die beiden 1957 Marston zum Verkauf anbot, konnten die Wurmspuren also gar nicht passen, ganz einfach weil das entscheidende Teil, die Querverbindung zwischen ihnen, fehlte. Genau die aber hatte Marston jetzt zufällig in London erworben. Und Witten hatte ihm die Zusammengehörigkeit der drei Teile bestätigt, oder besser gesagt: sie überhaupt erst erkannt.«

»Wow!«, sagte Amanda Hollis. Und dann: »Ich hab meine ganzen Karteikarten vollgeschrieben.«

Woraufhin sie aufstand, um in ihr Zimmer zu gehen und neue zu holen.

Als sie neben sich auf die Stufe griff, um sich hochzudrücken, sah sie, dass außer dem Folienkleid nichts von Sloppy Joe übrig geblieben war und dass das verputzte Sandwich in direktem Gegensatz zu ihren vollgeschriebenen Karten stand.

»Mein Bauch ist mein Index«, dachte Amanda Hollis während sie sich am Geländer hochzog, »aber mein Kopf ist vollkommen leer.«

Dann trat sie nach oben, und die Stufen unter ihr erzitterten wie Europa dereinst vor den Mongolen.

XXIX

Sie hatte alles wild durcheinander geschrieben, und es war an der Zeit, den Dingen eine erste Ordnung zu geben und möglichst nichts zu vergessen.

Chronologie der Ereignisse

986: Wikinger entdecken Amerika

989: Wikinger verlassen Amerika

13. Jahrhundert: Vinland-Map entsteht (wenn sie echt ist)

13. Jahrhundert: Vinzenz von Beauvais verfasst Spiegelgeschichte

13. Jahrhundert: Carpinis Reise zu den Mongolen (1245-1247)

13. Jahrhundert: de Bridias Bericht über die Mongolen (1247)

14. Jahrhundert: Johannes von Hautfuney erweitert und verfeinert das Register der Spiegelgeschichte

14. Jahrhundert: Jean de Hautfune (Bischof)

15. Jahrhundert: Kopie der Vinland-Map + Tartar-Relation (1440)

15. Jahrhundert: Kopie der Spiegelgeschichte (1440?)

1492: Kolumbus/Rodrigo de Triana Entdeckung Amerikas

16. Jahrhundert: Akhbar erstellt ersten Katalog der Königlichen Mongolischen Bibliothek

1809: William Croswell publiziert Aufsatz über »schräge Sphären«

1810: William Croswells produziert erste amerikanische Sternenkarte

4. August 1812: William Croswell in Harvard eingestellt, soll Katalog der Bibliothek erstellen

14. Juni 1817: William Croswell malt eine Hand in sein Bibliothekstagebuch, beginnt, seine Manuskripte zu zerschneiden

1827: William Croswell erfindet den »Füller am Stock«

1831: Anfertigung des bisher letzten Karten-Katalogs in der Bibliothek von Harvard

1906: Leuchter in Drexel entstanden

1933: ich geboren

1951: Witten eröffnet Dependance in Yale

1954: Mönche fotografieren Manuskripte in Saragossa

1955: Nicolas Rauch versteigert Wiegendrucke in Genf

1955: Prof. Orscube Vorlesung über Wiegendrucke in Drexel

März / April 1956: Leuchter in Drexel verschwindet

Mai 1956: ich komme nach Harvard

Anfang 1957: Ferrajoli alte Manuskripte in Saragossa gestohlen

Anfang 1957: de Bridias Historia Tartarorum (Tartar-Relation) taucht auf

Anfang 1957: Vinland-Map taucht auf

Februar / März 1957: Ferrajoli tingelt mit der Vinland-Map und der Tartar-Relation durch Spanien und Frankreich

März 1957: Ferrajoli bietet in London Davis die Vinland-Map und Tartar-Relation zum Kauf an. Davis lehnt ab

März 1957: Vinland-Map und Tartar-Relation im British Museum in London begutachtet. Abgelehnt

März 1957: Witten kauft die Vinland-Map und Tartar-Relation von Ferrajoli (aus dem Kofferraum seines Fiat, in Genf)

März 1957: Witten zeigt die Vinland-Map Davis in Mailand. Dann fliegt er mit ihr nach Yale

Oktober 1957: Marston / Vietor (Yale) lehnen Kauf der Vinland-Map und Tartar-Relation ab

8. April 1958: Marston erhält von Davis die Vorabausgabe eines Katalogs mit alten Manuskripten

Mitte / Ende April 1958: Marston kauft von Davis ein Stück Spiegelgeschichte

Mitte / Ende April 1958: Witten erkennt die Zusammengehörigkeit zwischen Spiegelgeschichte, Vinland-Map und Tartar-Relation

1961: Ferrajoli wird verhaftet

Ende 1962 / Anfang 1963: Skelton in Harvard

Oktober 1963: Chester Kerr (Yale) bereitet Veröffentlichung des Vinland-Map-Buches vor

Oktober 1963: Heath Cover Evil entdeckt William Croswell

November 1963: ich entdecke, dass hier was nicht stimmt

Name, Funktionen und Orte

Enzo Ferrajoli (Buch-und Kartenhändler):

Barcelona / Saragossa / Genf

Nicolas Rauch (Buch-und Kartenhändler):

Genf

Joseph Irving Davis (Buch-und Kartenhändler):

London

Raleigh Ashlin Skelton (Kartenkundler):

London/Harvard

Laurence Witten (Buch-und Kartenhändler):

Yale

Mr. Barry/Stonehill (Buch-und Kartenhändler):

Yale

Thomas Marston (Kartenkundler):

Yale (Universität)

Alexander Vietor (Kartenkundler):

Yale (Universität)

Chester Kerr (Verleger):

Yale (Universität)

Original und Status

Tartar-Relation: verschwunden

Vinland-Map: verschwunden

Spiegelgeschichte: ???

Historia Mongalorum: ???

alte Manuskripte aus Saragossa: gestohlen

Kopie und Status

Tartar-Relation: wieder aufgetaucht

Vinland-Map: wieder aufgetaucht

Spiegelgeschichte: vorhanden

Historia Mongalorum: ???

Katalogkarten der alten Manuskripte aus Saragossa: zerstört

William Croswell: Two Tables of the Varieties in the First and Second Cases of Oblique Spherics (1809)

in den Akten gelesen, im Original und als Fotokopie vorhanden (Xerox 914?)

Rolland Stevens: Library Experiment with the Xerox 914 Copier (1962)

in den Library Resources gelesen, kein Original, aber auch keine Kopie, zumindest nicht im Sine des Xerox 914.

Autoren und Werke

Plutarch: Parallelgeschichte

Vinzenz von Beauvais: Spiegelgeschichte

Carpini: Historia Mongalorum (Geschichte der Mongolen, die wir Tartaren nennen)

de Bridia: Historia Tartarorum / Tartar-Relation (Tartarengeschichte)

Übereinstimmungen und Parallelen

die Hand in Croswells Tagebuch ist identisch mit der Hand auf der Remington und der in der Spiegelgeschichte

Wurmeintrittslöcher / Wurmaustrittslöcher deckungsgleich

Vinland-Map / Spiegelgeschichte / Tartar-Relation Einheit

Laurence Claiborne Witten ordnet die Manuskripte so an, dass sie passen (Wurmlöcher) die Leser des Vinland-Map-Buches bekommen ein falsches bzw. kein Bild von der Herkunft der Karte

Heath Cover Evil ordnet das Papier so an, dass es passt (in einem Erdloch) die Leser des Register bekommen ein falsches Bild von William Croswell

ich: bekomme Anordnungen, versuche trotzdem (oder deswegen?) kein falsches Bild von William Croswell aufkommen zu lassen

Prof. Orscube: kein William Croswell erwähnt

Potter / Bolton: The Librarians of Harvard College (1677–1877) – kein William Croswell erwähnt

Painter / Skelton / ???: The Vinland Map and the Tartar Relation kein Ferrajoli, kein Davis und kein Rauch erwähnt

Bonnycastle und Nicholson (London) unterstützen Croswell bei der Publikation seiner Sternenkarte

Painter und Skelton (London) unterstützen Ferrajoli bzw. Witten / Yale bei Publikation der Vinland-Map

William Croswell wurde von Präsident Kirkland angetrieben

die Damen in der Widener wurden von Skelton angetrieben

ich werde von Heath Cover Evil angetrieben

(Harvard ist ein Treibhaus)

Kotjan Khan (Kumanenkönig):

tot Pferd ins Grab, Freund auch vereint im Tod

Thoma Hollis (Bücherspenderkönig):

tot Pferd aufs Grab, Freund auch vereint im Namen

die geheime päpstliche Akte: kassatiert (in der Mongolei)

meine geheimen Akten: noch zu kassatieren (in Harvard)

Carpini Kloster (Polen) erzählt Geschichten hat einen, der seine Reise durch Asien aufschreiben soll, aber etwas anderes daraus macht (ein Buch über die Geschichte und Sitten der Mongolen, nicht über Carpinis abenteuerliche Reise) = de Bridia

Ich Kloster (Pusey) bekomme Geschichten erzählt habe einen, der meine Reise durch William Croswells Papierleben aufschreiben soll, aber etwas anderes daraus machen will (einen Aufsatz über Croswells langweiliges Buchtitelkatalogisierer-Leben, nicht über seine abenteuerlichen Projektmachereien) = Heath Cover Evil

Evil, Heath Cover: 666

Sternenkarte, William Croswell: 666

meine eigene Vinland-Map (Pauspapier): durchsichtig, fehlen Teile

die »echte« Vinland-Map (Pergament): durchlöchert, fehlen Teile

der Esel: früh aufgestanden, Glück gehabt

ich: früh aufgestanden, ausgerutscht

… und während Amanda Hollis Karteikarte um Karteikarte füllte, saß eine Etage weiter oben Heath Cover Evil an einem Tisch, der so groß war wie der ganze Archivraum, den sich Amanda Hollis mit der Remington, William Croswell und ihren Akten teilte, hatte die Finger gebetartig ineinander verschränkt und die Beine wie zwei anmontierte Stelzen unter dem Tisch ausgestreckt. Die Beine des Tisches aber staken einen Meter tief in der Erde, derweil die große, glänzend leere Platte ein Stück oberhalb der Grasnarbe lag, die den gesamten Archivbau einpackte wie ein großes, flauschiges Tuch. Doch es war November, und der schmelzende Schnee hatte das Tuch mit Wasser durchtränkt bis es triefte.

Der Rasen vor Heath Cover Evils Fenster war matschig und braun. Es sah aus, als hätte jemand eine Armee von Sloppy Joes niedergemäht.

XXX

Zurück im Archiv des Archivs, hatte die Stimme die Erzählung wieder aufgenommen, und Amanda Hollis hörte ihr, froh, eine erste Ordnung zu haben, aufmerksam zu.

»Wir schreiben das Jahr 1958«, sagte die Stimme, »und es gibt ein Problem. Zwar haben die drei Manuskripte dieselben Wurmlöcher, nur leider nicht denselben Besitzer. Soll heißen: die Vinland-Map und die Tartar-Relation gehören Witten, denn der hat sie von Ferrajoli gekauft, während das Stück Spiegelgeschichte Marston gehört, der es von Davis gekauft hat.«

»Warum kauft Marston dann nicht auch noch die anderen beiden Manuskripte?«, fragte Amanda Hollis, die Augen wie die Feder des Füllers fest auf dem Papier, bereit, alles zu notieren, was ihr wichtig erschien. »Ich meine, Witten hat Marston die Manuskripte doch zuvor selbst angeboten.«

»Ganz einfach: Marston hat nicht genug Geld.«

»Aber Witten hat doch nur 3.500 Dollar dafür bezahlt. Er wird doch jetzt nicht das Zehnfache verlangen.«

»Nein«, sagte die Stimme, »das Dreihundertfache.«

»Was?!«, rief Amanda Hollis. Und dann, nach ein paar Sekunden des Rechnens: »Das sind 3.500 Dollar pro Meile!« Woraufhin es an der Stimme war, »Was?!« zu fragen.

»Vergiss es«, sagte Amanda Hollis, die eigentlich nicht darüber reden wollte – es dann aus irgendeinem Grund aber doch tat. »Es ist nur so, dass ich vor ein paar Jahren mit dem Zug von Philadelphia nach Harvard gefahren bin. Das waren dreihundert Meilen, und ich habe mir gerade vorgestellt, wie es wäre, wenn man mit so einer 3.500 Dollar teuren Karte in den Zug steigt und mit jeder Meile, die man fährt, den Einkaufspreis draufschlägt. Dann wäre man, wenn man in Harvard aussteigt und jemand die Karte kauft, Millionär.«

»Stimmt«, sagte die Stimme, »das heißt, wenn man die Karte nicht während der Reise verschenkt.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nun, nach allem, was ich weiß, hatte Witten die Vinland-Map zu dem Zeitpunkt, an dem klar war, dass die drei Manuskripte zusammengehören, bereits seiner Frau geschenkt. Und die Tartar-Relation gleich mit.«

»Warum hat er das getan?«, fragte Amanda Hollis.

»Keine Ahnung«, sagte die Stimme, »wäre Witten Engländer, würde ich den üblichen Spleen dahinter vermuten. Aber Witten ist Amerikaner, und wir sind in Yale.«

»Harvard«, sagte Amanda Hollis. Aber dann bemerkte sie, dass das falsch war, und schwieg. Und die Stimme fuhr fort.

»Natürlich könnte man jetzt eine ganze Reihe von Vermutungen aufstellen. Zum Beispiel könnte man annehmen, Witten habe mit der Zeit ein ungutes Gefühl oder irgendeinen Hinweis bekommen, dass die Vinland-Map doch eine Fälschung ist, und sie deshalb seiner Frau geschenkt. Allerdings würde eine solche Vermutung kein gutes Licht auf Witten werfen – und erst recht nicht auf den Wert, den er seiner Frau beimisst. Ich schlage deshalb vor, wir klammern die Frage nach dem Grund der Schenkung aus und kümmern uns um das Stück Spiegelgeschichte, das, wie wir wissen, Marston gehört.«

»Und was macht dieser Marston damit?«

»Nun, im Grunde genommen macht er nichts. Nichts außer zu hoffen, dass, wenn er alles weggibt, alles bekommt.«

»Verstehe«, sagte Amanda Hollis, »ich gebe, damit du gibst.« Und dann, leise, fast flüsternd: »Das machen sie in Harvard nicht anders als in Yale.«

Aber die Stimme ging nicht darauf ein.

»Jedenfalls schenkt Marston sein Stück Spiegelgeschichte im April 1958 Wittens Frau, wodurch die ursprüngliche Einheit der drei Manuskripte wiederhergestellt ist. Wobei seine Geste nicht ganz so selbstlos ist, wie sie scheint, denn Marston hofft, durch sein Geschenk für sich bzw. die Universitätsbibliothek von Yale eine gewisse Kontrolle zu erlangen, sollte sich Mrs. Witten eines Tages dazu entschließen, die drei Manuskripte zu veräußern, wobei Marstons Interesse natürlich vor allem der Vinland-Map gilt.«

»Und, verkauft Mrs. Witten die Karte?«

»Warte, zuvor solltest du noch wissen, dass das Stück Spiegelgeschichte, das Marston bei Davis in London bestellt hat, ursprünglich gar nicht von Davis stammt, sondern im Besitz von Ferrajoli war, der natürlich mal wieder nicht sagt, woher er es hat. Sicher aber ist, dass beim Erwerb der Spiegelgeschichte dieselben Personen beteiligt sind, die schon zuvor beim Kauf und Weiterverkauf der Vinland-Map und der Tartar-Relation involviert waren. Und genau wie bei den beiden anderen Manuskripten endet auch in diesem Fall die Suche nach der Herkunft vor den Türen irgendeiner spanischen Privatbibliothek.«

»Verstehe«, sagte Amanda Hollis – und kurz darauf war die Sache auch schon aktenkundig gemacht.

Vinland-Map und Tartar-Relation

??? Ferrajoli (gekauft Davis angeboten) Davis (abgelehnt) Rauch (vermittelt) Witten (gekauft Marston/Vietor angeboten) Marston/Vietor (abgelehnt) Mrs. Witten (geschenkt)

Das Stück Spiegelgeschichte

??? Ferrajoli (gekauft Davis angeboten) Davis (gekauft Marston angeboten) Marston (gekauft) Mrs. Witten (geschenkt)

Vielleicht war es, weil sie sah, dass sie die Vorgeschichte, die längst Gegenwart geworden war, zusammenfassen konnte. Vielleicht aber auch, weil auf einmal alles zusammenzulaufen und sich hier, in Amerika, zu vereinen schien – jedenfalls sagte Amanda Hollis, kaum dass die Stimme ihre Ausführungen über die an den Käufen und Verkäufen beteiligten Personen beendet hatte: »Und, wo ist jetzt das Problem?«

Aber das war eindeutig die falsche Frage – und Amanda Hollis im nächsten Moment Adressatin eines Stichpunktstakkatos, das klang, als würde ihr jemand den Inhalt von Katalogkarten vorlesen.

»18. August 1904: Thomas Ewart Marston wird in Chicago geboren.

27. Juni 1927: Thomas Ewart Marston erhält einen Bachelor-Abschluss in Yale, studiert anschließend Ägyptologie, gibt das Fach aber schon bald wieder auf.

14. Mai 1936: Thomas Ewart Marston macht in Harvard seinen Master-Abschluss in europäischer Geschichte. Zu dieser Zeit hat er bereits begonnen, in Yale eine Sammlung alter Manuskripte und Karten aufzubauen.

6. August 1936: Thomas Ewart Marston schenkt der Universitätsbibliothek von Yale eine Sammlung alter lateinischer Schriften und Wiegendrucke.

1. September 1939 bis 8. Mai 1945: Während des Zweiten Weltkrieges arbeitet Thomas Ewart Marston für den Nachrichtendienst der US-Armee. Anschließend nimmt er am Koreakrieg teil. Er erreicht den Rang eines Oberst.

7. Oktober 1953: Thomas Ewart Marston kehrt nach Yale zurück und führt seine Sammlung alter Manuskripte fort. Der Sammlungsschwerpunkt liegt jetzt auf der Zeit des 12. bis 15. Jahrhunderts. Die Universitätsbibliothek von Yale bestellt Thomas Ewart Marston kurz darauf zum Kurator ihrer Mittelalter-und Renaissance-Manuskripte.

1. Januar 1954 bis 31. Dezember 1960: Thomas Ewart Marston baut seine Sammlung zu einer der größten amerikanischen Privatsammlungen für mittelalterliche Manuskripte aus. Fast die Hälfte seiner Manuskripte erwirbt er von Laurence Claiborne Witten, von seinen Freunden immer nur Larry genannt.

6. Dezember 1961: Bei einer Versteigerung in London kauft Larry Witten zwei mittelalterliche Manuskripte. Sie stammen beide aus der Sammlung von Thomas Ewart Marston. Marston selbst hat sie drei Jahre zuvor von Witten gekauft.

3. April 1962: Thomas Ewart Marston verkauft einen großen Teil seiner Sammlung an die Universitätsbibliothek Yale. Er selbst ist dort seit fast zehn Jahren als Kurator tätig. Ein Teil der verkauften Manuskripte stammt nachweislich aus der Bibliothek der Kathedrale La Seo in Saragossa.

12. Dezember 1962: Larry Witten organisiert bei Sotheby's in London eine Versteigerung von fünf mittelalterlichen Manuskripten aus Marstons Sammlung. Die dabei erzielten Preise sind außerordentlich hoch.«

»Warte!«, rief Amanda Hollis, »irgendwas willst du mir mit dieser Faktenhuberei doch sagen.«

»Und ob«, sagte die Stimme, »zum Beispiel könnte man zu dem Schluss kommen, dass die hohen Preise, die Marston mit seinen Manuskripten erzielt hat, kein Zufall, sondern Resultat einer ganz bestimmten Methode waren, die Witten und er über die Jahre hinweg perfektioniert haben und die im Kern darin besteht, Manuskripte von einem zum anderen zu schieben, das heißt sie zu verkaufen und dann wieder zurückzukaufen, wodurch es – rein preislich betrachtet – zu einer Aufwärtsspirale kommt, an deren Ende immer ein Dritter steht, der bereit ist, noch ein bisschen mehr zu bezahlen.«

»Verstehe«, sagte Amanda Hollis, die sich inzwischen sicher war, dass auch die Vinland-Map Teil dieses Ping-Pong-Spiels war, wobei sich noch immer die Frage stellte, ob es überhaupt jemand gab, der bereit war, für die Karte das Dreihundertfache des ursprünglichen Preises zu bezahlen, und wenn ja, wer derjenige war.

Aber vielleicht hatte die Stimme im Rohr ja eine Antwort auf diese Fragen. Nein, ganz sicher hatte sie sie. Also sagte Amanda Hollis (geradeheraus, denn das schien ihr unter den gegebenen Umständen das Beste):

»Erzähl mir ruhig noch ein bisschen mehr aus der Welt der Manuskripte-Versteigerer.«

Was die Stimme nur allzu gern tat.

»Nun, nach allem, was sich herausfinden ließ, hat Marston nicht nur mit Witten Geschäfte gemacht, sondern auch immer wieder dessen Partner Ferrajoli in Spanien kontaktiert, und zwar schon lange bevor der die Sause von Saragossa hat steigen lassen. Aber wie dem auch sei, fest steht, dass Marston über die Jahre zu einem der einflussreichsten Sammler geworden ist, weshalb die Schenkung des Spiegelgeschichts-Stücks an Wittens Frau für ihn auch keine große Sache gewesen sein dürfte. Und trotzdem ist da etwas, das seltsam anmutet, denn wenn das stimmt, dass Marston Wittens Frau die Spiegelgeschichte nur deshalb schenkt, um für Yale mehr Kontrolle über den Weiterverkauf der drei Manuskripte, besonders der Vinland-Map, zu erlangen, dann stellen sich ein paar Fragen.

Zum Beispiel, wie man durch eine Schenkung mehr Kontrolle erlangen kann? Indem man dadurch Abhängigkeiten erzeugt? Vielleicht sogar Druck? Aber wäre es für Marston nicht besser gewesen, das Spiegelgeschichts-Stück zu behalten, zumal er ja vorgab, eine passende Lücke in seiner Sammlung zu haben? Und hätte Witten ohne das Stück Spiegelgeschichte die Vinland-Map samt Tartar-Relation nicht viel eher verkauft, ja verkaufen müssen, da es die Spiegelgeschichte war, die überhaupt erst ihre Zusammengehörigkeit, um nicht zu sagen ihre Echtheit bestätigte? Und würde ein solcher Zwang zu verkaufen nicht auch automatisch den Preis drücken, den man in Yale für die Manuskripte hätte zahlen müssen? Anders gefragt: Lag das entscheidende Puzzleteil nicht vielmehr in Marstons Händen? Und hat nicht Witten selbst die Spiegelgeschichte als Schlüsselmanuskript bezeichnet, als er Marston anrief und ihm von den plötzlich übereinstimmenden Wurmlöchern erzählte? Und wenn ja, warum hat Marston sein Stück aus der Spiegelgeschichte dann verschenkt?«

»Stopp!«, rief Amanda Hollis, »das wird mir alles zu viel. Ich brauche Antworten, keine Fragen!«

Und weil wenigstens sie sich eine geben wollte, weil sie, gerade an Tagen wie diesem, einen Grund in diesen abgrundtiefen Papierwelten brauchte (und es mit Blick auf William Croswell und ihren vor Tinte triefenden Schoß auch das Naheliegendste war), sagte sie: »Die Verbindungen auf den Karten werden zu Verbindungen zwischen den Karten. Ich müsste alles zerschneiden, um einen Sinn in die Sache zu kriegen.«

Aber es gab keine Schere. Und selbst wenn, hätte sie außer nutzlosen Schnipseln nichts zustande gebracht. Außerdem hatte Amanda Hollis bereits nutzlose Schnipsel oben auf ihrem Tisch, da brauchte sie nicht noch welche hier unten in ihrem Schoß.

Was sie dazu brachte, die Sache wie folgt zusammenzufassen (stumm, in Gedanken, denn sie wollte nicht, dass das Rohr davon etwas hörte):

»William Croswell hat sich fünf Jahre Zeit genommen aufzuschreiben, was er aufschreiben sollte, aber aus irgendeinem Grund nicht aufschreiben wollte, und als er irgendwann nicht mehr umhinkam, etwas zu tun, schnitt er alles entzwei. Ich dagegen habe bisher kaum mehr als fünf Tage Zeit gehabt, zu hören, was ich hören soll, und auch wenn ich schon einiges aufgeschrieben habe, bin ich trotzdem kurz davor, alles zu zerschneiden.«

Was im Grunde nur eine Schlussfolgerung zuließ:

»Man muss warten können. Man muss sich Zeit nehmen in dieser Epoche der Kopiermonster und Kassatieranweisungen. Man muss sich Zeit nehmen, genauso wie sich William Croswell Zeit genommen hat.«

Also stand Amanda Hollis auf (in aller Seelenruhe), drehte sich ganz langsam um (als hätte sie zwei Seelen und doppelte Ruhe), sah auf der Stufe über sich ihre noch verbliebenen zwei Sloppy Joe-Sandwiches liegen (wie waren die denn hierher gekommen?), sah, dass sie nicht nur ausgewickelt, sondern auch durchlöchert waren (wer war denn da hindurchgekrochen?), dachte an die Würmer (Wurstbrotwürmer?), stopfte sich (egal) die Dinger im Doppelpack in den Mund und stieg (Mumpel, Mumpel) nach oben, zurück in ihr Reich.

XXXI

Zurück im Zimmer stellte sich Amanda Hollis vor ihren Tisch, betrachtete all das vergilbte Papier, die Bibliothekstagebücher, Briefe und sonstigen Akten, schaute dann rüber zur Schreibmaschine, sah, dass sie bis auf die eine kleine Katalogkarte (»KPD«) leer war, und sagte, zu der Remington oder sich selbst war nicht zu entscheiden: »William Croswell ist ein 914-teiliges Puzzle. Aber ich glaube, die entscheidenden Teile fehlen.«

Und dann, als ermesse sich der Wert eines Gleichnisses an den Realitäten: »Vielleicht bestand William Croswell ja mal aus eintausend Teilen, immerhin haben die meisten Puzzle auch eintausend Teile.«

Aber dann kamen auch hier die Fragen: »Ist es nicht meine Aufgabe, William Croswells Leben unabhängig seiner Teilchenzahl zu Ende zu bringen? Bin ich nicht dazu da, sein Dasein abzurunden, auch wenn die Zahl, aus der es besteht, alles andere als rund ist? Geht es nicht einfach nur darum, seiner trostlosen Existenz einen Sinn und Harvard einen weiteren Baustein für die eigene Größe zu geben?«

Was natürlich nur noch mehr Fragen nach sich zog.

»Hat William Croswell vielleicht deshalb seine Manuskripte zerschnitten? Weil er nicht rund gemacht werden wollte? Weil das schon andere zuvor mit ihm getan hatten? Wollte er womöglich gar nicht Teil der Ruhmeshalle sein? Wollte er es vielleicht sogar unter allen Umständen vermeiden, irgendwann einmal darin aufgenommen zu werden? Hat er seine Manuskripte deshalb zerschnitten und sich anschließend rauswerfen lassen?«

Und noch mehr, noch mehr, noch mehr …

»Was, wenn William Croswell ein Teil der Verschwörung ist, von der mir die Stimme berichtet?«

Und weil es ums Antwortgeben und nicht ums Fragenanhäufen ging: »Immerhin war William Croswell, genau wie diese isländischen Wikinger, ganz vorn mit dabei als es um das Kartographieren von Amerika ging, nur dass er nicht der erste war, der eine Karte von, sondern der erste, der eine Karte in Amerika gezeichnet hat, und dass seine nicht das Land, sondern den Himmel und die Sterne darstellte, und zwar von einem teuflischen Ende bis zum anderen.«

Aber das war noch lange nicht alles, denn während die Wikinger im Meer jenes Land entdeckt hatten, das jetzt groß und grün über dem Schreibtisch hing, fand Amanda Hollis in den Untiefen des Papiermeeres vor sich kurz darauf ebenfalls Land, denn kaum dass sie William Croswells Bibliothekstagebuch zur Seite gelegt und sich die Unterlagen zu seiner Himmelskarte noch mal zur Hand genommen hatte, erfuhr sie von einem Sternbild, das sie nicht kannte und auch gar nicht kennen konnte, denn es war längst nicht mehr in Gebrauch und selbst zu William Croswells Zeiten war es das kaum jemals gewesen, war lediglich ein ebenso obskurer wie zu spät gekommener Versuch der himmlischen Verklärung irdischer Taten, wie sie in den Jahrhunderten zuvor unter Sternguckern allgemein üblich waren.

Und doch, so verrückt und vergessen William Croswells Sternbild auch war, so unheimlich war es auch, denn es zeigte nichts anderes als – »die Büste des Kolumbus«.

Damit war es passiert oder vielmehr geschafft, war der Grund des Abgrunds erreicht und die Verbindung zwischen William Croswell und der Vinland-Map sichtbar geworden, war vor Amanda Hollis aufgetaucht wie Amerika dereinst vor den Augen eines Matrosen.

»Ich bin Rodrigo de Tirana, und Heath Cover Evil spielt den Kolumbus«, schoss es durch Amanda Hollis’ Kopf, »er wird all den Ruhm einstreichen, den eigentlich ich mir verdient habe.«

Aber da war noch mehr, viel mehr, denn jetzt, wo sich die Linien vereint hatten, begriff Amanda Hollis, dass es im Falle von William Croswell längst nicht nur um eine Bibliothek oder Harvard, sondern um ganz Amerika ging und dass die damit verbundene Verschwörung viel weiter ging, als sie bisher gedacht hatte, dass sie tief in Amerika wurzelte.

Das aber bedeutete, dass die Stimme im Rohr von Anfang an recht gehabt hatte. Amerika wurde schon seit Jahrhunderten bedroht, und alles, was sie über William Croswell herausgefunden hatte, machte das nur noch deutlicher und ließ aus der Vermutung eine Gewissheit werden. Auch hier reichte die Geschichte – und damit auch die Verschwörung – viel weiter zurück als nur bis ins Jahr 1760, dem Jahr, in dem William Croswell geboren worden war, und es war, nach allem, was sie inzwischen wusste, auch klar, dass sie nicht mit seinem Tod geendet hatte, sondern bis zum heutigen Tag weitergegangen war – und offenbar auch noch ein gutes Stück weitergehen sollte.

Mit anderen Worten: William Croswell mochte nur wie ein winzig kleiner Baustein in den heiligen Hallen von Harvard wirken, tatsächlich aber war es Harvard, das in William Croswells Geschichte und in der, die ihr die Stimme im Rohr erzählte, ein winzig kleiner Baustein war, um nicht zu sagen nur als Nebenschauplatz fungierte. Ja, im Grunde war es überhaupt gar kein Schauplatz, sondern ein Rückzugsort, die ideale Heimstätte für ein Versteckspiel zwischen Tausenden Büchern, das sich, selbst wenn es vorbei war, nicht entlarven ließ, sondern in Form eines Bibliothekskatalogs daherkommen würde – ein jahrelanges Ablenkungsmanöver, die Papier gewordene Tristesse, die perfekte Tarnung einer unterdessen immer weiter voranschreitenden Verschwörung.

So gesehen war es kein Wunder, dass Amanda Hollis in der Bibliotheksgeschichte von Harvard nichts über William Croswell finden konnte.

Jetzt aber, einhundertneunundzwanzig Jahre nach seinem Tod, war William Croswell dabei, sich zu verraten. Und sie, Amanda Hollis, würde diesen Umstand nutzen, um die dahinterliegende Geschichte zu entschlüsseln, so lange, bis all ihre Verbindungen aufgedeckt waren und sich das ganze Ausmaß der Verschwörung offenbarte.

Gewiss, sie hatte erst ein paar dutzend Schlagworte, Namen und Zahlen, doch war daraus schon eine Vielzahl von Verbindungen erwachsen, und deshalb war es auch kein Problem, sondern Teil der Lösung, wenn sie sich noch ein paar Fragen stellte, zumal die jetzt nicht mehr nur auf William Croswell und Harvard, sondern auch auf die Vinland-Map und damit ganz Amerika zielten, ja überhaupt jetzt erst darauf zielen konnten.

Amanda Hollis jedenfalls wusste, dass ihre Fragen die Grundlage aller späteren Antworten, und das heißt die Voraussetzung für die vollständige Entschlüsselung der Geschichte waren.

Mit anderen Worten: Waren das Zerfressen der Vinland-Map durch die Würmer und das Zerschneiden von Amerikas ureigenstem Bibliothekskatalog durch William Croswell nicht dasselbe? Zudem: Waren es hier wie da nicht alte, ehrwürdige Manuskripte, die zerstückelt worden waren? Und lief das, wenn auch vielleicht nur symbolisch (aber so fing es ja schließlich immer an), lief das nicht auf die Zerstörung der Geschichte hinaus? Auf die Zerstörung Amerikas, wie es einst war und immer noch ist? Oder ging es William Croswell (genau wie den Wikingern, nur wussten die’s nicht bzw. kannten’s nicht anders) weniger um Zerstörung als darum, die amerikanische Geschichte umzuschreiben? Schließlich gab es, wenn das, was ihr die Stimme im Rohr da erzählte, zutraf, gar keine andere Wahl, dann musste die amerikanische Geschichte umgeschrieben werden. Und zwar grundlegend. Und könnte es einen besseren Ort geben, um mit diesen Umschreibungen zu beginnen, als die älteste wissenschaftliche Bibliothek des Landes?

Amanda Hollis kannte die Antwort, auch wenn sie noch längst nicht alle Beweise besaß, um sie sich endgültig und das heißt: auf dem Papier zu geben. Und doch spürte sie, dass sie aus ihrem katalogkartengesättigten Schoß schon bald den Sinn der Geschichte entbinden würde. Denn eines stand zweifellos fest: Zwischen all den Punkten, den Übereinstimmungen und Parallelen, die sie sich bisher notiert hatte, gab es eine Verbindung, ein geheimes Zentrum, an dem alles zusammenlief – und das Zentrum dieser Verschwörung war Harvard.

Das aber, das wurde Amanda Hollis sofort klar, hieß, dass sie sich in einem entscheidenden Punkt korrigieren musste.

Ihre Annahme, Harvard sei nur ein Nebenschauplatz gewesen, mochte für William Croswell durchaus gelten und auch sonst eine gewisse Berechtigung haben, doch war es ebenso gut möglich, dass dieses Auftreten als Nebenschauplatz selbst Teil der Tarnung und Harvard schon damals das geheime Zentrum der Verschwörung gewesen war, und selbst wenn nicht, dann hatte es sich jetzt, einhundertneunundzwanzig Jahre nach William Croswells Tod, dahin entwickelt – mit einem Unterschied. Die Tarnung, die einst Teil der Verschwörung war, war jetzt Teil ihrer Aufklärung geworden.

Aber da war noch etwas anderes, eine weitere Korrektur – und die betraf sie selbst. Mochten die Informationen aus dem Rohr auch die Grundlage darstellen für das, was sie tat, und sie darüber hinaus an das gebunden sein, was in Form von Akten von William Croswell übrig geblieben war, so kam sie, Amanda Susan Marie Hollis, doch nicht umhin, sich einzugestehen, dass ein kleines Licht wie sie gerade dabei war, für Aufklärung in einer riesenhaften Verschwörung zu sorgen.

XXXII

An diesem Tag verließ Amanda Hollis um kurz vor 18:00 Uhr ihr Zimmer, lief hoch in die erste Etage, öffnete, mit einem Elan, den sie nicht kannte, die Eingangstür zur Untergrundbibliothek, drehte, während die Tür aufschwang, die Sache im Kopf um, sagte »Ausgangstür« – und stieg die Stufen hinauf, die sie am Morgen hinabgerutscht war.

Hinter der aufschwingenden Tür, in einer Ecke der Treppe, stand derweil Dick Walrus. Er hielt eine Schippe in den Händen, und seine Füße staken in einem großen Haufen Schnee.

Als er sah, wie Amanda Hollis aus der Tür trat, hielt er inne, bereute es aber schon bald, denn während er ihr dabei zuschaute, wie sie die Stufen hochstieg, drehte sie sich, oben angekommen, plötzlich zu ihm um und betrachtete ihn mit einem Blick, der ihm das Gefühl gab, als sei er ihr gefolgt, als wäre er zum Zwecke ihrer Beobachtung soeben dem Schneehaufen entstiegen – woraufhin er in selbigem zu verschwinden wünschte.

Allerdings war der Schneehaufen dafür zu klein (oder Dick Walrus zu groß), weshalb ihm nichts anderes übrig blieb, als verlegen zu lächeln und mit den Füßen zu stampfen, was, obwohl es so aussah, keine blödsinnige Reaktion und auch keine Notlösung, sondern die selbstgewählte Aufgabe des Hausmeisters war, schließlich ließ sich der Schnee besser aus dem Treppenloch schippen, wenn er zusammengepappt war, überdies ihn der Wind dann auch nicht wieder in selbiges zurückwehen konnte.

Aber Amanda Hollis sah das natürlich nicht. Sie sah lediglich Dick Walrus im Schneehaufen stehen und mit den Füßen stampfen – und musste an ein Rumpelstilzchen denken, das sich in der Zeit und im Raum geirrt hatte.

Aber was konnte sie tun? Es war seine Welt, sein Schneehaufen, sein verdammtes Problem.

Also ließ sie ihn gewähren, drehte sich um und trat in das überzuckerte Harvard, das vor ihr lag wie eine sinnlose Offenbarung.

XXXIII

Gegen Abend geschah etwas Sonderbares, denn obwohl es kälter wurde, fing der Schnee an, in Regen überzugehen, und bald schon war das überzuckerte Harvard von einer dicken Schicht Glasur überzogen, die Arme und Beine wie Hoffnungen brach und Köpfe verbeulte.

Amanda Hollis aber bekam davon nichts mit. Sie lag im Bett, schaute sich im Fernsehen eine Folge von Gunsmoke an und löffelte die Innereien eines halben Dutzends Sloppy Joes direkt aus der Schüssel.

Als Gunsmoke schließlich vorbei war, betrat Red Skelton die Bühne und lieferte, wie jeden Donnerstag, seine Show ab, diesmal musikalisch begleitet von einem Trio namens The Lettermen, das den Graduation Day besang – einen Tag, an den sich, so die drei singenden Briefträger, gewiss jeder gern erinnert, was im Falle von Amanda Hollis allerdings ebenso wenig stimmte wie die in der vierten Strophe angestimmte Ode an die Efeu bewachsenen Mauern, die nach Ansicht der drei Trällermen längst Vergangenheit waren und weit hinter ihnen lagen, derweil Amanda Hollis sie jeden Tag vor Augen hatte und dabei zusehen konnte, wie das Efeu von den Mauern hinab bis ins Erdreich wuchs.

Und doch waren die lyrischen Ungereimtheiten nicht der Grund für Amanda Hollis, den Löffel plötzlich zurück in die Schüssel fallen und den Mund offen stehen zu lassen, denn der wahre Grund war Lettermen-Song Nummer zwei, der If I had a Hammer hieß.

Normalerweise hätte Amanda Hollis dem Lied keine weitere Beachtung geschenkt, wäre ihr nicht, kaum dass es angestimmt worden war, jener Zeitungsartikel in den Kopf gekommen, den sie vor einigen Monaten gelesen hatte und in dem nicht nur die Geschichte von Dylans John Birch Society Blues nachgezeichnet worden, sondern auch ebenjener If I had a Hammer -Song genannt worden war.

Archivarin, die sie nun einmal war, hatte Amanda Hollis den Artikel ausgeschnitten und, fein säuberlich gefaltet, mit in die Hülle zu Dylans Platte gesteckt, weshalb es dann auch nicht lange dauerte und sie erfuhr, dass es sich bei If I had a Hammer um einen kommunistischen Protestsong handelte, der ursprünglich von den Weavers gesungen und auch aufgenommen, von der Plattenfirma der Band aber wegen seines angeblich umstürzlerischen Inhalts nicht veröffentlicht worden war, weshalb das Lied später bei einem kleinen Label als Single rauskommen sollte, aber auch dort nie erschien, denn das Label ging unter obskuren Umständen bankrott, und als es den Weavers schließlich doch noch gelang, If I had a Hammer auf eine Vinylscheibe zu pressen, ging die Plattenfirma, die das getan hatte, schon bald in Konkurs (oder wurde, so ließ der Autor durchblicken, in diesen getrieben), wodurch das Lied weiterhin unerreichbar blieb und seine eigentliche Karriere erst Jahre später begann, als Peter, Paul und Mary den Song aufnahmen und ihn am 28. August 1963 beim »Marsch auf Washington« spielten.

Jetzt aber war das Lied in Skeltons Show angekommen, und Amanda Hollis hatte das Gefühl, dass nicht nur das Lied, sondern die ganze Show kommunistisch unterwandert war, weshalb es auch keiner großen Dechiffrierkünste bedurfte, um zu erkennen, warum der Mann, der sie moderierte, mit bürgerlichem Namen zwar Richard Bernard Skelton hieß, sich aber immer nur Red Skelton nannte.

Aber da war noch mehr, denn es gab nicht nur die Kommunisten, ihre Lieder und Propagandisten, sondern auch die Vinland-Map, Amerika und seine Geschichte, und es war, nach allem, was Amanda Hollis wusste, kein Zufall, dass es auch hier einen Mann namens Skelton gab, über den sich – mit Blick auf die Vinland-Map – eine Verbindung ziehen ließ, die von den Bibliotheken in Harvard über England und das British Museum bis hin zu Kommunisten in der Sowjetunion reichte.

Allein, wie Amanda Hollis so vor ihrem Fernseher saß, mit aufgeklappten Zeitungsartikeln und Kiefern, sah sie, wie ihr plötzlich eine dicke rote Linie aus dem Mund wuchs, gleich einer langen, dünnen, fleischigen Wurst, die schwebend in Richtung des Bildschirmes wanderte, und alles, was Amanda Hollis tun konnte, war, nach dem Löffel zu greifen, den sie für ihre Sloppy Joes reserviert hatte, und damit nach dem Aus-Taster zu schlagen, den sie auch traf – und die wild wuchernde Wurst verschwand.

»Ich muss aufpassen«, dachte Amanda Hollis, »sonst werde ich noch verrückt«, sprach's und schüttelte den Kopf und löschte mit dem Löffel das Licht.

Da trat plötzlich William Croswell aus dem Dunkel zu ihr, tauchte einfach an ihrem Bettende auf, irgendwie farblos und so groß, dass Amanda Hollis keinen Rand zu erkennen vermochte. Vielleicht gab es aber auch gar keinen, vielleicht war das, was sie sah, noch nicht mal ein Bild, sondern nur der kleinste gemeinsame Nenner all ihrer bisherigen Eindrücke, eine besondere Art von Empfindung, übermäßig verdichtet in ihrem Inneren oder sonst irgendwo. William Croswell aber schaute sie an, schweigend, und es schien, als schüttele auch er seinen Kopf, so, als wolle er ihr zeigen, dass sie keine Angst haben musste, dass der Weg, den sie ging, der richtige war.

Dann glitt er wie auf Schienen zurück ins Dunkel, entschwand und verlöschte wie der Punkt auf dem frisch ausgeschalteten Fernsehgerät.

In dieser Nacht träumte Amanda Hollis, sie öffnete kleine hechtgraue Türen unter der Erde, dahinter Archivare stumm an ihren Tischen sitzen, die Lippen zusammengenäht, eine Welt voller verstohlener Blicke und winziger Stuben, in denen die Träume wie Regen verrieseln und einsickern ins Erdreich, tief unten in einem Loch, das ein andrer gegraben …

»Hat jemand William Croswell gesehen? Gibt es denn gar kein Bild von ihm?«

XXXIV

Am nächsten Morgen – es regnete noch immer und die Archivare rannen wie Wasser die Treppe hinab in den Bau der aktenkundig gemachten Geschichte – schaute Amanda Hollis nur kurz in ihr Zimmer, sah, dass Heath Cover Evil schon die dritte Nacht in Folge nicht dagewesen war, nahm ihre Katalogkarten, schnappte sich im Vorbeigehen noch ihren Füller und stieg hinab in das, was inzwischen ihr Leben war, auch wenn sie es nicht mehr bzw. noch nicht in allen Punkten verstand. Aber was machte das schon? Sie hatte etwas zu schreiben und drei Sloppy Joes. Genug, um der Stimme eine Weile zu lauschen und mit Hilfe ihrer Karten für Aufklärung zu sorgen.

»Also«, sagte Amanda Hollis als wäre das Rohr ein Freund, der nur ein Stichwort braucht, um zu erzählen.

»Du weißt noch, wo wir waren?«, fragte die Stimme und klang ziemlich vertraut.

»Du hast mir Fragen über die Vinland-Map gestellt«, sagte Amanda Hollis, »und erzählt, dass dieser Marston sein Stück Spiegelgeschichte verschenkt hat, obwohl es das entscheidende Teil war, um die Zusammengehörigkeit der drei Manuskripte zu beweisen. Aber du wusstest nicht, warum er das tat, und hast mir rhetorische Löcher in den Bauch gefragt.«

»Und, konntest du sie füllen?«

»Nein«, sagte Amanda Hollis, »ich habe nur meine Sloppy Joes.«

»Na dann«, sagte die Stimme, »wie wär's mit ein bisschen Musik. Das ist gut, wenn man allein und unten ist.«

»Ich bin nicht unten«, sagte Amanda Hollis, »und ich bin auch nicht allein.« Und dann, nach einer Sekunde oder zwei: »Du bist da.«

Aber die Stimme antwortete nicht. Stattdessen kam Musik aus dem Rohr. Bob Dylan sang wieder seinen John Birch Society Blues, doch hatte Amanda Hollis diesmal das Gefühl, als sänge er gar nicht über die Vereinigung dieses John Birch, die Amerika davor zu bewahren versuchte, von Kommunisten unterwandert zu werden, sondern über sie und davon, wie sie »most hurriedly« herabgestiegen war ins Archiv des Archivs, um der Stimme zu lauschen und den Fortgang der Geschichte zu hören, und auch wenn die Stimme jetzt schwieg, die Geschichte stockte und Bob Dylan spielte, so waren da noch immer die Akten, die hinter ihr in den großen, eisernen Schränken lagen und auf ihre Vernichtung warteten.

»I investigated all the books in the library. Ninety percent of ’em gotta be burned away«, sang Bob Dylan.

Aber Amanda Hollis ließ sich nicht irritieren, sie hatte schließlich schon ganz andere Dinge entschlüsselt. Die Sache hier war jedenfalls nichts als ein Ablenkungsmanöver, ein reichlich durchsichtiges noch dazu, eines, das sie auf sich selbst zurückwerfen und die großen Zusammenhänge und geheimen Verbindungen, von denen sie längst Kenntnis hatte, überlagern sollte.

Und Amanda Hollis wusste auch, warum: Das Lied, das ihr da vorgespielt wurde, war ein Test, ein Versuch, sich davon zu überzeugen, ob sie auch wirklich im Dienst der großen, ganz Amerika betreffenden Geschichte stand und nicht nur an ihrer eigenen, kleinen arbeitete, denn das war die Voraussetzung dafür, die Zusammenhänge zu erkennen und das wahre Ausmaß der Verschwörung zu erfassen.

»I fin’ly started thinkin’ straight«, rief Amanda Hollis, noch bevor Bob Dylan es tun konnte, stand auf und rannte über die Treppe nach oben.

XXXV

Oben angekommen, bettete Amanda Hollis ihren Kopf auf dem, was von William Croswell übrig geblieben war, in der Hoffnung, das Bild von gestern Nacht noch einmal zu sehen, doch tauchte nichts auf, noch nicht mal irgendein Schwarz, und alles, was ihr blieb, waren zwei sich nach innen öffnende Augen, die in ihrem Kopf ein schiefes Gleichnis erspähten.

»Ich ruhe auf William Croswells Resten, derweil William Croswell auf den Schultern von Giganten geschlafen hat.«

Aber das war natürlich kein Grund, die Phantastereien zu lassen, schließlich war William Croswell trotz seiner bibliothekarischen Faulheit ein Gelehrter gewesen und als solcher prädestiniert für ein Ölbild mit güldenem Rahmen.

Also nahm Amanda Hollis ihren Kopf von der Platte (bzw. vom plattgedrückten William Croswell), sah vor sich die Karte (Amerika!) und hinter sich, in Gedanken, die Remington stehen (warf die ihr nicht schon die ganze Zeit über scheeläugige Blicke zu?), drehte sich zu ihr um (ha!), stand auf (na warte!), ging zu ihr (die Tasten klapperten schon) und fragte (vorsichtig, denn man konnte nie wissen):

»Willst du mir vielleicht etwas sagen, Schreibmaschine?«

Aber die Remington wollte offenbar nicht.

Also fragte Amanda Hollis anders, direkter, geradeheraus.

»Hast du vielleicht ein Bild von William Croswell gesehen? In der Bibliothek, in der du vor ein paar Tagen noch standest?«

Die Remington aber sagte kein Wort.

Also spannte Amanda Hollis ein Blatt in die Walze, kramte zehn Cent aus der Tasche, steckte sie in den Schlitz, drehte sich um und schlug los. Rücklings. Blindlings. Mit beiden Händen auf einmal.

»dskbnigm«, sagte die Schreibmaschine.

»Verstehe«, sagte Amanda Hollis, die nicht das Geringste verstand, zurück zu ihrem Schreibtisch wackelte, sich hinsetzte und mit der Stirn drei Mal auf die Tischplatte schlug.

Als sie damit fertig war und sich wieder aufrichtete, war Amerika vor ihr verschwunden, und es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass ein Stück von William Croswell an ihrer Stirn klebte und ihr die Sicht auf die Karte versperrte.

»Diese verdammte schwitzende Stirn«, sagte Amanda Hollis und zog sich das Papier von der Haut.

Drei Stunden und eine Vielzahl von Formulierungsversuchen später war es Zeit für die Mittagspause, doch ging Amanda Hollis diesmal nicht runter in den Keller, sondern lief, statt einer Etage hinab, eine hinauf, schaute sich um, sah, dass alle zum Essen gegangen waren – und pinnte ein Blatt Papier an das schwarze Brett der Untergrundbibliothek.

Suche: Ein Bild von William Croswell (1760–1834).

William ist 5'8'' groß, hat graues Haar, helle Haut und dunkle Augen.

Er war Buchtitelkatalogisierer hier in Harvard.

Wer hat ihn gesehen?

Bitte anrufen: 625-8914

Bin für jeden Hinweis dank

Sie wusste, dass sie keinen Erfolg haben würde. Das schwarze Brett war an allen Ecken und Enden von Papier überwuchert. Es sah aus wie ein wild gewordenes Archiv.

XXXVI

Die folgende Stunde verbrachte Amanda Hollis damit, sich das, was sie in den vergangenen Tagen auf ihre Karten geschrieben hatte, noch einmal anzuschauen und eine Art Inventur des bisher Notierten zu machen, doch fügten sich, auch wenn sie eine erste Ordnung erstellt und alle Informationen sortiert hatte, die Ereignisse und Orte, die Namen und Zahlen, trotz aller Verbindungen noch zu keinem Ganzen, ergaben kein Bild, woraufhin Amanda Hollis anfing, die Karten zu mischen, um sie in anderer Reihenfolge zu lesen, in der Hoffnung, auf diese Weise neue Hinweise zu bekommen.

Aber es gab keine, nur ein Gefühl, dass das eine Möglichkeit wäre, die noch nicht ausgereizt war, doch lag das gewiss daran, dass ihr die Stimme im Rohr noch nicht alles erzählt hatte, dass ihr Register noch lange nicht vollständig war.

Andererseits, vielleicht hatte die Stimme ja gar nicht vor, ihr alles zu erzählen, zumindest nicht einfach so. Vielleicht wollte sie ja, dass sie, Amanda Hollis, auch etwas tat, etwas, das über das bloße Zuhören und Nachfragen hinausging.

Also stieg sie hinab in den Keller, um ihr Register weiter zu füllen – und der Stimme mitzuteilen, was sie bereits wusste.

Es war an der Zeit, ein paar Verbindungen deutlich zu machen und Linien zu ziehen, das heißt sie nachzuzeichnen, um weiterzukommen.

»Hör zu, ich habe nachgedacht«, rief Amanda Hollis, während sie die Treppe herabgeeilt kam, »wir haben Ferrajoli, also haben wir auch einen Faschisten. Und wir haben Bob Dylan, also müssen wir auch Kommunisten haben.«

»Dylan ist kein Kommunist«, sagte die Stimme. Sie tat es ganz ruhig, in jenem Ton, in dem man Gewissheiten äußert.

»Das sehen manche Leute aber anders«, erwiderte Amanda Hollis, die sich nicht beirren lassen wollte und, statt sich zu setzen, auf der untersten Stufe stehen blieb, »es ist schließlich kein Zufall und im Übrigen auch allgemein bekannt, dass sogar die Kommunistische Partei Bob Dylan mag.«

»Die Kommunisten mögen jeden, der ihnen dienlich ist«, sagte die Stimme fast beiläufig, »nur leider haben die Funktionäre in diesem Fall vergessen, dass Mr. Dylan die Sache nicht anders handhabt als sie.«

»Du meinst, Dylan benutzt die Kommunisten, um Karriere zu machen?«

»Ich meine, Mr. Dylan interessiert sich nicht sonderlich für die Kommunisten, höchstens für Miss Susan Rotolo.«

»Die auf dem Cover von Freehweelin’

»Genau die. Miss Rotolo ist zwar politisch überaus aktiv und ihre Eltern Mitglieder der hiesigen Kommunistischen Partei, doch macht das aus Mr. Dylan nicht zwangsläufig einen Kommunisten. Man könnte auch sagen, es macht überhaupt keinen aus ihm.«

»Im John Birch Society Blues singt er trotzdem von welchen.«

»Er singt von der Paranoia, die sie hier in Amerika wegen der Roten haben.«

»Und wenn schon«, erwiderte Amanda Hollis, die weder auf-noch klein beigeben wollte, »das Lied hätte nie und nimmer gespielt werden dürfen. Es war ein Hinweis, dass die Kommunisten hinter der Sache stecken.«

»Hinter welcher Sache?«, fragte die Stimme.

»Der ganzen«, sagte Amanda Hollis. Und weil das vielleicht doch ein wenig allgemein gehalten und für jemand anderen als sie nicht zu entschlüsseln war: »Vinland ist eine Erfindung der Kommunisten!«

»Aha«, sagte die Stimme, die eigentlich »Oh« sagen wollte.

»Ja«, sagte Amanda Hollis, »die Kommunisten haben die Vinland-Map erschaffen, um die amerikanische Geschichte zu fälschen.«

»Interessante Theorie«, sagte die Stimme.

»Ja, aber noch längst nicht alles«, sagte Amanda Hollis, »die Kommis haben es sogar geschafft, ihre roten Lieder ins Fernsehen zu schmuggeln und Red Skelton auf Linie zu bringen.«

»Red Skelton ist Kommunist?«»Kommunist und offensichtlich auch in die Sache mit der Vinland-Map verstrickt.«»Oh«, sagte die Stimme, die eigentlich »Aha« sagen wollte.»Ja, aber damit noch nicht genug. Die Roten haben es auch hinbekommen, den John Birch Society Blues auf Platte zu pressen, obwohl es den gar nicht auf Platte gibt.«»Stopp!«, sagte die Stimme, »der John Birch Society Blues war ursprünglich auf Dylans Freewheelin’ mit drauf. Die Bosse von seiner Plattenfirma haben den Song aber wieder runtergenommen und eine neue Scheibe pressen lassen, als klar war, dass er mit dem Lied nicht im Fernsehen auftreten durfte. Allerdings waren zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Vorabexemplare der Platte verschickt, und nicht alle, die sie zurückbeordert haben, sind auch zurückgekommen …«

Und dann, nach einem Vibrieren, das zweifellos von der vorletzten Stufe herrührte: »Ich nehme an, wir können jetzt fortfahren.«

»Morgen«, sagte Amanda Hollis, »ich fühle mich heute nicht gut.«

XXXVII

Zurück in ihrem Zimmer, streunte Amanda Hollis rüber zur Remington, sah die Katalogkarte, die sie aus der Maschine genommen hatte, um ihr Gesuch bezüglich des Bildes von William Croswell zu schreiben, las – noch einmal – »KPD«, dechiffrierte, weil's nahe lag, »Kommunisten, Plattenleute und Dylan« und dann, weil's nur scheinbar weit weg, tatsächlich aber ebenso Teil dieser Geschichte war, »Katalogkarten, Pergamentschinken und Dreifachwurmlöcher«, hatte das Gefühl, dass das zwei Stränge waren, die noch verbunden werden mussten, schlurfte, weil die Woche kräftezehrend, ihr im Augenblick alles zu viel und außerdem Freitag war, rüber zu William Croswell, sagte »Gute Nacht« und löschte das Licht, um zum Arzt zu gehen und sich – Migräne, na klar – für den Rest des Tages krankschreiben zu lassen.

XXXVIII

Amanda Hollis verbrachte das Wochenende im Bett, vergnügte sich mit einem Dutzend Sloppy Joes, sah fern, vergaß zu duschen und dachte auch sonst an nichts, und als sie am Montag zurückkehrte, fand sie ihren Aushang in der Bibliothek mit Papier überschüttet.

Einen Moment lang überlegte sie, ihr Blatt wieder obendrauf zu kleben, aber dann sah sie Dick Walrus am Ende des Flures stehen. Die Hände tief im Unterholz des Zettelwaldes, riss er sämtliche Aushänge ab und schwärzte das Brett. Es war sein Auftrag. Es war ihm egal. Hinter ihm scharrten die Studenten bereits mit den Füßen, in ihren Händen neues Papier.

»Das schwarze Brett ist ein Palimpsest«, dachte Amanda Hollis, »aber sein Text ist immer derselbe.«

Dann drehte sie sich um und verschwand in ihrem Zimmer.

William Croswell und die Remington warteten bereits auf sie.

»Hör mal«, sagte Amanda Hollis zu der Maschine, kaum dass sie eingetreten war, »zehn Cent für ein paar gescheite Schlagworte zu William Croswells Leben, was denkst du?«, und warf auch schon das Geld in den Kasten, spannte eine Katalogkarte in die Walze und setzte sich.

Die Remington aber dachte gar nicht daran. Sie hatte sich in den letzten Jahren schon genug gescheiter Worte entschlagen.

Also nahm Amanda Hollis ihre Hände, schüttelte die Finger über den Tasten aus und kleidete die Lockerungsübung ins Gewand einer geheimen Zeremonie. Aber dann war es doch nur eine Profanität, die ihr entfuhr.

»Wusstest du eigentlich, dass William Croswell unserem ehemaligen Präsidenten John Quincy Adams vorgeschlagen hat, Fünfzehn-und Zwanzig-Cent-Münzen zu prägen?«

Die Remington wusste es nicht.

Amanda Hollis schlug trotzdem los.

»bar«, sagte die Remington.

»Diese verdammten schwitzenden Finger!«, rief Amanda Hollis und tränkte sie unter ihrem Hintern im Sitzpolster aus.

William Croswell schwieg.

Die Karte schnarrte aus der Walze.

Amanda Hollis ließ sich nicht beirren.

Die Remington hörte wohl oder übel zu.

»Weißt du, William Croswell hat auch oft vergeblich zu schreiben versucht. Bis auf zwei Ausnahmen sind all seine Bücher ungedruckt geblieben, weil sich die Subskribenten an einer Hand abzählen ließen – und manchmal auch an gar keiner. Am schlimmsten hat es seine Sammlung der bewährtesten bibliografischen Systeme erwischt. Vierhundert Vorbestellungen waren nötig, um das Buch zu drucken, und nach allem, was ich weiß, gab es nicht eine einzige. Und wenn er es dann mal auf eigene Faust versucht hat, wurde es garantiert ein Desaster. Von seinen Tabellen zur leichten Berechnung des Längengrades durch Mondbeobachtung hat er keine zehn Exemplare verkauft. Und seine Neuausgabe der Werke des Horaz wollten lediglich zwei Freunde von ihm lesen. Fast schon ein Glück, dass das Buch dann gar nicht erst erschienen ist.«

Die Remington schwieg.

Amanda Hollis schwitzte.

Die Katalogkarte schnarchte.

William Croswell schäumte.

XXXIX

Der Rest des Tages bestand aus Migräneanfällen, die in derart kurzen Abständen kamen und so schmerzhaft waren, dass Amanda Hollis es nicht einmal schaffte, hinab in den Keller zu gehen, um der Geschichte zu lauschen. Sogar ihre Sloppy Joes blieben an diesem Tag unangetastet, und als Dick Walrus um Punkt 18 Uhr eine Gestalt aus dem Betonbunker kriechen sah, hatte er das Gefühl, dass all das Papier die Menschen dort unten erdrückte.

XL

In dieser Nacht träumte Amanda Hollis ein weiteres Mal von den Archivaren, die in ihren Papierstuben saßen, doch standen die hechtgrauen Türen diesmal alle sperrangelweit offen, und als sie an ihnen vorbei in ihr Zimmer lief, flankten ihr von links und rechts Blicke entgegen und sammelten sich in Form neugieriger Augen im Flur.

Amanda Hollis aber schenkte ihnen keine Beachtung und lief unbeirrt weiter, doch sah sie, just in dem Augenblick, als sie ihr Zimmer betrat, am Ende des Flures Dick Walrus auftauchen.

Er kehrte mit seiner Schippe die herumliegenden Augen zusammen und warf sie ihr direkt vor die Tür.

Drinnen, auf Amanda Hollisʼ Tisch, lag derweil ein großes Stück Papier quer über den Croswellschen Akten, schwarz und dick wie Karton, darauf mit weißer Farbe geschrieben: »V. i ei F! Haha!«

Erst las sie »V. ist eine Fälschung«, aber dann wurde ihr klar, dass V. für Vinland stand und dass damit nur die Karte gemeint sein konnte.

Nein«, sagte Amanda Hollis und nahm das Kartonagepapier, um es wegzuwerfen, aber der Papierkorb unter ihrem Tisch war nicht mehr da. Sie suchte ihn, fand ihn schließlich hinter sich an der Wand hängend, hoch oben, wie ein Basketballkorb, und als sie das Papier hineinwarf, öffnete sich über ihr die Decke, wurde einfach zur Seite geschoben wie einst die ihre in Drexel, und Amanda Hollis sah Heath Cover Evil, der an seinem Schreibtisch saß, und auf der Tischplatte lagen seine Finger wie gebrochene Zweige.

Dann stand er auf und durchstieß mit seinem Schädel das Wolkengebälk, derweil sich die Decke über Amanda Hollis wieder schloss, sich zurückschob und draußen im Flur jemand Augen durchs Schlüsselloch zu pressen begann, eins nach dem anderen, so lange, bis sie auf der anderen Seite herausglitschten und auf dem Boden ihres Zimmers wie Wasserbomben zerplatzten, und Amanda Hollis stand regungslos da und sah, wie sich das vieläugige Rinnsal zu ihr schob, näher und näher kam, und immer mehr Augen ploppten aus dem Schlüsselloch und zerbarsten auf dem betonharten Boden, und hinter ihr, in dem Papierkorb, Heath Cover Evil zu Füßen, lag noch immer das dicke, schwarze Kartonagepapier, und alles war falsch und das zusammengeknüllte Schriftstück nur ein Symbol, denn der Allmächtige, oh Gott!, war aufs Weltall getreten.

XLI

Amanda Hollis erwachte mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmte, und als sie aus dem Fenster sah, wurde ihr klar, dass der Regen über Nacht in Schnee übergegangen war und dass er nur deshalb nicht weiter vom Himmel fiel, weil bereits alles unten lag.

Aber das war nicht weiter schlimm, um nicht zu sagen fast schon ein Glück, denn während sie an wetterwendischen Tagen für gewöhnlich nicht wusste, ob sie sich etwas über den Kopf stülpen oder unter die Schuhe kleben sollte, war diesmal die Sache klar, und als Amanda Hollis aus dem Haus trat, spürte sie bereits beim ersten Schritt die eisige Glasur unter dem Schnee – und war froh, ihre Ice Guards an den Sohlen zu wissen, jene kleinen Metallteile, die das Ausrutschen verhinderten und ihr zugleich Hoffnung auf ein romantisches Rendezvous machten.

Und warum auch nicht, immerhin hatte sie die kleinen, praktischen Helfer erst kürzlich gekauft, nachdem sie einen Bericht darüber in einer Ausgabe des Postal Record gelesen hatte, ebenjener Zeitschrift der Nationalen Briefträgergewerkschaft, die ihre Mitglieder nicht nur über ihre Rechte gegenüber dem Arbeitgeber informierte, sondern auch gegen den Unbill des Winters abzusichern versuchte, und die sie, Amanda Hollis, seit siebeneinhalb Jahren monatlich kostenlos zugestellt bekam, was, nach allem, was sie herausgefunden hatte, daran lag, dass ein gewisser Trimteed Vandal vor ihr in der Wohnung gelebt hatte, der Briefträger war.

Allerdings hatte er es bei seinem Umzug nicht nur versäumt, seinen Namen vom Briefkasten zu entfernen, sondern es offenbar auch nicht geschafft, seiner Gewerkschaft seine neue Adresse mitzuteilen – und nachdem sich Amanda Hollis anfangs noch gefragt hatte, ob das, was sie tat, rechtens war, sah sie inzwischen keinen Grund mehr darin, irgendetwas an diesem Zustand, an dieser auf permanente Gegenwart gestellten Geschichte zu ändern.

Im Gegenteil, sie hoffte darauf, dass Trimteed Vandal – das Gesicht vom Wetter gegerbt und die Taschen mit der neuen Sondermarke für den Schutzheiligen der Bibliotheken, Andrew Carnegie, gefüllt – eines Tages persönlich vor ihrer Tür stehen würde, um seine inzwischen vierundneunzig Ausgaben von The Postal Record abzuholen – und vielleicht noch ein bisschen mehr.

An diesem Morgen aber war bis auf ein paar Schneemänner niemand zu sehen, und als Amanda Hollis eine halbe Stunde, nachdem sie das Haus verlassen hatte, vor der Treppe stand, auf der sie vor ein paar Tagen ausgerutscht war, wünschte sie, sie hätte sich nicht nur die Ice Guards unter die Füße geschnallt, sondern auch etwas über den Kopf gestülpt oder wenigstens einen Schirm bei sich gehabt, denn kaum dass sie die Stufen vorsichtig hinabzusteigen begann, sah sie von unten her etwas auf sich zuschießen, etwas, das die Größe und Form von Gehwegplatten hatte …

Es war Dick Walrus, der wieder mal Schnee aus dem Treppenloch schippte.

Als er Amanda Hollis sah, hielt er sogleich inne, doch bedachte sie ihn mit einem Blick, der ihm das Gefühl gab, als habe er nur darauf gewartet, ihr ein paar kiloschwere Schneewegplatten vor die Füße knallen zu können, und ein oder zwei vielleicht sogar noch darauf.

Also nahm er seine Schippe, rammte sie, als sei das Loch, in dem er stand, eine fremde Insel und er ihr Eroberer, in den Schneehaufen neben sich und stapfte zur Tür, um sie zu öffnen und Amanda Hollis eintreten zu lassen. Und während Amanda Hollis wortlos im Innern verschwand und Dick Walrus die Tür wieder schloss, sah er plötzlich Schmelzwasser an den Betonwänden der Bibliothek herablaufen – und hatte das Gefühl, tatsächlich auf einer Insel zu sein, und sie, Amanda Hollis, war seine Königin. Für sie hatte er das Eiland erobert, hatte es ihr zu Füßen gelegt und um Inbesitznahme gebeten. Und sie war seiner Einladung gefolgt.

XLII

Im Archiv des Archivs war es kühl, und Amanda Hollis genoss die Schritte hinab in die Tiefe. Ihre schweißnassen Hände waren fast trocken, und die Stimme schien ihr die überstürzte Abreise nicht krummgenommen zu haben. Sie fuhr einfach an der Stelle fort, an der sie aufgehört hatten. Amanda Hollis musste nicht einmal ihren »Wo waren wir stehengeblieben?«-Spruch aufsagen.

»Nun, wie wir gesehen haben, gab es zwischen Witten und Marston eine ganze Reihe von Verbindungen«, sagte die Stimme, »und so, wie sich andere Leute Blumen schenken, schenkt man sich in deren Kreisen gut abgehangene Pergamentschinken zu 75 Pfund Sterling das Stück. Für jemand wie Marston finanziell gewiss kein Problem, doch war im Fall des verschenkten Stücks Spiegelgeschichte der Wert wesentlich höher, um nicht zu sagen kaum zu ermessen, weshalb wir uns gefragt hatten, warum Marston es überhaupt verschenkt hat, wo er doch mit ihm viel bessere Karten gehabt hätte. Aber wir hatten darauf keine Antwort gefunden.«

»Aber jetzt hast du eine?«

»Nein, wie kommst du denn darauf?«, fragte die Stimme.

»Du hattest vier Tage Zeit, darüber nachzudenken«, sagte Amanda Hollis.

»Aber ich habe nur eine Nacht drüber geschlafen«, kam's als Antwort zurück.

»Warum?«

»Weil du gesagt hast, dass du am nächsten Tag wiederkommst.«

»Und?«

»Du bist nicht gekommen.«

»Es war Wochenende.«

»Und gestern?«

»War Montag, und mir ging es nicht gut.«

»Und jetzt?«

»Ist Dienstag. Und ich weiß nicht weiter.«

»Mittwoch«, sagte die Stimme im Rohr, »Mittwoch ist eine Option.«

»Ja«, sagte Amanda Hollis, stand auf und ging.

XLIII

Am Mittwoch, den 8. Oktober 1817, meldete William Croswell Vollzug. Sämtliche Manuskripte waren zerschnitten. Amanda Hollis suchte in ihrem Register nach einem passenden Schlagwort, fand aber keins.

Also stieg sie am nächsten Tag hinab in den Keller, um den Fortgang der Geschichte zu hören. Aber die Stimme sagte kein Wort, und weil sie auch auf Nachfragen nicht reagierte, legte Amanda Hollis ihr Ohr auf das Rohr. Es war warm und sein Innerstes voller kleiner Gluckser, und sie stellte es sich wie einen Schwarm Luftblasen vor, die aus dem Mund eines Tauchers an die Wasseroberfläche steigen. Nur dass sie in diesem Fall waagerecht liefen.

»Die Gluckser im Rohr sind die Sandkörner eines Stundenglases«, dachte Amanda Hollis, »ich fange sie mit meinem Ohr und lasse sie frei.«

Dann ging sie zurück in ihr Zimmer und versuchte sich für den Rest des Tages vergeblich ein Bild von William Croswell zu machen.

XLIV

Als Amanda Hollis um kurz nach halb sieben die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, klingelte bereits das Telefon. Wer um alles in der Welt konnte das sein? Vielleicht, so überlegte sie, war es ja Larry Witten. Aber sie hatte kein Manuskript bestellt und ihm auch keins gegeben. Außerdem gehörte ihre Telefonnummer nicht gerade zu jenen, die sich die Händler alter Bücher auf ihre Rolodex-Karten schrieben.

Was aber, wenn es Trimteed Vandal war? Immerhin hatte sie seine Zeitschrift zwar nicht bestellt, dafür aber behalten. Und ihre Telefonnummer hatte er auch, schließlich war es mal die seine gewesen. Aber selbst wenn, woher wusste er, wann sie nach Hause kam?

Amanda Hollis schloss die Tür leise hinter sich zu (wer weiß, vielleicht konnte man sie am anderen Ende der Leitung ja hören), schälte sich geräuschlos aus ihrer Jacke (man konnte nie wissen) und ging ran.

Am Apparat war ein junger Mann. Er hatte noch nie von einem Trimteed Vandal gehört, aber dafür ein Bild von William Croswell gefunden.

Amanda Hollis fiepte ein »Oh!« in den Hörer, schickte eine Handvoll unsinniger Schlagworte hinterher, sagte schließlich »Ja!« und legte auf. Morgen würden sie sich treffen.

XLV

Er war sehr weiß, sehr adrett, hatte einen sehr französisch klingenden Namen und studierte Kunstgeschichte. Er hatte das Bild in einem Laden gesehen, der, wie er sagte, von unten bis oben mit altem Zeug vollgestellt war, sich an den Aushang erinnert und es gekauft.

Es war ein etwas öliger Schinken, aber das mochte auch an William Croswell liegen. Sein Gesicht war groß und rund, und darin lagen die braunen Augen wie Rosinen in zähflüssigem Teig.

»William Croswell sieht aus, als hätte ihn seine Mutter aus Schmalz ausgebacken«, dachte Amanda Hollis. Aber das war ihr im Grunde egal. William Croswells Haar war grau, genau wie beschrieben, doch hatte sich der Schädel bereits bis auf die Ränder gekahlt, und Amanda Hollis dachte, dass fleischfarben die bessere Beschreibung gewesen wäre. Aber was machte das schon. William Croswell stand endlich in seiner ganzen Pracht vor ihr. Er war ein einziger großer Batzen Behaglichkeit.

»Und sie haben zehn Dollar dafür bezahlt?«, fragte Amanda Hollis.

»Das habe ich«, sagte der Student mit dem französisch klingenden Namen.

»Ich gebe ihnen elf.«

»Aber …«

»Kein Aber, sonst kriegen Sie zwölf.«

»Aber …«

»Na gut, zwölf – aber keinen mehr.«

Das war Amanda Hollis' kompletter Tageslohn.

Das war es ihr wert.

Sie würde nie wieder einen einzigen Cent in die Remington stecken.

Zwei Tage später stieß Amanda Hollis bei ihrer Suche nach Hinweisen für den Verbleib des Leuchters in Drexel in der National Encyclopedia unter dem Buchstaben »D« auf das Bild, das sie sich gekauft und übers Bett gehangen hatte. Die dazugehörige Inschrift lautete: »William Croswell Doane. Erster Bischof von Albany. 1832–1913.«

Amanda Hollis kroch aus der Bibliothek, fuhr nach Hause, nahm das Bild von der Wand, schlang ihre Arme um William Croswells öligen Kopf und sah, beim Versuch, ihm etwas ins Ohr zu flüstern, dass der Vatersname abgekratzt und überlackiert war.

XLVI

Am darauffolgenden Montag – Schneeregen suppte seit Stunden hernieder und tauchte ganz Harvard in weißgrau-flüssiges Licht – wurde Amanda Hollis wie eine in dicke Milch fallende Praline vom Archivbau geschluckt. Die Brandrede, die sie kurz darauf ihrem Zimmer hielt, war allerdings nicht dem Wetter geschuldet und hatte auch sonst keinen Adressaten.

»Schluss machen, das müsste man können! Schluss machen mit diesen verdammten Gelehrten, diesem verdammten Harvard, dieser ganzen verdammten Universität, in der sie die Archivare für eine niedere Spezies halten und die Bibliothekare bis aufs Blut reizen, heute genauso wie zu William Croswells Zeiten, wo die Studenten die Kaputtheit ihrer Gehirne auch schon mit Kindereien zu überspielen versuchen. Diese verdammten Studenten und dieses verdammte Harvard, vereint in einer verdammten Bibliothek, in der die Türen nie aufgehört haben zu knarren und der feinfühlige William Croswell wieder und wieder an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben wurde.

Er, der einst ein nichts und niemanden fürchtender Projektmacher war, ist in Harvard von Tag zu Tag empfindlicher geworden und hat sich irgendwann sogar an den Verkäufern des Fruchtmarktes und den Signallauten der Fischer gestört, um von den in Harvard üblichen Schießereien zu schweigen. Oh William Croswell, was ist nur aus dir geworden?! Und was aus mir?! Ich sitze in einer Untergrundbibliothek, gilbe vor mich hin wie altes Papier und gehe dabei aus der Form wie ein nass gewordenes Buch. In ein paar Jahren werde ich mich frühmorgens die Stufen hinab in die Erde schleppen und auf meinen Stuhl plumpsen wie ein großer Klumpen übertriebene Gemütlichkeit, und nachmittags werde ich zurück an die Oberfläche kraxeln, als sei es Mount McKinley. Oh William Croswell, über mir sind die Menschen frei und wachsen in die ungesündesten Höhen, aber hier unten ist alles eng und vollgestellt, und bald schon werden sie das Archiv des Archivs zum Archiv umfunktionieren, bei all dem Papier, das sie da oben produzieren.«

»Ja«, sagte Dick Walrus, der hereingekommen war, um ein neues Regal aufzubauen, »es ist wirklich eine Menge.«

Amanda Hollis verstummte, biss in einen ihrer Sloppy Joes und schwieg.

Dick Walrus schraubte derweil eine Handvoll Bretter zusammen, als müsse er sie davor bewahren, direkt vor Ort zu Papier verarbeitet zu werden.

Als er fertig und wieder gegangen war, wendete sich Amanda Hollis – in Ermangelung eines Gesprächspartners und weil die Gedanken heraus mussten – der Remington zu.

»Hör zu, es gibt zwei William Croswells, aber ich krieg' nicht mal mehr einen zusammen. Verstehst du? Ich hatte immer nur Worte. Sie waren alle richtig, schlagend, nenn's, wie du willst. Aber es gab nie ein Gefühl. Und jetzt, jetzt habe ich ein Bild, aber es ist das falsche, nur gibt es mir ein Gefühl. Was also soll ich deiner Meinung nach tun?«, sprach’s und warf zehn Cent in die Remington, die sich ihren Ruhestand irgendwie anders vorgestellt hatte.

Ihre Antwort las sich wie folgt:

»Was ist eigentlich aus dem Kronleuchter in Drexel geworden?«

»Nicht du auch noch!«, rief Amanda Hollis, stand auf und ging.

Keine zwei Minuten später klebte die Frage ganz oben auf dem wilden Archiv.

XLVII

Als Amanda Hollis um Punkt neun hinab in den Keller stieg, fiel ihr auf, dass sie fast eine Woche lang nicht unten gewesen war.

»Wo bist du gewesen?«, fragte die Stimme, der das offenbar auch aufgefallen war.

»Ich habe gebeichtet«, sagte Amanda Hollis.

»Die ganze Zeit?«

»Ja«, sagte Amanda Hollis, »er war Bischof, und ich hatte ihm viel zu erzählen.«

Aber dann öffnete ihr die Lüge die Augen, und das Ausgesprochene wurde zur Eingebung.

»Es gibt einen Bischof, der William Croswell heißt, aber nicht der William Croswell ist, den ich meine, und es gibt einen Bischof, der sich Jean de Hautfune nannte, aber offenbar nicht jener Johannes von Hautfuney ist, von dem die Stimme erzählt hat. Dazwischen aber stehe ich und irgendeine Spiegelgeschichte und dazu noch zwei Männer, die Schlagworte geschrieben und die Register innerhalb und außerhalb ihrer Bücher erweitert haben, und zwar so sehr, dass sie beim einen ins Unübersichtliche und beim anderen ins Unendliche gewachsen sind.«

Und dann: »Das hat doch was zu bedeuten! Nur was? Was?!«

Amanda Hollis wusste es nicht, aber vielleicht konnte ihr die Stimme ja helfen.

Und siehe da, die konnte anscheinend Gedanken lesen:

»Du bist gekommen, um zu sehen, ob ich inzwischen eine Antwort auf die Fragen zur Spiegelgeschichte und der Vinland-Map habe«, sagte die Stimme.

»Nein«, log Amanda Hollis nun schon zum zweiten Mal, »die Geschichte ist mir egal. Aber du kannst sie mir trotzdem weitererzählen.«

Und dann, weil die Stimme schwieg und Amanda Hollis befürchtet, es mit der Schwindelei übertrieben und den verschlungen vor ihr liegenden roten Faden weggelogen zu haben: »Wo waren wir stehengeblieben?«

»Nun, wenn wir die Fragen wegrechnen, dann sind wir noch immer bei der Betrachtung der Tatsache, dass Thomas Marston nicht nur mit Larry Witten, sondern auch mit Enzo Ferrajoli Geschäfte gemacht hat. Allerdings, und das dürfte dir neu sein, ist Marston nach Ferrajolis Verhaftung ein wenig vorsichtiger geworden. Zumindest hat er in den letzten Jahren an einigen seiner Manuskripte kleinere, nun ja, sagen wir Reparaturen vorgenommen.«

»Was soll das heißen?«, fragte Amanda Hollis.

»Das heißt, dass Marston ein paar Besitznachweise entfernt hat.«

»Du meinst, er hat es wie Ferrajoli gemacht und die dazugehörigen Katalogzettel vernichtet?«

»Nicht ganz. Es gibt in diesem Fall nämlich keine Katalogzettel. Bei mittelalterlichen Pergamenten ist die Kopie ein Teil des Originals.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Amanda Hollis, die sich auf halbkopierte Originale keinen Reim machen konnte, »ich fürchte, das musst du mir erklären.«

»Gut, ich will dir ein Beispiel geben«, sagte die Stimme und exemplifizierte fröhlich drauflos. »Es gibt da einen Codex aus dem 13. Jahrhundert, der 1959 mit Hilfe der üblichen Verdächtigen, das heißt via Ferrajoli, Rauch und Witten, in die Hände von Marston gelangt ist. Dass der Codex aus dem Diebstahl von Saragossa stammt, ist allen Beteiligten klar, doch ist Marston der Ansicht, dass es besser wäre, wenn die nachfolgende Generation, oder sagen wir besser: ein späterer Käufer nichts davon erfahren würde, woraufhin er den Herkunftsnachweis von dem Codex entfernt.«

»Willst du etwa sagen, dass Marston den Besitznachweis vom Pergament gekratzt hat?!«

»Genau das will ich«, sagte die Stimme, »aber da ist noch mehr, denn auch das Stück Spiegelgeschichte, das Marston gekauft hat, ist, nach allem, was ich weiß, umgestaltet worden. Zumindest hat jemand einen Bibliotheksstempel zu entfernen versucht und auch sonst kleinere Ausbesserungsarbeiten vorgenommen. Allerdings ist das geschehen, bevor Marston das Manuskript gekauft hat, aber ich kann dir in diesem Fall weder sagen, wann genau das passiert ist, noch, wer es getan hat. Vielleicht war es Ferrajoli. Oder Davis. Oder irgendein anderer aus ihrer Pergamentschinken-Welt. Dann wäre es eine kleine Vorarbeit für Davis' Katalog gewesen. Sozusagen die Vorleistung für die Vorabausgabe. Nur scheint mir das ein bisschen viel Arbeit für ein Stück Pergament, das mit gerade mal 75 Pfund ausgepreist ist.«

»75 Pfund hin oder her, manche kratzen für viel weniger Geld irgendwelche Namen ab!«, rief Amanda Hollis und stand auf.

»Ich glaube, ich kann dir nicht folgen«, sagte die Stimme.

»Das sollst du auch nicht«, sagte Amanda Hollis, »ich muss nämlich los.«

»Was?«, fragte die Stimme, »Wohin?«

»Beichten.« Und dann, schon halb oben auf der Treppe: »Der Bischof und ich, wir sind beim letzten Mal nicht fertig geworden.«

XLVIII

Da war sie also, die nächste Spur, der Punkt, an dem sich zwei Stränge vereinten. Gewiss, ein paar abgekratzte Namen und Stempel waren noch kein Grund für eine Verschwörung und gaben ebenso wenig einen Weg vor, auf dem es sich gemütlich in Richtung Ziel spazieren ließ, wo ein großes Schild mit der Aufschrift »Auflösung und Ende der Geschichte« auf Amanda Hollis wartete. Vielmehr, so schien es, war das, was vor ihr lag, eine Reihe höchst verschlungener Pfade, ein unordentliches Gewirr größerer und kleinerer Linien, die es zusammenführen galt, doch war das Amanda Hollis egal, denn eines war jetzt klar: Es gab eine Gruppe von Personen, die sich auf das Abkratzen und Vernichten von Namen und Herkünften verstanden. Auf den ersten Blick, so schien es, taten sie es aus Gründen des Geldes, doch schien das keine hinreichende Erklärung zu sein. Aber wie dem auch war, fest jedenfalls stand, dass die Beteiligten – offenbar zum Zwecke des besseren Tarnung – an verschiedenen Orten tätig waren: der zwielichtige Ferrajoli in Spanien, der einflussreiche Marston in Yale, dazu noch dieser Davis in London und dieser Student mit dem dreckigen französischen Namen hier in Harvard. Aber es waren nicht nur die Orte, die differierten, sondern auch die Berufe, denen diese Leute nachgingen, und im Grunde gehörten ja auch die Plattenbosse dazu, mochten sie nun den John Birch Society Blues oder If I had a Hammer von den Vinylscheiben gekratzt haben.

Aber da war noch mehr, waren noch andere, die sich aufs Abkratzen und Verstecken verstanden. Filmproduzenten zum Beispiel. Jedenfalls erinnerte sich Amanda Hollis, in ihrem Zeitungsartikel nicht nur etwas über den verdächtigen Bob Dylan und andere Protestsänger, sondern auch etwas über den ganz und gar unverdächtigen Fred Astaire gelesen zu haben. Genauer gesagt ging es um die Tanzeinlage zu einem Lied, das den bezeichnenden Titel It’s not in the Cards trug, wobei Astaire zusammen mit Ginger Rogers den Tanz gleich zu Beginn seines Films Swing Time aufführen sollte, doch war, wie Amanda Hollis wusste, nicht nur das Lied, sondern der ganze Auftritt von den Produzenten direkt nach der Premiere gestrichen, das heißt herausgeschnitten worden.

Das aber, das wurde ihr erst jetzt richtig klar, bedeutete zweierlei.

Zum einen hatten, genau wie bei Dylans Platte, von der laut der Stimme im Rohr auch nicht alle der vorab versandten Exemplare wieder zurückgeschickt worden waren, auch im Falle des Films ein paar Leute Wind von der Sache bekommen, das heißt die nicht-bereinigte Version gesehen bzw. gehört.

Zum anderen war, mit Blick auf die Plattenbosse und Filmproduzenten, die Gruppe der Verdächtigen erheblich größer geworden und die Objekte, die sich abkratzen, wegschneiden oder sonst irgendwie verändern ließen, aus der Vergangenheit in die Gegenwart getreten – eine Gegenwart, die um einiges besser ausgeleuchtet war als die geheimen Privatbibliotheken und dunklen Jahrhunderte, von denen das Rohr berichtet hatte.

Aber da war noch mehr, was Amanda Hollis erst jetzt richtig begriff, denn die Tatsache, dass diese Gruppe, dieser offensichtlich geheime Bund an Personen, in den verschiedensten Städten und Ländern tätig war und die Möglichkeit seines Eingreifens im Raum wie in der Zeit keine Grenzen zu kennen schien, führte ihr nur noch deutlicher vor Augen, welche Macht er besaß und wie groß das Ausmaß der gesamten Verschwörung war.

Und auch wenn Amanda Hollis den tatsächlichen Grund, das heißt das Motiv hinter all diesen Auslöschungs-und Umarbeitungsversuchen nicht kannte, ihm zumindest noch keinen Namen abseits des üblichen Dranges nach Geld und Macht zu geben vermochte – Gründe, die in diesem Fall zweifellos viel zu kurz griffen, um nicht zu sagen: lediglich an der Oberfläche kratzten –, so wusste sie doch eines: Sie durfte nichts überstürzen. Und auf keinen Fall ihre Karten zerschneiden. Im Gegenteil, sie musste die bisherigen beständig erweitern, immer wieder neue anlegen und sämtliche Informationen zu ordnen versuchen. Wenn sie sich einmal alles notiert hatte, würden sich die Zusammenhänge und Hintergründe dieser Verschwörung schon von selbst herausschälen.

Fürs erste aber war es wichtig, diejenigen zu notieren, deren Aufgabe das geordnete Verschleiern und Zerstören von Herkünften war.

Die Entkünfter

Name, Beruf und Land

Enzo Ferrajoli:

Buchhändler / Geschäftsmann (Spanien)

Thomas Marston:

Kartenkundler / Sammler (Amerika)

Joseph Davis:

Buchhändler (England)

Frenchy:

Student / Drecksack / Betrüger (Amerika)

Plattenbosse:

Plattenbosse (Amerika)

Filmproduzenten:

Filmproduzenten (Amerika)

die Beteiligten an dem Vinland-Map-Buch:

Autoren / Verleger / Registerschreiber (England / Amerika)

Gehörte aber nicht auch Heath Cover Evil in die Gruppe der Entkünfter, war er nicht auch einer von denen, die das, was da war, verschleierten und es verformten zu einem Zweck, den nur sie kannten? Immerhin wollte er aus einem windigen Projektmacher namens William Croswell einen ernsthaften Bibliothekar und aus seinem nichtigen Leben eine Heldengeschichte machen.

Und was war eigentlich mit William Croswell selbst? War sein Zerschneiden nicht auch ein Verschleiern, eines, das nur auf den ersten Blick zu zerstören schien, tatsächlich aber auf etwas ganz anderes zielte, etwas, das sie noch nicht kannte?

Andererseits, selbst wenn man William Croswell mit zu dieser Gruppe rechnete, so war das nur die halbe Wahrheit, schließlich war er um nichts weniger seiner Vergangenheit beraubt worden, als ihn die Herren Potter und Bolton aus dem Verzeichnis der Librarians of Harvard College strichen.

So gesehen gehörten also auch sie zu den Entkünftern, waren Gelehrte, die etwas vergessen machten, während sie schrieben.

Aber warum? War William Croswell vielleicht ein Abtrünniger geworden? Einer, dessen Name ausgelöscht werden musste, damit die Verschwörung, die aufzubauen er einst mitgeholfen hatte, nicht ans Tageslicht kam?

Nun, die Frage war bis auf Weiteres nicht zu beantworten, doch hatte es den Anschein, dass William Croswell, dieses Nichts, dieser Niemand, eine Schlüsselfigur in dieser Verschwörung war. Ja, mehr noch, es deutete einiges darauf, dass er sogar das alles verbindende Teil war, der Punkt, an dem sich die Stränge eines X kreuzten, ein Stück Spiegelgeschichte, das, wenn schon nicht sein ganzes Bild, so doch Fragmente davon nach zwei Seiten rauswarf, sie in einem vereinte und trennte, schließlich hatte William Croswell nicht nur faul in der Bibliothek rumgesessen, sondern auch seine Manuskripte und, was noch schlimmer war, den alten Bandkatalog der Bibliothek zerschnitten und so dazu beigetragen, ein Stück Geschichte zu vernichten und seine ursprüngliche Form zu verschleiern.

Was Amanda Hollis zu der Frage führte, welchem Ziel dieses Vernichten und Verschleiern überhaupt diente? Ging es einfach nur darum, die Geschichte zum Zwecke der Gegenwart umzuschreiben, so wie man es zu allen Zeiten und an sämtlichen Orten dieser Welt getan hatte? Aber wozu? Um Macht und Geld zu erlangen? Gewiss, das mochte ein Antrieb sein, und dennoch bedeutete es, nur an der Oberfläche zu kratzen, eine Handvoll Namen durch eine Handvoll anderer zu ersetzen, ein paar Orte zu ändern und die Jahre zu tauschen – und sich ansonsten im Kreis zu drehen.

Nein, als Erklärung war der Wunsch, die Geschichte umzuschreiben, um damit Reichtum und Macht zu erlangen, viel zu allgemein und das heißt: untauglich. Außerdem machten sie es hier im Archiv ja nicht anders. Musste sie sich also selbst mit in diese Gruppe aufnehmen?

Andererseits: Wen interessierten schon Katalogkarten? Ein paar Archivare? Zwei, drei Bibliotheksmitarbeiter? Leute, die das Register lasen?

Aber das waren alles Randexistenzen. Vergangenheitsmenschen. Liebhaber von Relikten einer Welt aus Papier, die es so niemals gegeben hatte.

Und die, die etwas anderes waren, die in der Gegenwart lebten und die Massen erreichten – die Plattenbosse zum Beispiel –, die hatten nichts davon, wenn sie auf einer Vinylscheibe einen Song nicht mit aufnahmen, außer vielleicht eine potentielle Klage weniger am Hals und ein bisschen Spaß beim Zusehen, wie die kleinen Labels, die sie trotzdem veröffentlichten, von der Bildfläche verschwanden, das heißt bankrottgingen an einer Handvoll Protestlieder. Aber das konnte als Grund unmöglich reichen – und den Filmleuten war sowieso alles egal.

Andererseits, was wurde hier eigentlich umgeschrieben und damit letztendlich vernichtet? Die Geschichte? Aber wozu? Um sie ihrer ureignen Herkunft, ihrer Geschichtshaftigkeit zu entziehen?

»Das wäre zumindest eine Möglichkeit«, dachte Amanda Hollis, woraufhin von oben rechts ein Gedanke in ihren Kopf schoss, der fast den Geist von Harvard zu atmen schien: »Das Paradoxe an der Geschichte ist doch, dass, je länger sie dauert, sie umso mehr gegen Ewigkeiten spricht«, kam es ihr aus dem Mund, gleichwohl sie das Gefühl hatte, in diesem Fall nur das Medium des Gedankens zu sein.

Wer aber hatte ihn gedacht? Wer saß da rechts oben? Heath Cover Evil? William Croswell? Gott?

Amanda Hollis wusste es nicht, fragte sich aber sogleich, was dieser Gedanke für ihre eigene Geschichte bedeutete.

»Werde ich, wenn ich das Rätsel dieser Verschwörung gelöst habe, etwa aus diesem Betonbunker befreit? Aber was, wenn ich das gar nicht will? Ist Ewigkeit mein Ziel?«

Amanda Hollis hatte nicht den Hauch einer Ahnung. Also schloss sie die Augen, schüttelte den Kopf und wartete darauf, dass die Zeit einen Sprung tat.

XLIX

Als Amanda Hollis in der Mittagspause nach ihrem Aushang schaute, auf dem sie nach dem Verbleib des Leuchters in Drexel gefragt hatte, war er verschwunden, und an der Stelle, an der das Blatt gehangen hatte, hing ein anderes. Darauf aber stand, mit Schreibmaschine geschrieben: »Ist der Leuchter in der großen Halle im Hauptgebäude von Drexel gemeint?«

»Ja«, flüsterte Amanda Hollis, als könne derjenige, der die Frage gestellt hatte, sie hören.

Aber dann begriff sie, dass sie halluzinierte, und ihr Blick schmierte ab und fiel auf den Boden, und alles, was sie sah, waren ihre Schuhe – und daneben die von Dick Walrus.

Er stand vor dem Schwarzen Brett und prüfte die Aushänge. Es war seine Pflicht. Was alt und anstößig war, riss er ab. Dann drehte er sich um und ging, um das betreffende Papier zu entsorgen.

Kaum dass seine Schuhe aus ihrem Blickfeld geschlappt waren, hob Amanda Hollis den Kopf, um zu sehen, ob er auch »ihr« Blatt entfernt hatte. Aber es war noch da, fragte noch immer: »Ist der Leuchter in der großen Halle im Hauptgebäude von Drexel gemeint?«

Diesmal aber gab Amanda Hollis keine Antwort, sondern sah, wie ihre Rechte nach dem Blatt griff, es abriss – und darunter hing das nächste. Und das fragte: »Der Leuchter mit der Venus von Milo darunter?«

Amanda Hollis stand da, im Angesicht des in einer wilden Erinnerung befangenen Archivs, und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, derweil vor ihr die Aushänge auffuhren und im Wind flatterten, als hätte jemand die Tür zur Bibliothek offen stehen gelassen.

Es dauerte einen Augenblick, bis Amanda Hollis bemerkte, dass es Dick Walrus war, der die Tür eingehakt hatte, um den Schnee, den die Studenten mit ihren Schuhen hereingeschleppt hatten, aus der Bibliothek kehren zu können.

Amanda Hollis aber interessierte sich nicht für den Schnee auf dem Boden, sie hatte nur Augen für das Papier vor ihrer Nase und im Kopf den Wunsch, etwas zu tun. Und das bedeutete, auch das Blatt abzureißen und herauszufinden, was unter ihm lag. Also tat sie's. Und fand darunter – das Gesuch eines Studenten, der fragte, ob ihm jemand eine uigurische Grammatik ausleihen könne.

L

Kurz vor dem Ende ihrer Mittagspause verließ Amanda Hollis das Archiv, stieg über die Treppe hoch auf den Campus und lief schnellen Schrittes in die große, mandelfarbene Bibliothek gegenüber, um ein weiteres Mal die Zeitungen zu studieren, die von der Katastrophe in Drexel erzählten.

Und erst als sie da saß, in dem großen Lesesaal, und auf ihre Bestellungen wartete, wurde ihr klar, dass sie nicht nur vom Archiv über den Campus zur Bibliothek, sondern auch von A über C nach B gegangen war und dass das vielleicht ihr Leben war.

LI

Es gab nur ein einziges Bild von der Katastrophe in Drexel, und die Zeitungen hatten es alle gebracht. Amanda Hollis betrachtete es, als gelte es, den Ablauf der Ereignisse mit den Augen nachzuvollziehen, als unterläge auch der Blick auf ein Bild dem Gesetz der Gravitation.

Und so sah sie, wie das Wasser durch das geborstene Glasdach der Haupthalle lief, sich über den Leuchter ergoss, an seinen langen, glockenförmigen Röhren hinabfloss und unten – auf die Venus von Milo tropfte.

»Die Venus in Drexel ist nur eine Kopie«, flüsterte Amanda Hollis, kaum dass sie es in den Zeitungen gelesen hatte.

Doch war es nicht die Information aus dem Text, sondern das daneben abgedruckte Bild der Statue, das sie stutzen ließ: Breite Hüfte, kleiner Busen … war sie nicht ganz ähnlich gebaut?

»Bin ich vielleicht auch nur eine Kopie?«, fragte sich Amanda Hollis und schaute sich um.

So wie es aussah, stellten sich alle, die hier saßen, Fragen, dachten nach und versuchten das, was vor ihnen lag, zu verstehen, und selbst wenn sie, Amanda Hollis, nicht die Einzige war, die keine Antworten fand, so war sie doch die Einzige, die so aussah wie sie.

Weil sie aber weder auffallen noch – gleich William Croswell – untätig herumsitzen wollte, widmete sich Amanda Hollis schon bald wieder der Venus von Drexel, die sich ein Tuch um die Hüften geschlungen hatte. Sie sah aus, als sei sie gerade dem Bade entstiegen. Oder aus der Dusche gekommen …

Aber wo war das Bad? Und wo die Dusche?

Die Antwort war einfach. Zumindest für jemand, der sich auf Gleichnisse verstand.

»Die große Halle in Drexel ist das Bad, dem ich entstiegen bin«, durchfuhr es Amanda Hollis, und ihr wurde ganz warm. »Es ist die Duschkabine, in der sich mein Geist erfrischt hat. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass der Leuchter an der Decke von unten betrachtet wie ein großer Duschkopf aussieht und« – sie schloss die Augen – »vielleicht ist es auch kein Zufall, dass das Glasdach über ihm geborsten und der Regen nach der Explosion hereingeströmt ist.«

Amanda Hollis spürte, wie sie schwitzte. Ihr ganzer Körper schien überzulaufen.

Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, versuchte sich die Hände am Rocksaum zu trocknen.

Es nützte nichts, sie war nass bis auf die Haut.

LII

Zurück im Archiv, wusste Amanda Hollis nicht, wohin mit sich, der Venus von Milo und dem Leuchter aus Drexel, und das Einzige, was ihr einfiel, war, sich an die Schreibmaschine zu wenden.

»Hör mal«, sagte sie und setzte sich an die Remington, »zehn Cent für einen Hinweis, der zur Dingfestmachung des Anzettlers führt.«

»Fünfzehn«, sagte die Remington.

»Es gibt keine Fünfzehn-Cent-Münzen«, sagte Amanda Hollis.

»Dann gib mir zwanzig«, sagte die Remington.

William Croswell feixte.

»Aber …«

»Das sind zwei mal zehn«, sagte die Remington.

William Croswell schwieg.

Amanda Hollis warf das Geld ein, schloss die Augen und schlug zu.

»kawdzgh«, sagte die Schreibmaschine.

»Darüber muss ich nachdenken«, sagte Amanda Hollis, stand auf und stieg hinab ins Archiv des Archivs.

LIII

»Ich weiß, wo wir stehengeblieben waren«, sagte Amanda Hollis und blieb stehen (auf der untersten Stufe), »wir hatten gesagt, dass das Spiegelgeschichtsfragment der Schlüssel für die Vinland-Map und die Tartar-Relation ist und dass Wittens Frau durch diverse Schenkungen in den Besitz von allen drei Manuskripten gelangt ist. Aber dann hast du Fragen gestellt, die niemand beantworten konnte, anstatt mir zu sagen, ob Mrs. Witten die Manuskripte verkauft hat oder nicht.«

»Ja«, sagte die Stimme im Rohr, »verkauft. Für eine Million Dollar.«

»Oh!«, sagte Amanda Hollis, die eigentlich nicht mehr Oh sagen wollte. »Und jetzt?«

»Nehme ich mir selbst die Beichte ab«, sagte die Stimme und schwieg.

»Na dann«, sagte Amanda Hollis, drehte sich um und ging zurück in ihr Zimmer.

LIV

»Die Stimme war heute aber nicht sehr mitteilungsfreudig«, dachte Amanda Hollis, »andererseits, vielleicht ist das auch ganz gut so, vielleicht hätte sie mir sonst noch was über die duschende Venus von Milo erzählt«, sprach's und biss Sloppy Joe dem Erstbesten links in die Flanke. Dann rechts. Dann noch ein Angriff von hinten, und sie konnte den Rest mit einem Happen verschlingen.

Als Sloppy Joe gevierteilt in Amanda Hollis’ Magen lag, wandte sie sich wieder William Croswell zu, der – in noch viel mehr Teilen – auf ihrem Tisch herumlungerte und ein wenig durcheinander war.

»So viel Papier«, stöhnte Amanda Hollis, »Rechnungen, Mietverträge, Unterrichtsmaterialien, Reisebeschreibungen, Briefe ... Und nicht einen davon hast du mir geschrieben.«

Und dann, nach jenem Moment, den jeder Vorwurf braucht, um sich über die Stimmbänder zu legen: »Dabei hattest du in der Bibliothek genug Zeit. Und davor auch. Im Gegensatz zu mir hattest du nämlich ein Leben vor dem Papier.«

War das ein Gedicht?

Amanda Hollis wusste es nicht.

Und William Croswell schwieg noch immer.

Die Remington aber schnurrte. Noch waren die zwanzig Cent nicht abgelaufen. Also setzte sich Amanda Hollis ein zweites Mal an die Tasten – und die Maschine schrieb.

Ode auf William Croswell

Hast zweimal ein Schiff sicher nach England gebracht

und in Jamaika einen auf Schulmeister gemacht.

Bist von London nach Liverpool gelaufen,

und trafst in Amerika den Ziseleur deiner Sternenhaufen.

Du nächtigtest bei einer Frau Carter, das gibt mir zu denken,

doch will ich die Anklage für heute mir schenken.

Und stattdessen allen erzählen,

du tätest die Kinder eines Käptn's schlimm quälen.

Mit Mathematik, Buchführung und Astronomie,

doch Schüler genug hattest du nie.

Oh William Croswell, warum bist du nicht geblieben,

in England, zwischen alten Gemäuern und strauchigen Dieben?

»Fertig«, sagte Amanda Hollis.

Die Remington aber schnurrte noch immer.

Also nahm Amanda Hollis ein weiteres Blatt, spannte es ein und typenhebelte ihre Freude ins Papier.

»JA!«

Eine Stunde später hing das Blatt am Schwarzen Brett der Bibliothek.

LV

Als Amanda Hollis am nächsten Morgen unter der Dusche stand, fiel ihr auf, dass Mittwoch, der zwanzigste November war, und dass sich der Tag ihrer Geburt heute zum dreißigsten Mal jährte. Da sie aber nicht wusste, was sie mit dieser Tatsache anfangen, das heißt was sie aus dieser Zahl, aus diesem ganzen Leben machen sollte (und es ohnehin nicht zu ändern war), schrieb sie mit ihrem Zeigefinger »30« auf eine der beschlagenen Fliesen vor ihr und sah, während das heiße Wasser auf sie herniederrann, dabei zu, wie die Zahl vom Dampf überweht und Stück für Stück ausgehaucht wurde.

»Die Dusche ist ein umgekehrtes Palimpsest«, dachte Amanda Hollis, drehte den Wasserhahn zu und stieg in den Tag.

In der Bibliothek angekommen, musste sie beim Blick auf das wilde Archiv feststellen, dass ihr Aushang unter einer dicken Schicht neuen Papiers verschwunden war, und als Amanda Hollis ihn schließlich fand, war er unangerührt.

Sie überlegte kurz, ihn abzureißen, aber dann erinnerte sie sich an das Versprechen, das sie sich vor ein paar Tagen unten im Keller gegeben hatte, und dass es darum ging, sich Zeit zu nehmen, zu warten, und das hieß letztlich: weder den eigenen noch fremden Kassatieranweisungen Folge zu leisten.

Also ließ sie das Papier hängen und fing an (sie hatte schließlich Geburtstag und wollte sich, bevor die Arbeit begann, noch ein bisschen amüsieren), durch die Tiefen des Zettelwaldes zu streunen, und auch wenn sämtliche uigurischen Grammatikgelehrten verschwunden waren, so fand sie zumindest einen Kerl, der mutig genug war, seinen Arsch (und zwei Dollar) darauf zu verwetten, dass Richard Burton und Elizabeth Taylor im nächsten Jahr heiraten werden, derweil derjenige, der sich neben ihm präsentierte, um eine Mitfahrgelegenheit nach Dallas bat.

Während Amanda Hollis den Aushang las (und sich fragte, wer so verrückt war, zu einem wildfremden Menschen ins Auto zu steigen, um mit ihm durchs halbe Land zu fahren, wo man doch den Zug nehmen konnte), hob der einfahrende Wind das Papier in die Höhe – und darunter stand: »In Drexel ist der Leuchter verschwunden und bei der Venus von Milo der Sockel.«

Es war acht Uhr und eine Minute.

Dick Walrus kam mit einer großen Schippe in die Bibliothek gestiefelt.

Amanda Hollis sah nur Papier, griff nach der Venus und riss den Leuchter herab. Dann ging sie in die Knie.

Als Dick Walrus Amanda Hollis auf dem Boden kauern sah, wollte er ihr seine Hand reichen. Aber dann fiel ihm ein, dass sie sie beim letzten Mal zurückgewiesen hatte, und deshalb nahm er seine Schippe und legte das Ende des Stiels zwischen ihre auf dem Boden liegenden Hände.

Es sah aus, als würde er ihr ein Taschentuch reichen.

Aber Amanda Hollis wollte es nicht haben.

Sie wollte überhaupt nicht, dass man ihr hilft.

Amanda Hollis wollte aus eigenen Kraft aufstehen.

Sie lag auf den Knien, gewiss, hockte auf einem Boden von Tatsachen, die sie nicht verstand, derweil Nathans Puseys ganze verdammte Untergrundbibliothek dabei war, Stück für Stück abzusaufen.

Aber das war egal. Es brachte trotzdem nichts, in einer solchen Situation nach dem Stiel einer Schippe zu greifen und sich an ihm nach oben zu ziehen, wie eine Ertrinkende, die in letzter Sekunde gerettet wird. Und erst recht machte es keinen Sinn, irgendein Taschentuch zu nehmen, um damit das einströmende Wasser aufzuwischen.

Der Leuchter in Drexel war längst nass. Und die Venus von Milo war es ebenso. Und die einzige Frage, die sich jetzt stellte, war, was mit dem Sockel der Statue passiert war und welche Rolle er in der Verschwörung spielte, das heißt, ob diese Gruppe von Personen, die sich auf das Abkratzen und Wegschneiden von so ziemlich allem und jedem verstand, noch einen Schritt weiter gegangen war und nicht nur die Geschichte der Dinge, sondern auch die Dinge selbst vernichtet hatte.

Mit anderen Worten: Es war an der Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Was im Falle von Amanda Hollis zunächst einmal nichts anderes bedeutete, als aufzustehen und sich eine Etage nach unten zu begeben, damit die Remington befragt werden konnte. Alles deutete darauf hin, dass die Maschine mehr wusste, als sie ihr bisher erzählt hatte. Viel mehr!

LVI

»Was ist mit dem Sockel der Venus von Milo passiert?«, rief Amanda Hollis, kaum dass sie zur Tür rein war.

»Guten Morgen«, sagte die Remington, die nicht nur auf Grund ihres Alters gewisse Anstandsformen gewöhnt war.

Aber Amanda Hollis schien an einem guten Morgen nicht interessiert. Jedenfalls baute sie sich vor der Remington auf und wiederholte die Frage.

»Ich will wissen, was mit dem Sockel der Venus von Milo passiert ist!«

Die Remington nahm zehn Cent, um sie aufzuklären.

»Bei der Venus von Milo ist der Sockel verschwunden«, sagte sie.

»Ich weiß«, erwiderte Amanda Hollis und schnappte nach Luft. »Aber was genau ist passiert?«

»Die üblichen mysteriösen Umstände.«

»Die hab' ich schon anderswo!«, rief Amanda Hollis.

Aber die Remington zeigte sich unbeeindruckt und fragte nur: »Wo?«

»Überall«, sagte Amanda Hollis.

»Geht's konkreter?«

»Nein!«

»Na schön, ganz wie du willst«, sagte die Remington – und machte aus zwei konkreten Sätzen einen ganz allgemeinen. »Der Sockel der Venus von Milo ist unter mysteriösen Umständen verschwunden.«

Und weil es so schön war (und Amanda Hollis einen Moment lang nichts sagte, denn sie war damit beschäftigt, ihre drei Sloppy Joes aus der Tasche zu kramen und sie in Griffweite neben die Maschine zu legen), gleich noch mal andersherum: »Unter mysteriösen Umständen ist der Sockel der Venus von Milo verschwunden.«

Was nun mal die Wahrheit war. Nur leider nicht die, die Amanda Hollis hören wollte.

»Du weißt es also nicht«, blaffte Amanda Hollis, stand auf und machte sich an dem Münzeinwurfkasten zu schaffen, um ihre zehn Cent zurückzubekommen.

»Niemand weiß es!«, rief die Remington, die es mit der Angst zu tun bekam. »Der Einzige, der es weiß, ist der, der den Sockel geklaut hat. Das heißt, den Originalsockel, nicht den, der in Drexel stand.«

Woraufhin Amanda Hollis von dem Münzeinwurfkasten abließ.

»Warum um alles in der Welt sollte jemand einen Sockel klauen, wenn die Statue obendrauf tausendmal mehr wert ist?!«, rief sie, und als sei das das Stichwort, öffneten sich an ihren Händen sämtliche Poren.

Kalter Schweiß trat aus, floss über die Finger herab und bildete kleine Pfützen in den millimetertiefen Tasten der Remington.

»Die Remington ist die Venus von Milo aus Drexel«, durchfuhr es Amanda Hollis, »und meine schwitzenden Finger sind die Röhren des Leuchters, an denen das Regenwasser herabläuft. Aber wer spielt das durchlöcherte Dach?«

Die Antwort war nicht schwer und Amanda Hollis schlau genug, sie sich selbst zu geben.

»Das kaputte Dach ist der Campus von Harvard, der Erdboden, durch den ich Tag für Tag hinab in die Papierhölle steige, obwohl ich weiß, dass sie schwimmt, denn die Pumpen und Abflussrohre schaffen's nicht mehr, all den Regen und Schnee aufzunehmen. Der Acheron ist über die Ufer getreten. Die Hölle wird geflutet. Die Letzte löscht das Licht.«

Aber soweit war es noch nicht. Außerdem hatte sie Geburtstag, und die Tatsache, dass sie jetzt dreißig Jahre alt war, verbreitete schon genug Untergangsstimmung in ihr.

Also trat Amanda Hollis einen Schritt zurück, wischte ihre schwitzenden Finger am Rocksaum ab und sagte »Reiß dich am Riemen!«, und zwar so laut, dass die Remington dachte, sie sei gemeint. Woraufhin sie es tat.

»Vielleicht wurde der Sockel der Venus von Milo ja gar nicht geklaut«, kam es im nächsten Moment aus der Maschine.

»Was soll das heißen?«, fragte Amanda Hollis.

»Keine gute Frage für jemand, die den ganzen Tag am Detektiv-Spielen ist«, sagte die Remington, die offenbar nichts davon hielt, sich länger als nötig an irgendeinem ihrer Riemen zu reißen. »Vielleicht waren es ja die Archäologen selbst, die den Sockel beseitigt haben.«

»Welche Archäologen?«

»Die französischen natürlich.«

»Natürlich«, sagte jetzt auch Amanda Hollis und klang resigniert.

Aber dann dachte sie an die Stimme im Rohr und daran, dass die ihr alles erzählt hatte, was von Bedeutung war und den Index der Verschwörung erweiterte. Denn darum ging es: Sie, Amanda Hollis, musste alles erfahren. Nur so konnte sie das Netz der Verweise immer dichter weben und sämtliche Hinweise miteinander verknüpfen, so lange, bis es kein Außen mehr gab, bis alle Einträge und Untereinträge nur noch aufeinander, und das hieß letztlich: auf sich selbst verwiesen.

Ein solches Register aber, das wusste sie, stand und fiel mit den Namen, die es enthielt, schließlich waren es Personen, die die treibende Kraft hinter dieser Verschwörung waren, mochten sich die Zeiten und Orte, an denen sie tätig waren, auch noch so sehr unterscheiden und die Objekte ihrer Begierde bis ins schier Unvereinbare differieren.

Und so kam es, dass Amanda Hollis sich nach einem kurzen Räuspern an die Remington wandte und geradeheraus fragte:

»Wie heißen sie?«

»Wer?«

»Die Franzosen. Die, die in die Sache mit der Venus von Milo verwickelt sind.«

»Fauvel und Forbin«, sagte die Maschine.

»Was?«, fragte Amanda Hollis, die sich nicht sicher war, ob sie die Namen wirklich aufschreiben sollte. »Klingt wie zwei Comicfiguren.«

»Waren sie auch«, sagte die Remington, »allerdings auf ihre ganz eigene Art und Weise. Louis-François-Sébastien Fauvel war nämlich der französische Vize-Konsul in Athen, und Louis Nicolas Philippe Auguste de Forbin der Leiter des Louvre.«

»Verstehe«, sagte Amanda Hollis, die eigentlich nur »Louis-Louis« verstand, sich die Namen aber trotzdem notierte und die Sache anschließend zur Sicherheit noch mal zusammenfasste.

»Fauvel und Forbin haben also den Sockel geklaut.«

»Fauvel und Forbin haben überhaupt nichts geklaut«, sagte die Remington.

»Was?! Aber ich dachte …«

»Du wolltest wissen, wer in die Sache mit der Venus verwickelt ist, also habe ich gesagt, Fauvel und Forbin, denn die sind darin verwickelt.«

»Und die Sache mit dem geklauten Sockel?«

»Vergiss den Sockel.«

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass es die französischen Archäologen waren, die den Sockel beseitigt haben.«

»Ich habe gesagt, 'vielleicht'. Außerdem ist die Sache mit dem Sockel nicht wichtig für dich.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil das Problem des Originals nicht das der Kopie ist.«

»Was?!«, fragte Amanda Hollis, »geht's noch dunkler?«

»Nur wenn du das Farbband wechselst«, erwiderte die Remington. Aber da spürte sie auch schon die Feststelltaste einrasten.

»ICH VERSTEHE UEBERHAUPT GAR NICHTS MEHR!!!«, rief Amanda Hollis und schlug auf die Maschine ein, als seien ihre Finger japanische Sturzkampfbomber und die Tasten der Remington eine Armada von Schiffen im Hafen von Pearl Harbor.

Die Remington sah schweißgelbe Fontänen aus dem Meer ihrer Tasten heraus explodieren.

Amanda Hollis sah sich selbst als Kind in Pfützen springen.

William Croswell sah nichts. Er schlief.

»AUFHOEREN!!!«, schrie die Remington.

Und weil Amanda Hollis tatsächlich innehielt und das Einzige, was im nächsten Moment ausrastete, die Feststelltaste war: »Du wirst es gleich verstehen. Wir machen es chronologisch. Das heißt, wenn du bezahlst.«

»Was?!«

»Zehn Cent.«

»Wie?«

»Ich bekomme zehn Cent von dir.«

»Aber …«

»Die halbe Stunde ist vorbei.«

»Aber ich …«

»Erst die zehn Cent, dann die Chronologie.«

Amanda Hollis fingerte das Geld ihr im Schweiße ihres Angesichts in den Kasten.

»Also schön,« sagte die Remington, »die Venus-Statue, von der wir reden, wurde am 8. April 1820 auf der griechischen Insel Milos gefunden.«

»Stopp!«, rief Amanda Hollis.

»Es gibt kein Stopp«, sagte die Remington, »die Zeit läuft. Du hast noch neunundzwanzig Minuten und vierundfünfzig Sekunden.«

»Das Datum …«, flüsterte Amanda Hollis, „der 8. April ...“

»Was ist damit?«, fragte die Remington.

»Warte«, sagte Amanda Hollis, stand auf und ging rüber zum Tisch.

»Nichts lieber als das«, sagte die Remington, »die Zeit läuft, ob du nun auf mich einschlägst oder nicht. Wobei mir nicht-schlagen natürlich lieber ist.«

»Du kannst weitererzählen«, sagte Amanda Hollis nach ein paar tief über den Schreibtisch gebeugten Sekunden, den Rücken noch immer zur Maschine gewandt.

»Ganz wie du willst«, sagte die Remington und tat, wie ihr geheißen. »Die Venus wird also am 8. April 1820 auf der griechischen Insel Melos gefunden, und zwar von einem Bauern, der allerdings nichts damit anzufangen weiß, weil er nicht nach Kunstwerken, sondern nach Steinen zum Bau einer Mauer sucht. Er hat aber Glück, denn ein Stück von ihm entfernt gräbt gerade ein junger Franzose, der Olivier Voutier heißt und …«

»Ohje …«, stöhnte Amanda Hollis plötzlich.

»Olivier!«, korrigierte die Maschine.

»Ohje …«, stöhnte Amanda Hollis noch mal.

»Voutier!«, korrigierte die Maschine erneut.

»Ohje …«, sagte Amanda Hollis nun schon zum dritten Mal. Dann stand sie auf und wankte auf die Remington zu, die es angesichts dessen, was da nahte, für besser hielt, sich in Namensfragen zu fügen.

»Na schön«, sagte die Maschine, »dieser Ohje Ohje ist jedenfalls an dem ganzen alten griechischen Zeug interessiert, und weil er gerade mit seinem Schiff vor Melos rumlungert, denkt er sich, 'Geh ich doch mal rüber auf die Insel und grab ein bisschen rum, vielleicht find ich ja was'.

Allerdings findet er nur alte Steine und ist schon kurz davor aufzugeben, als er den Bauern erblickt, von dem ich gerade gesprochen habe. Und siehe da, der scheint etwas gefunden zu haben.

Als Ohje Ohje näher kommt, bemerkt er, dass das, was der Bauer gefunden hat, eine Statue ist. Allerdings hat der Bauer kein Interesse an Statuen, denn damit lässt sich nunmal keine vernünftige Mauer bauen, weshalb er sie auch gleich wieder zuschaufeln will. Aber Ohje Ohje hält ihn davon ab, denn für ihn sieht das, was da liegt, nach genau dem alten griechischen Zeug aus, das er sucht. Also gibt er dem Bauern ein bisschen Geld, damit der das Ding nicht wieder zu-, sondern freischaufelt. Allerdings ist die Statue sehr groß und die Lust des griechischen Bauern sehr klein, weshalb er irgendwann seine Schaufel beiseitelegt und mehr Geld verlangt. Und was macht unser Franzose? Der bezahlt natürlich.«

»Natürlich«, sagte Amanda Hollis nun schon zum zweiten Mal. Aber dann besann sie sich eines Besseren (auch wenn es in Wahrheit gar nicht besser war) und murmelte: »Manchmal werden allerdings auch die Franzosen bezahlt …«

Aber die Maschine bekam von dem Gemurmel nichts mit. Oder wollte es nicht hören. Jedenfalls erzählte sie einfach weiter.

»Das Geld ist jedenfalls gut angelegt, denn am Ende des Tages hat der griechische Bauer zwar keine Mauer, aber dafür einen ordentlichen Batzen Bares in der Tasche – und unser Ohje Ohje seine Statue. Allerdings weiß er noch nichts von ihrem Wert und bekommt das Ding auch nicht einfach so fortbewegt, denn es wiegt gut und gerne ein paar hundert Kilo.

Zum Glück arbeitet auf seinem Schiff aber ein Offizier, der sich, wie es der Zufall und der französische Bildungsfimmel dieser Zeit nun mal so will, mit antiken Statuen auskennt und sich außerdem freut, auch mal an Land gehen zu können, und der bescheinigt unserem Ohje Ohje, dass er ein klassisches Werk von größter Bedeutung gefunden hat.«

»Die Venus von Milo ist die Vinland-Map unter den Statuen«, dachte Amanda Hollis. Aber dann traf sie wieder was von rechts oben, nur war der Einschlag diesmal stärker als sonst, war nicht nur im Kopf, sondern im ganzen Körper zu spüren: »Venus Milo Vinland Map VM VM!!!« durchzuckte es sie, und einen Moment lang sah Amanda Hollis, wie sich zwei Parallelen trafen und vor ihr vereinten.

Dann verlor sich das Bild in den Untiefen ihres Kopfes, und was zurückblieb, war ein Gefühl, eine Ahnung, eine weitere Spur.

Nur leider war die Remington auf einer ganz anderen, zumindest fing sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund plötzlich an, über die vielen Ziegen zu reden, die überall auf Melos grasten und die bis zu ihrem Abtransport frei herumliegende Venus von Milo mit einem Salzstein verwechselten und ihr ein Ohr abzukauen versuchten.

»Oder abzulecken«, sagte die Remington, »das ist nicht ganz klar.«

Aber diesmal war es an Amanda Hollis, woanders zu sein.

»Allem Anschein nach gibt es nicht nur Leute, die ein bisschen was von der Vergangenheit abkratzen oder wegschneiden wollen, sondern auch Kreaturen, die die Geschichte als solche aufzukauen versuchen«, dachte Amanda Hollis. »Erst fressen diese isländischen Wikinger die Karten ihrer unterworfenen Länder auf und dann die griechischen Ziegen die Ohren einer im Gras liegenden Statue.«

Andererseits war die Geschichte mit den Ziegen vielleicht ja nur ein Test. Nein, sehr wahrscheinlich war es das sogar. Nur dass es, im Gegensatz zu der Stimme im Rohr, der Remington nicht darum ging, sie auf sich selbst zurück-, sondern in eine Herde Ziegen zu werfen.

Das Ziel aber war klar und im Grunde noch immer dasselbe: Es ging darum herauszufinden, ob sie Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden konnte, und darum, zu sehen, ob sie die Spuren, die tief ins Innere der Geschichte führten, zu lesen vermochte , denn nur so, das wusste Amanda Hollis, ließ sich diese Verschwörung entschlüsseln – und es war auch der einzige Weg, den zu gehen bedeutete, sich wirklich ganz in den Dienst der Sache, und das heißt Amerikas zu stellen.

So gesehen musste die Maschine neben all den Griechen und ihren Ziegen auch die Franzosen erwähnen, dann steckte selbst in diesem Ablenkungsmanöver noch ein Hinweis, schließlich wusste jeder, dass es die Franzosen waren, die den Amerikanern die Freiheitsstatue geschenkt hatten.

Mit anderen Worten: Das, was ihr die Remington da erzählt hatte, hatte nicht nur seinen Sinn, sondern auch seinen Platz, war als Teil des Indexes zu erkennen und als ein weiterer Schritt hin zur Auflösung der Geschichte zu werten – und als die Maschine Amanda Hollis kurz darauf mitteilte, dass, nachdem die Bedeutung der Venus von Milo klar war, die Besatzung des Schiffes alles daransetzte, die Statue nach Frankreich zu bringen, da begriff Amanda Hollis, dass es sich bei der Geschichte um ein Gleichnis handelte und dass sich Griechenland zu Frankreich wie Frankreich zu Amerika verhielt und die Venus von Milo eine Vorform der Freiheitsstatue war.

Aber da war noch mehr, denn jetzt – endlich – erkannte Amanda Hollis ihren Platz in der Geschichte, konnte ihn über die allgemeine Aufgabe des Registrierens einer Verschwörung hinaus definieren und zumindest für diesen Teil der Erzählung bestimmen, denn dazu war nichts anderes nötig, als die Linie zu verlängern – die Linie, die ihren Ausgangspunkt in der Venus von Milo hatte, über die Freiheitsstatue führte und in der Kopie der Venus in Drexel ihre Fortsetzung fand, um schließlich von dieser aus direkt zu ihr zu laufen, Amanda Susan Marie Hollis, die vor der Remington saß und sich vor freudigem Schrecken weder rührte noch zu atmen getraute.

Aber dann spürte sie, wie der Riemen der Remington einen Ruck tat, und ehe sie sich's versah, teilte ihr die Maschine mit, dass die Griechen gar nicht vorhatten, den Franzosen die Venus von Milo zu schenken.

»Aber warum denn nicht?«, fragte Amanda Hollis und klang ein wenig enttäuscht.

»Ganz einfach«, sagte die Remington, »Melos ist klein, und es dauerte nicht lange und da hatten selbst die griechischen Behörden, die sonst eigentlich nur für ihr Nichtstun bekannt waren, von dem Fund gehört und reklamierten die Venus von Milo für sich.«

»Und dann?«

»Dann machten die Franzosen das, was ihrer Meinung nach eigentlich die griechischen Behörden in diesem Fall tun sollten, nämlich nichts, was allerdings dazu führte, dass die griechische Behördenmaschinerie erst so richtig in Fahrt kam, das heißt ihr Chef den Franzosen einen netten Brief schrieb und ihnen anschließend, weil ihm die Antwort nicht gefiel, einen Trupp griechischer Soldaten vorbeischickte, woraufhin es zu einem kleinen Scharmützel mit Blutverlust kam.«

»Das hätte der Papst mit den Mongolen auch machen sollen«, dachte Amanda Hollis, »schreibt ihnen einen netten Brief, bekommt eine Antwort, die ihm ganz gewiss nicht gefallen hat und unternimmt – nichts. Zumindest hat die Stimme im Rohr nichts von einem Angriff des päpstlichen Heeres auf die Mongolen erzählt.«

Woraufhin Amanda Hollis die Mongolengeschichte in ihrem Kopf wieder beiseitelegte und sich der Venus von Milo zuwandte, um die sich gerade ein paar Franzosen und Griechen balgten.

»Wer hat gewonnen?«, fragte Amanda Hollis, darauf hoffend, zwischen all den Namen und Zahlen, den Verbindungen und Parallelen, auch mal so etwas wie einen Sieger notieren zu können. Nur leider hatte sie die Rechnung ohne die Remington gemacht.

»Niemand hat gewonnen«, sagte die Maschine, und es klang, als meinte sie's ernst. »Es gab keinen Sieger in der Geschichte. Oder zwei, ganz wie du willst. Jedenfalls merkten die Griechen schon bald, dass l'amour bei den Franzosen so weit geht, dass die Männer bereit sind, für eine Frauenstatue zu sterben, woraufhin die Griechen beschlossen, sich diesen Irrsinn anständig bezahlen zu lassen, und kurz darauf winkten sie mit einem Bündel Geld in den Händen einem Schiff nach, an dessen Bord sich nicht nur die Venus von Milo, sondern auch unser Freund 'Fauvel the Marvel' befand, denn der war nicht nur seit fast vierzig Jahren französischer Vize-Konsul in Athen, sondern auch ein bedeutender Sammler antiker Kunstwerke, wobei das mit dem Sammeln in seinem Fall so eine Sache war, schließlich hatte Fauvel bei Amtsantritt von Paris aus die Order erhalten, so viele antike Werke wie möglich in seinen, das heißt französischen Besitz zu bringen, wobei es den Verantwortlichen in Paris völlig egal war, ob das Zeug in Athen erst noch aus der Erde geholt werden musste oder fertig ausgegraben in irgendeinem halb verfallenen Tempel rumstand – Plünderungen waren es so oder so, aber die gehörten nach Ansicht der Franzosen einfach dazu, waren Teil der Geschichte, und der einzige Unterschied bestand darin, dass man in dem einen Fall Spaten und Schippe und in dem anderen Hammer und Meißel brauchte.

Aber wie dem auch sei, als Fauvel jedenfalls die Venus von Milo auf dem Schiff sieht, ist er vollkommen aus dem Häuschen und teilt jedem, der es wissen will – und auch jedem, der es nicht wissen will – mit, dass es sich um die schönste griechische Statue handelt, die er je gesehen hat, und dass ihr Wert nicht zu ermessen sei – und falls doch, dann läge er bei einer Million.«

»Eine Million?!«, rief Amanda Hollis. »Interessant!«

»Ja, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Griechen den Franzosen nur tausend dafür gegeben haben.«

»Und das nennst du anständig bezahlen?«

»Für die Griechen war das viel Geld. Zumindest genug, um sich eine neue Herde Ziegen zu kaufen, und glaub mir, es ist immer noch besser, auf einer Wiese zwischen einer Herde Ziegen als auf einem Schlachtfeld zwischen einem Haufen Toter zu liegen.«

»Und die Franzosen? Also die, die noch lebten?«

»Die wollten sich mit ihrem Schiff eigentlich auf direktem Weg in Richtung Heimat machen, mussten vorher aber noch rüber zu den Osmanen nach Smyrna fahren und dort den französischen Botschafter einladen, denn der wollte dabei sein, wenn die Statue zu Hause in Paris dem fetten französischen König präsentiert wird.«

»Stopp!«, rief Amanda Hollis, »das war gemein!«

»Was denn? Warum?«, fragte die Remington, die sich keiner Schuld bewusst war.

»Weil du das nur gesagt hast, um mich daran zu erinnern, dass ich aus dem Leim gehe! Fett werde! Auseinanderlaufe!«

»Ich hab's gesagt, weil's eine historische Tatsache ist«, sagte die Remington, »der König hat die Venus von Milo nämlich erst Monate nach ihrer Ankunft zu sehen bekommen, ganz einfach weil er zu fett war, um in den Louvre bewegt zu werden.«

»Hatte er keinen Esel?«

»Was?«

»Nichts, vergiss es.«

Und dann, nach ein paar Sekunden, in denen sie schwiegen:

»Es ist wegen der Sloppy Joes, nicht wahr?«

»Meine Sloppy Joes gehen dich nichts an.«

»Und ob sie das tun. Immerhin hast du sie, als du reingekommen bist, neben mich gelegt.«

»Ich habe sie auf deinem Gestell abgelegt, das ist alles.«

»Ist es nicht. Du willst sie nämlich verschlingen.«

»Mitnichten«, ereiferte sich Amanda Hollis, »ich habe sie dahin gelegt, weil dein Gestell wie ein Servierwagen aussieht. Ich wollte sie eigentlich einer anderen Frau geben, aber es ging nicht, jemand hat von dem Wagen die Räder abgeschraubt.«

»Warum nimmst du nicht einfach deine Sloppy Joes und legst sie rüber auf deinen Tisch?«

»Warum sollte ich das tun?«

»Weil es dann leichter ist, die Finger von ihnen zu lassen. Du musst dann nur hier bei mir bleiben, und nichts wird passieren. Drei Mal.«

»Aber ich kann meine Finger auch so von ihnen lassen«, erklärte Amanda Hollis.

»Nein, kannst du nicht«, sagte die Remington, und als Amanda Hollis widersprechen wollte, fiel ihr Blick auf die schmale Metallleiste unter den Tasten, und Amanda Hollis las »MADE AT ILION« und dann »MAD EAT I LION«, und da wusste sie, dass die Maschine recht hatte und ihr verrückter Bauch den Hunger eines Löwen gebar.

Also brachte sie ihre Sloppy Joes schweren Herzens rüber zum Tisch, legte sie, damit sie die Verlockung, die von ihnen ausging, nicht mit ansehen musste, in William Croswells mausgraue Pappboxen, schloss die Klappen fest zu und setzte sich dann wieder an die Remington.

»Sehr schön«, sagte die Maschine.

»Ja«, sagte Amanda Hollis, die das Gefühl hatte, eine Niederlage erlitten zu haben, »aber ich habe es nicht nur wegen mir getan, sondern auch wegen dir. Hätte ich meine Sloppy Joes hier liegen lassen, hättest du sie nämlich genauso gut verschlingen können.«

»Ich?!«, ereiferte sich die Remington.

»Ja, du«, sagte Amanda Hollis.

»Niemals!«, rief die Remington, »ich versuche abzunehmen!«

»Verstehe«, sagte Amanda Hollis.

»Nein, tust du nicht«, erwiderte die Maschine, »im Gegensatz zu dir habe ich nämlich gar keine Chance. Jemand hat mir einen dicken Münzeinwurfkasten an die rechte Hüfte geschraubt, da ist nichts mehr zu machen.«

»Das tut mir leid.«

»Ja, weil dein ganzes Geld drin ist. Aber gut, das soll mein Schaden nicht sein.« Und dann: »Also, wo war ich stehengeblieben?«

»Bei der Venus von Milo«, sagte Amanda Hollis, »und dem französischen König.«

»Achja, der König, der so fett war, dass seine Diener es nicht schafften, ihn fortzubewegen. Von Eseln und Selbstbewegen mal ganz zu schweigen. Aber gut, wie dem auch sei, die Sache war jedenfalls auch ohne den König schon kompliziert genug, denn als die Venus von Milo, nach einer ebenso langen wie lustigen Seereise quer durchs Mittelmeer im Februar 1821 in Paris ankam, war sie in dicke Segeltuchbahnen gewickelt und von oben bis unten komplett verpackt.«

»Weil man nicht wollte, dass sich die französischen Matrosen auf der Überfahrt in sie verlieben«, sagte Amanda Hollis.

»Genau«, sagte die Maschine, »sich verlieben und unschickliche Dinge mit ihr tun.«

»Alles Schweine, diese Franzmänner!«, rief Amanda Hollis, auch wenn sie es eigentlich nur denken wollte. Aber die Remington pflichtete ihr bei.

»Ja, diese Franzosen haben's wirklich faustdick hinter den Ohren«, sagte sie, »und das ist noch nett ausgedrückt.«

»Das ist es«, sagte Amanda Hollis und fühlte sich plötzlich verstanden.

»Und falls jemand glaubt, dass es nur irgendwelche Matrosen sind, die da so Dinge mit Kunstwerken tun, dann irrt er sich.«

»Absolut!«, rief Amanda Hollis, »dann irrt er sich gewaltig!«

»Diese Typen aus dem Louvre sind jedenfalls keinen Deut besser.«

»Keinen einzigen!« bestätigte Amanda Hollis. Aber dann merkte sie, dass sie übers Ziel hinausgeschossen war, das heißt gar keine Ahnung von irgendwelchen Typen aus dem Louvre hatte und sich auch nicht vorstellen konnte, was die für Dinge mit Kunstwerken taten. Also fragte sie: »Was haben diese Louvre-Leute denn getan?«

»Unschöne Dinge«, sagte die Remington, »lauter Ruchlosigkeiten.«

Und nach einer Sekunde, die Amanda Hollis wie ein stilles Zusammenfassen vorkam: »Im Grunde haben sie die Plünderungen, die sie in Athen veranstaltet haben, in Paris fortgesetzt. Nur dass es diesmal nicht ums Ausgraben und Entdecken, sondern ums Wegwerfen und Verstecken ging.«

»Das musst du mir erklären«, sagte Amanda Hollis.

»Das werde ich«, antwortete die Remington und legte auch gleich los.

»Nachdem die Venus von Milo im Louvre angekommen und ausgepackt worden war, sah man, dass die Statue aus zwei großen Teilen bestand, wobei die Trennlinie genau hinter dem Gewand verlief, das sich die Venus um die Hüften geschlungen hatte. Also setzten die Experten die beiden Teile übereinander und dachten, damit die komplette Statue vor sich zu haben. Aber dann bemerkten sie, dass das nicht stimmte und die Venus einst auf einem Sockel gestanden haben musste, denn ein Stück davon klebte ihr noch an den Füßen.«

»Der Sockel war zerbrochen?«, fragte Amanda Hollis.

»Ganz genau«, sagte die Remington.

»Ich nehme an, man hatte ihn nicht gut eingepackt«, sagte Amanda Hollis, »weil man wusste, dass sich niemand in einen Sockel verliebt.«

»Eine durchaus plausible Vermutung«, sagte die Remington, »allerdings war der Sockel wohl schon zu antiken Zeiten zerbrochen, und als man im Februar 1821 im Louvre nach dem fehlenden Sockelstück suchte, fand man es irgendwann auch, und zwar in einem dritten Paket, das ziemlich klein war und ein wenig unscheinbar in der Ecke lag, dafür aber das noch fehlende Fragment enthielt.«

»Die Spiegelgeschichte«, durchfuhr es Amanda Hollis. Und dann: »Drei Teile, die am Ende eins ergeben.«

Aber die Remington war offensichtlich schon wieder woanders.

»Das Sockelstück wurde also ausgepackt und an die Statue gehalten, und siehe da, es passte perfekt. Zumindest, was den Stein selbst betraf. Was dagegen die Inschrift anging, die auf dem Sockel stand, so waren die Experten im Louvre, und allen voran unser Freund Forbin, damit alles andere als glücklich, denn sie kündete vom Namen eines Bildhauers, von dem sie noch nie etwas gehört hatten, und nannte dazu noch eine Stadt, die erst lange nach der klassischen Zeit gegründet worden war – und das noch nicht mal im guten, alten Griechenland, sondern im kaputten, hässlichen Syrien.

Mit anderen Worten: Das, was Forbin und seine Leute vor sich sahen, war ein unbekannter Name, ein Name aus der Zeit des kulturellen Niedergangs, ein Name, in dem zu spiegeln sie sich und ihrer großen Nation nicht zumuten wollten.«

»Stopp!«, rief Amanda Hollis, »hast du da eben 'spiegeln' gesagt?«

»Ja«, sagte die Remington, »aber ich sage dir noch viel mehr, nämlich dass man sich des abgebrochenen Stückes entledigte und damit auch des Namens, des Niedergangs, der eigenen Verneinung.«

»Du meinst …«

»Ein geradezu klassischer Fall von historischer Archivarbeit, ganz recht, auch wenn dafür leider die entscheidenden Beweise fehlen. Aber wie dem auch sei, das passende Sockelstück jedenfalls verschwindet auf mysteriöse Weise, und an dem Bisschen, was bleibt, orientierten sich alle späteren Kopien.«

»Der Sockel ist die Katalogkarte und die Venus von Milo das Werk«, durchfuhr es Amanda Hollis. Und dann: »Die Experten aus dem Louvre gehören also auch mit in die Gruppe der Entkünfter und Herkunftsvernichter!«

Allerdings war die Remington unter ihren Händen bereits fortgefahren.

»Nun, das Verschwinden des Sockelstücks der Venus von Milo hat, wie gesagt, Gründe und geschieht auch nicht einfach so, denn das hätte Fragen aufgeworfen – Fragen, auf die man im Louvre möglicherweise keine Antwort gehabt hätte. Was also tun?«

Amanda Hollis überlegte. Aber die Remington antwortete gleich selbst. Als hätte sie gar keine Frage gestellt. Zumindest nicht ihr …

»Im Grunde genommen ist es ganz einfach. Forbin und seine Leute machen das, was alle Mächtigen tun, wenn offensichtlich ist, dass die einzelnen Teile der Sache, über die sie bestimmen, nicht mehr zueinander passen: Sie ändern nichts an der Sache selbst oder beschäftigen sich mit den einzelnen Teilen, oh nein, sie konstruieren lieber Fragen, bei denen sie die Antworten nicht fürchten müssen. Und dabei ist es egal, ob sie sich diese Antworten selbst geben oder nicht. Wobei es natürlich besser aussieht, wenn andere die 'richtigen' Antworten geben und man sie dann nur noch bestätigen muss.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Amanda Hollis, die das Gefühl hatte, dass ihr die Geschichte zu entgleiten begann, sie zumindest nicht mehr hinterher kam, alle Informationen zu sammeln, gleichwohl sie in einem atemberaubenden Tempo schrieb und Katalogkarte um Katalogkarte füllte.

»Nun«, sagte die Remington, die offenbar ein Einsehen, zumindest aber ein Interesse an Zusammenfassungen hatte, »sagen wir so: Wenn es einigen wenigen gelingt, sehr vielen die falschen Fragen einzureden, brauchen diese wenigen die Antworten der vielen nicht zu fürchten. Im Gegenteil, sie können anschließend mit ihrer Hilfe umso besser regieren.«

»Und was hat das mit der Venus von Milo zu tun?«

»Ganz einfach, in Fall der Venus fanden Forbin und seine Leute heraus, dass der abgebrochene Teil des Sockels in der Breite ein ganzes Stück über die Statue hinausragte, das heißt der gesamte Sockel in Wahrheit so groß war, dass einst auf ihm noch etwas gestanden haben musste. Also schauten sie sich den Sockel noch mal genauer an und bemerkten eine Art Abdruck im Stein. Aber was hatte diesen Abdruck verursacht?«

»Ich weiß es nicht«, kam es aus Amanda Hollis' Mund geschossen.

»Aber du kannst es dir denken«, sagte die Remington. Und noch bevor Amanda Hollis »Nein« sagen konnte … »Es ist im Grunde nur eine Frage des richtigen Verbindens von dem, was man sieht. Oder hört. Oder kennt. Jedenfalls, nachdem Forbin die Venus von Milo mit anderen Statuen verglichen hatte, war er sich sicher, dass ursprünglich eine kleine Säule neben der Venus gestanden hatte – eine Säule, die jetzt nicht mehr da war, irgendwann aber einmal da gewesen sein musste.

Da nun aber die Inschrift auf der Seite des Sockels eingemeißelt war, auf der die Säule stand, konnte es sich, so schlussfolgerten Forbin und seine Leute, bei der Säule nur um eine spätere Ergänzung handeln, und dies umso mehr, als dass niemand eine solch große, klassische Schönheit wie die Venus von Milo schaffen und ihr zugleich eine kleine, dicke Säule neben das anmutige Bein stellen konnte, eine Säule, die obendrein wahrscheinlich noch von einem hässlichen Hermeskopf bekrönt war.

Kurzum, für die Experten im Louvre war die Säule eine ebenso späte wie misslungene Rekonstruktion und die entsprechenden Fragen damit klar: Musste man ein solches Abfallprodukt wirklich der anmutigen Venus von Milo zur Seite stellen? Ja, durfte man das überhaupt?

Natürlich lautete die Antwort »Nein«, und ebenso natürlich verschwand der Teil des Sockels und mit ihm die Inschrift und alle Möglichkeiten, die Sache anders zu sehen. Klassisch und schön sollte die Venus von Milo sein – und klassisch und schön ist sie bis heute.«

»Wow«, sagte Amanda Hollis, »das hilft mir wirklich weiter.«

Und während sie sich die nächste Katalogkarte nahm. »Aber was ich noch nicht ganz verstehe, ist, warum diese Venus für die Franzosen so eine große Bedeutung hatte.«

»Nun«, sagte die Remington, die mit der Fragen anscheinend gerechnet hatte, »das liegt ganz einfach daran, dass diese Franzosen damals nichts anderes hatten. Zumindest nicht in ihrem geliebten Louvre. Der berühmte Apoll von Belvedere, den sie sich ein paar Jahre zuvor aus dem Vatikan 'ausgeborgt' hatten, war 1815 dorthin zurückgekehrt, das heißt, die Italiener hatten ihn sich wiedergeholt, kaum dass sie mitbekommen hatten, dass Napoleon, der zuvor immer neben Apoll posiert und einen auf dicke Hose gemacht hatte, auf St. Helena saß und von dort nicht mehr wegkam.

Und dann waren da natürlich auch noch die Engländer und ihr Lord Elgin, der dem Parthenon über Jahre hinweg die verzierten Marmorplatten aus dem Dachgebälk schlug und dazu noch jede Menge Skulpturen mitgehen ließ, was das Britische Parlament als eine derart große Kulturleistung empfand, dass es die Dinger 1816 kaufte und ins British Museum bringen ließ.«

»Das British Museum?«, fragte Amanda Hollis.

»Ja«, sagte die Remington.

»Interessant!« Und dann: »Was ist mit den Spaniern?«

»Was soll mit den Spaniern sein?«, fragte die Remington.

»Haben die nicht auch irgendwas geklaut? Oder sich wenigstens was wiedergeholt?«

»Nicht das ich wüsste«, sagte die Remington ehrlichen Herzens.

Aber Amanda Hollis ließ sich nicht entmutigen, schließlich war dieser Ferrajoli in Wahrheit gar kein Spanier, sondern Italiener, und die Italiener waren bereits mit im Spiel. Fehlten also nur noch die Deutschen.

»Und die Deutschen? Was ist mit den Deutschen?«, fragte Amanda Hollis ebenso folgerichtig wie geradeheraus.

»Nun«, sagte die Maschine, und es klang, als räuspere sie sich, »nach allem, was ich weiß, gehörte das Land, auf dem die Venus von Milo gefunden wurde, gar nicht den Franzosen und auch nicht den Griechen, sondern den Deutschen, genauer gesagt einem ihrer Könige, der es 1817 gekauft hatte, und es hätte niemand verwundert, wenn die Deutschen wegen der Statue einen Krieg angefangen hätten, denn genauso wie sich Franzosen in ein Stück Marmor verlieben können, können Deutsche wegen einem Stück Marmor einen Krieg anfangen, und zwar einen richtigen, nicht nur so ein bisschen rumscharmützeln, wie es diese Griechen getan haben.«

»Und wann haben die Deutschen die Franzosen überfallen?«, fragte Amanda Hollis, die sich sicher war, dass es zum Krieg gekommen war.

»Gar nicht«, sagte die Remington, »die Deutschen haben nämlich schon bald mitbekommen, dass die Venus von Milo überhaupt gar kein klassisches Werk ist. Und für nichtklassische Werke fangen die Deutschen nun mal keinen klassischen Krieg an.«

»Aber wie haben die Deutschen das denn erfahren?«

»Ganz einfach durch ihren Drang, auch noch die abgelegensten wissenschaftlichen Werke zu lesen – die deutsche Form des Bildungsfimmels.«

»Das musst du mir erklären«, sagte Amanda Hollis, die irgendwie froh war, dass die Deutschen nicht aus dem Spiel, das heißt damals schon mit von der Partie waren.

»Die Sache ist folgende«, begann die Remington ihre Erklärung, »als die Venus von Milo nach ihrer Ankunft im Louvre untersucht wurde, waren nicht alle Experten der Ansicht, dass es sich bei der Inschrift auf dem Sockel um einen späteren Zusatz handelte. Ein Mann war nämlich ganz anderer Meinung. Sein Name war Charles Othon Frédéric Jean Baptiste de Clarac, und –«

»Stopp!«, sagte Amanda Hollis.

»Was ist?«

»Ich kann nicht so schnell schreiben. Wie war noch mal der Name?«

»Charles Othon Frédéric Jean Baptiste de Clarac«, wiederholte die Remington, »in Adelskreisen auch als Le Comte de Clarac bekannt, von Freunden aber nur Frédéric genannt.«

»Danke«, sagte Amanda Hollis. Und dann, in Gedanken: »Memo an mich: Ich werde ihn im Register unter 'Clarac, Frédéric de' führen, schließlich weiß sonst niemand, ob er ihn unter C, O, F, J, B oder D suchen soll, und ich will nicht, dass es meinem Index so wie dem der Vinland-Map geht, wo vier Nicolasse genannt sind und am Ende doch keiner den richtigen findet.

Andererseits, wer weiß, vielleicht ist der richtige Nicolas ja doch verzeichnet und die Stimme im Rohr hat ihn einfach nicht gefunden, weil er unter einem anderen Namen eingetragen worden ist. Ich muss also aufpassen und im Falle meines Frédéric sämtliche Varianten mit aufnehmen, das heißt Frédéric de Clarac zum Haupteintrag machen und alle anderen Namensmöglichkeiten dahinter vermerken. Oder ich trage ihn gleich mehrfach ein, das heißt ich führe ihn unter den Buchstaben C, O, F, J, B und D und verweise dann jeweils auf die anderen Möglichkeiten. Zwar sind die Register heutzutage nach Nachnamen geordnet, aber das waren sie nicht immer, schließlich hat Prof. Orscube gelehrt, dass die Angehörigen des europäischen Adels in den entsprechenden Büchern meist unter ihrem Vornamen genannt sind – und wer weiß, ob diese Tradition nicht doch noch irgendwo gepflegt wird.«

Und weil das für ein Memo etwas lang war: »Ich muss also alles so reinschrieben, wie es andere raussuchen könnten.«

Woraufhin Amanda Hollis den Satz auf ihre Katalogkarte schrieb und, weil sie einmal dabei war, auch gleich noch einen anderen hinzufügte: »Dieser Clarac ist für die Venus von Milo das, was Skelton und Painter für die Vinland-Map sind – und Bonnycastle und Nicholson für William Croswells Sternkarte waren.«

Dann wendete sie sich mit einem Lächeln, das nach dem, wie der Tag begonnen hatte, nicht zu erwarten gewesen war, wieder der Remington zu und sagte: »Danke, du kannst jetzt fortfahren.«

»Ich weiß leider nicht, wo ich stehengeblieben war«, sagte die Maschine ehrlichen Herzens.

»Bei Monsieur de Clarac«, sagte Amanda Hollis, »Charles Othon Frédéric Jean Baptiste mit Vornamen. In adligen Kreisen auch –«

»Danke«, sagte die Remington, »ich erinnere mich wieder. Monsieur Clarac war der verantwortliche Konservator für die klassischen Antiken im Louvre, und er hielt mit seiner Meinung über die Venus von Milo nicht hinterm Berg. Jedenfalls schrieb er, als er merkte, dass niemand seine Sicht auf die Dinge teilte, dem König einen Brief, um ihn darüber zu informieren, dass es sich bei der Statue um alles andere als ein klassisches Werk handele. Allerdings erreichte der Brief den König nicht, denn Claracs Vorgesetzter, Monsieur de Forbin, ließ ihn verschwinden.«

»Hab ich's doch gewusst!« rief Amanda Hollis.

»Was?« fragte die Remington.

»Dass diese Franzosen immer einen Schritt zu weit gehen.«

Mehr aber sagte sie nicht, wollte sie nicht erzählen, und nur in ihrem Kopf ging die Geschichte weiter, verlängerten sich die Linien und wuchsen über die Grenze des bereits Vermuteten ins Land der Gewissheit, und Amanda Hollis erkannte, dass sie an einem Punkt war, wo nicht nur die Geschichte der Dinge, sondern auch die Dinge selbst vernichtet wurden.

»Jedenfalls«, sagte die Remington, die das Gefühl hatte, ihre Erzählung zu Ende bringen zu müssen, »als die Venus von Milo zum ersten Mal öffentlich ausgestellt wurde, feierte ganz Frankreich sie als das, was sie nach dem Willen von Forbin und seinen Getreuen sein sollte – ein großes klassisches Werk.«

»Und dieser Clarac?«, fragte Amanda Hollis.

»Der wusste, dass sie das nicht war«, sagte die Remington, »allerdings schrieb er dem König keinen weiteren Brief – er hatte schließlich auf seinen ersten keine Antwort erhalten –, sondern tat seine Ansichten über die Venus in einem Aufsatz kund, wobei er es sich, zur Untermauerung seiner These, nicht nehmen ließ, seinem Werk ein Bild voranzustellen, genauer gesagt eine Zeichnung, die ein junger französischer Kunststudent angefertigt hatte und die die Venus von Milo mit dem verschwundenen Sockelstück zeigt.«

»Ein junger französischer Kunststudent?«, fragte Amanda Hollis, »weißhäutig und sehr adrett?«

»Keine Ahnung«, sagte die Remington, »alles, was ich weiß, ist, dass Claracs Aufsatz in Frankreich so ziemlich ignoriert worden ist, dass heißt offiziell hat ihn niemand gelesen, währenddessen ihn die Deutschen geradezu verschlungen und daraufhin den Krieg abgeblasen haben.«

»Also, wenn du mich fragst, klingt das nicht sehr plausibel«, sagte Amanda Hollis. »Ich meine, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Deutschen wegen irgendeines Aufsatzes auf einen Krieg verzichten.«

»Haben sie aber.«

»Und der französische König?«

»Der hat von all dem nichts mitbekommen, denn er hat die Venus von Milo als so ziemlich letzter von allen gesehen. Er war nämlich so fett, dass er sich nur in einem Rollstuhl vorwärtsbewegen konnte und zumindest rein körperlich auch nicht mehr tragbar war, weshalb man die Venus von Milo irgendwann in einen Raum reinrollte, in den man auch den König reinrollen konnte.«

»In Harvard war es genauso«, sagte Amanda Hollis, »nur dass da der König Präsident Kirkland hieß und die Statue William Croswell. Und nachdem William Croswell jahrelang faul in der Bibliothek rumgesessen und sich so gut wie nicht bewegt hat, hat sich Präsident Kirkland selbst bewegt und ist zu William Croswell gefahren, um ihm zu sagen, dass er gefeuert ist. Allerdings ist er nicht mit dem Rollstuhl gekommen, sondern mit dem Schlitten, denn es war Winter und Präsident Kirkland nicht mehr so gut zu Fuß. In beiden Fällen aber war es das Jahr 1821, in dem das passiert ist.«

»Wer ist William Croswell?«, fragte die Remington.

»Niemand«, sagte Amanda Hollis, die sich plötzlich ertappt fühlte und ihre frei ausgeplauderten Worte verdammte, »William Croswell ist ein Niemand.«

»Dann haben sie also 1821 in Harvard niemand entlassen?«

»Ja«, sagte Amanda Hollis, »haben sie.«

»Und im Louvre hat 1821 niemand ein Stück Sockel mit einer Inschrift gesehen.«

»Doch, einer«, sagte Amanda Hollis.

»Stimmt«, sagte die Remington, »gut aufgepasst. Einer hat das Stück Sockel mit der Inschrift gesehen und sogar auf dem Papier eine Kopie davon gemacht und sie auch veröffentlicht, nur leider ist er später selbst unsichtbar geworden. Genau wie der Sockel und die Inschrift zuvor – und seine Kopie mit ihm.«

»Die Geschichte ist voller falscher Originale und echter Kopien«, dachte Amanda Hollis – und dann fiel ihr was ein.

Hatte die Stimme im Rohr die Vinland-Map nicht auch als »echte Kopie« bezeichnet? Und hatte sie, Amanda Hollis, damals nichts damit anzufangen gewusst und auch vergessen zu fragen, was das bedeutet?

Ganz gewiss war dem so – und jetzt, jetzt hatte sie eine Antwort gefunden, jetzt wusste sie, was sich hinter einer »echten Kopie« verbarg. Sie enthielt ganz einfach das, was auf dem Original nicht mehr zu sehen war. In diesem Fall ein verschwundenes Stück Sockel und im Falle der Vinland-Map … was war da eigentlich verschwunden? War da überhaupt was verschwunden? Immerhin war Amerika zum ersten Mal auf einer Karte verzeichnet. Bedeutete das also, dass Amerika auf dem Original der Karte gar nicht mit drauf war?

Das konnte unmöglich sein, schließlich hatten die Wikinger das Land betreten, um nicht zu sagen erobert.

Und das war das Stichwort, das Amanda Hollis brauchte, das Schlagwort, das ihr für die Lösung des kleinen Rätsels aus echten Kopien und falschen Originalen noch fehlte – und sie war froh, es sich selbst gegeben zu haben.

Wahrscheinlich, so kombinierte sie, während unter ihr die Hand mit dem Füller wie von selbst über die Katalogkarte eilte, Verbindungen knüpfte und aus Bildern im Kopf Worte auf dem Papier machte, wahrscheinlich war auf der ursprünglichen Karte Amerika tatsächlich nicht drauf, allein schon deshalb nicht, weil der eroberte Teil ziemlich klein war und die Wikinger das Land nach drei Jahren auch schon wieder aufgeben mussten. Zumindest wenn es zutraf, was ihr die Stimme im Rohr da erzählte hatte.

Andererseits, bisher hatte alles zugetroffen, und was immer die Stimme erzählt hatte, es war ihr, Amanda Hollis, nicht schwergefallen, daraus ein Netz aus Verweisen zu weben, in das sich alle weiteren Informationen, die die Stimme ihr gab, mit ein wenig Geschick (und der ein oder anderen Nachfrage) einfügen ließen.

Aber da war noch mehr, denn nicht nur bildete die Erzählung der Stimme ein Ganzes, nein, sie ließ sich auch mit jener verbinden, die die Remington ihr gab, und zwar so, dass sie die eine problemlos an die andere anknüpfen und das heißt beide miteinander verbinden konnte, und das, obwohl die Ereignisse, von denen die Remington berichtete, zum Teil mehr als hundert Jahre vor denen lagen, über die die Stimme im Rohr erzählte hatte – und zugleich, zu einem anderen Teil, Jahrhunderte später passiert waren.

Hinsichtlich echter Kopien und falscher Originale aber konnte das nur Folgendes bedeuten: Obwohl die Wikinger die Karten der Länder, die sie erobert hatten, aufzukauen pflegten, um die Unterlegenen mit ihren Zähnen ein zweites Mal zu zermalmen und so ihren Sieg zu verdoppeln, hatten sie im Falle von Amerika offensichtlich Probleme bekommen, schließlich war ihre Eroberung hier nur von kurzer Dauer gewesen und hatte sich auch nur auf einen kleinen Teil des Landes beschränkt.

Nur ein Stück Ostküste wegknabbern zu können, hätte den Wikingern aber gewiss keine Befriedigung verschafft, das heißt sie nicht satt, sondern nur noch hungriger gemacht. Allerdings war dieser Hunger nicht zu stillen, denn mehr Land war in Amerika anscheinend nicht zu erobern und die Wikinger überdies auch bald wieder zu Hause nach Island gesegelt.

Und so kam es, dass es die isländischen Wikinger unterließen, Amerika auf der großen Karte ihrer Eroberungen einzuzeichnen, und die Sache wäre wohl in Vergessenheit geraten, das heißt hätte auf dem umgekehrten Weg dasselbe unglückliche Schicksal all jener Länder und Völker genommen, die von den Wikingern aufgekaut worden waren, wenn, ja wenn die Wikinger nicht später zwei Sagas geschrieben und eine Karte von dem Land gezeichnet hätten, das sie vor langer, langer Zeit betreten, aber nie aufgekaut hatten.

»Und so entsteht aus einem fehlenden bzw. falschen Original eine echte Kopie«, schloss Amanda Hollis ihre Gedanken – und hatte das Gefühl, angekommen zu sein, zum Mindesten aber einen Etappensieg errungen zu haben.

Aber die Remington war anscheinend schon wieder auf einer anderen Strecke unterwegs durch die Geschichte. Oder wollte sie ein weiteres Mal testen.

»Weißt du, was interessant ist«, fragte die Maschine und gab sich, weil Amanda Hollis noch damit beschäftigt war, sich Notizen zu machen, die Antwort gleich selbst, »der Leuchter in Drexel ist genau einhundertfünfunddreißig Jahre nach dem Sockelstück der Venus von Milo verschwunden. Wobei offiziell niemand weiß, was aus dem Leuchter geworden ist, was allerdings nicht weiter schlimm ist, dann es hat 1821 im Louvre auch niemand offiziell ein Stück Sockel mit irgendeiner Inschrift gesehen, genauso wie – im selben Jahr – in Harvard offiziell niemand entlassen worden ist.«

Und dann, direkt an Amanda Hollis gewandt: »Vielleicht solltest du noch ein bisschen im Niemandsland suchen.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Amanda Hollis, die gerade mit Schreiben fertig geworden war und jetzt auf den nächsten Hinweis wartete. »Was hat denn 'Niemandsland' zu bedeuten?«

»Das bedeutet, dass hier jemand ein paar Sachen vermischt, die in Wahrheit nichts miteinander zu tun haben«, sagte die Maschine.

»Nichts?«, fragte Amanda Hollis, »was soll denn ›Nichts‹ heißen?«

»›Nichts‹ heißt, dass es keine Verbindung zwischen dem Leuchter aus Drexel auf der einen und der Venus von Milo auf der anderen Seite gibt«, sagte die Maschine. »Allerdings versucht jemand, eine solche herzustellen, und zwar mit Hilfe des Zettels, den du mitgebracht hast und auf dem steht: ›In Drexel ist der Leuchter verschwunden und bei der Venus von Milo der Sockel.‹«

»Stopp!«, sagte Amanda Hollis, die genug von irgendwelchen Ablenkungsmanövern und Unklarheiten hatte. »Ich habe dich gestern gefragt, wer den Zettel geschrieben hat, und das Einzige, was du geantwortet hast, war 'kawdzgh'.«

»Und jetzt?«

»Will ich eine Antwort. Und zwar eine richtige!«

»Na schön, ich werde dir eine geben«, sagte die Remington.

»Ich bin gespannt«, sagte Amanda Hollis.

»kawdzgh«, kam's im nächsten Moment zum zweiten Mal aus der Remington geflutscht.

»Schluss damit!«, schrie Amanda Hollis, sprang auf und schlug auf die Remington ein. »Wer zum Teufel ist kawdzgh?«

»Was weiß ich?! Irgendjemand. Niemand. Alle zusammen!«, rief die Remington, in der Hoffnung, das Amanda Hollis in ihrem Furor sie hörte. »kawdzgh heißt, 'keine ahnung wer den zettel geschrieben hat'. Oder die Zettel, ganz wie du willst.«

»Was?!« Und dann, nach etwas, das wie ein Zusammensacken, vielleicht sogar ein Darniederplumpsen klang. »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«

»Weil du darüber nachdenken wolltest.«

»Ich habe darüber nachgedacht!« (Dies offensichtlich von unten, vom Boden.)

»Und?«

»Nichts.«

»Nichts? Was soll denn 'Nichts' heißen?« (Dies eindeutig von oben herab).

»Aufhören!«, rief Amanda Hollis, die sich wieder aufzurappeln versuchte, »ich hab' heute Geburtstag.«

»Ach, und deshalb ist es erlaubt, mit irgendeiner dämlichen Frage über die Venus von Milo zur Tür reinzustürmen und nicht mal Guten Morgen zu sagen?«

»Die Frage war berechtigt«, sagte Amanda Hollis, die jetzt wieder stand, »außerdem hatte ich keine Zeit.«

»Aber ich soll welche haben?! Und dann auch noch über die Venus von Milo Bescheid wissen …«

»Also, deine Zeit hab ich dir bezahlt, und dass du über die Venus von Milo Bescheid weißt, kannst du nicht leugnen.«

»Und wenn schon, ich bin eine Bibliotheksschreibmaschine. Meine Walze ist ein nicht abgekratztes Palimpsest.«

»Und das kannst nur du lesen?«

»Ich kann jedenfalls nichts lesen, was nicht da ist. Falls du aber jemanden suchst, der das kann, frag 'nen Archäologen. Falls du allerdings wissen willst, mit was für einer Maschine der Zettel geschrieben wurde, frag mich.«

»Na gut, schieß los.«

»Zehn Cent?«

»Was?«

»Ohne Geld, keine Zeit. Und erst recht kein Geschieße.«

»Es sind meine letzten zehn Cent«, sagte Amanda Hollis und stopfte das Geld in den Schlitz.

»Okay«, sagte die Remington, »der Zettel hier wurde mit einer Underwood No. 4. Standard-Schreibmaschine geschrieben. Gute Arbeiterin, aber bei weitem nicht so berühmt wie No. 5. Die Maschine selbst scheint mir eines der ersten Modelle zu sein. Ich würde sagen hergestellt im Jahr 1911. Dürfte eigentlich schon längst nicht mehr in Betrieb sein. Verfügt über eineRücktaste, einen        Tabulator und ein zweifarbiges Band mit automatischer Umkehrvorrichtung. Hat außerdem eine Umschaltsperre ZUR DAUERHAFTEN VERWENDUNG VON GROSSBUCHSTABEN und geht auf liniertem Papier exakt auf dem Strich. Als Maschine zwar insgesamt etwas hochbeinig, macht aber trotzdem saubere 76 Zeichen pro Zeile. Was allerdings die Underwood betrifft, mit der der Zettel hier geschrieben wurde, so steht sie dem leicht wackeligen Schriftbild nach auf dem Gestell, das Harry Bates am 1. April 1909 zum Patent angemeldet hat. Patentnummer 1081198 – kein Scherz.«

Und dann: »Ich sollte vielleicht noch hinzufügen, dass die Underwood No. 4 zehn Cent für dreißig Minuten nimmt. Inflationsbereinigt bin ich also um einiges preiswerter.«

»Und jetzt?«, fragte Amanda Hollis.

»Fassen wir alles noch mal zusammen«, sagte die Remington und schnurrte gleich weiter. »Am Montag hängst du – aus Gründen, über die ich lieber schweige – einen Zettel ans Schwarze Brett der Bibliothek, auf dem steht: 'Was ist eigentlich aus dem Kronleuchter in Drexel geworden?'«

»Daraufhin fragt am Dienstag jemand per Aushang: 'Ist der Leuchter in der großen Halle im Hauptgebäude von Drexel gemeint? Der mit der Venus von Milo darunter?'«

»Was du noch am Nachmittag desselben Tages mit 'JA!' beantwortest, woraufhin dieser Jemand am Mittwochmorgen – wiederum schriftlich – verkündet: 'Bei der Venus von Milo ist der Sockel verschwunden – und in Drexel der Leuchter.' – Soweit korrekt?«

»Ich denke schon.«

»Gut, dann würde ich sagen, dass die Sache mit der Venus von Milo nicht zählt.«

»Was?!«

»Es war eine Abschweifung, ein Exkurs, mehr nicht. Wobei ich annehme, dass er im Gegensatz zu mir nicht als Geldbeschaffungsmaßnahme gedacht war. In einer anderen Tastenkombination ausgedrückt: Bei dem Stück Papier handelt es sich meiner Meinung nach um einen Versuch, sich von der Ernsthaftigkeit deiner Absichten zu überzeugen und zugleich die eigene Kennerschaft zu präsentieren.«

»Aber warum?«, fragte Amanda Hollis. »Wozu?«

»Eindeutig die falschen Fragen«, sagte die Remington, »zumindest keine, die ich dir beantworten kann.«

»Und was schlägst du jetzt vor?«

»Du schlägst, ich schreibe«, sagte die Remington – und schrieb, derweil Amanda Hollis vorsichtig schlug.

»Wer bist du?«

»Ist das alles«, fragte die Remington.

»Ja,« sagte Amanda Hollis und zog das Blatt Papier aus der Maschine, »ich glaube schon.« Und nur ein Blick, der sehnsüchtig rüber zum Tisch flankte, verriet, dass da noch etwas war.

LVII

An diesem Abend zog Amanda Hollis das Bild des falschen William Croswell unter ihrem Bett hervor. Die Oberfläche war bereits von einer dünnen Schicht Staub überzogen, und als Amanda Hollis sie wegzupusten versuchte, hatte sie das Gefühl, als klebe der Staub auf dem großen, mondigen Gesicht des ersten Bischofs von Albany fest – eine Patina alles Irdischen, Reste des Niedergeflocktseins der Geschichte.

Aber warum auch nicht? Seine Mutter hatte ihn aus Schmalz ausgebacken, und sie, Amanda Hollis, hatte ihn unter ihrem Bett beerdigt. Dazwischen lag ein ganzes Leben, eines, von dem sie nichts wusste, außer dass es im Dienst des Allmächtigen stand und einen Namen gehabt hatte: William Croswell, abgekratzt Doane.

So gesehen war es nur folgerichtig, um nicht zu sagen fast schon ein Glück, dass das Bild keinen Abdruck auf der Wand über ihrem Bett hinterlassen hatte, und selbst der Nagel, der an der Stelle, an der das Bild gehangen hatte, aus dem Mauerwerk ragte, war nicht dazu geeignet, Erinnerungen zu wecken, denn er hatte an dem Tag, an dem sie eingezogen war, bereits in der Wand gesteckt, und während Amanda Hollis das Bild zurück unters Bett schob und zu dem Nagel aufblickte, stellte sie sich vor, dass es Trimteed Vandal gewesen war, der ihn hineingeschlagen hatte, und zwar mit der bloßen Hand, an einem lausigen Tag im November.

Trimteed Vandal aber war nicht mehr hier, und William Croswell war es im Grunde nie gewesen, und das hieß, dass sie allein war, dass es niemanden gab, der mit ihr zwischen einem Nagel und einem Bild im Bett liegen konnte, und sosehr sie sich auch wünschte, dass es eines Tages anders sein würde, sowenig ließ sich hier und jetzt etwas daran ändern, und da nützte es auch nichts, dass sie Geburtstag hatte.

»Dreißig«, sagte Amanda Hollis und schaltete den Fernseher ein.

Was sie sogleich zu sehen bekommt, ist ein Bürohaus, ein großes, dunkles Gebäude, das sich, dessen ist sie sich sicher, in Philadelphia befindet.

Genau genommen steht es gegenüber dem Studentenwohnheim, keine fünfzig Meter von ihrem Zimmer entfernt, doch hat das Gebäude eine neue Hülle erhalten und auch die Scheiben sind wieder ganz.

Dahinter aber, die Jalousien in den Büros, sind heruntergelassen.

Als die Kamera heranzoomt, kann Amanda Hollis das Wort »TELEPHONE« über der Eingangstür lesen.

Dann gibt es einen Schnitt in den Bildern, und Amanda Hollis befindet sich im Innern des Hauses, das sie niemals betreten …

Zu sehen ist ein Geschäftsmann. Gewinnendes Äußeres, Anzug, Krawatte, man nimmt ihm ab, dass er hier seine Arbeit verrichtet.

Er sitzt an seinem Schreibtisch und hält ein Blatt Papier in den Händen, vielleicht eine Mitteilung aus einem anderen Büro, ein Bericht, eine Rechnung, etwas, das von Bedeutung ist. Dann wendet er sich nach links und sagt: »Debbie, bitte machen Sie eine Kopie davon.«

Während er das sagt, zoomt die Kamera heraus, wird der Bildausschnitt größer, und Debbie erscheint. Sie ist keine zehn Jahre alt.

Sie nennt ihn »Daddy«.

Er nennt sie »meine Sekretärin«.

Dann Schnitt.

Debbie ist auf dem Weg zum Kopierer.

Sie hat das Blatt Papier in der linken Hand.

In der rechten hält sie eine Puppe.

Sie ist eine Sekretärin, die eine Tochter spielt.

Debbie läuft hinter einer Reihe leerer Stühle entlang.

Der Raum um sie herum ist weiß und im Grunde nicht zu sehen.

Es scheint alles Kulisse.

Dann Schnitt.

Ein neuer weißer Raum. In seiner Mitte ein Wasserspender.

Debbie geht auf ihn zu, nimmt ihre Puppe, lässt sie trinken.

Dann läuft sie weiter, läuft auf die Kamera zu und an ihr vorbei aus dem Bild.

Schnitt.

Debbie ist jetzt von hinten zu sehen. Wieder ist der Raum, in dem sie sich befindet, absolut weiß, und das Einzige, was zu erkennen ist, ist eine Tür.

Es sieht aus, als sei sie gar nicht echt, als sei sie nur auf die Wand aufgemalt.

Debbie läuft auf sie zu, um in ihr zu verschwinden.

Neuer Schnitt. Ein neuer weißer Raum. Darin ein großer weißer Kopierer.

»Der Xerox 914«, flüstert jemand.

Debbie kopiert das ihr anvertraute Blatt. Dann dreht sie sich um und läuft wieder auf die Kamera zu. Sie ist jetzt auf dem Weg vom Kopierer zurück.

Zurück zu ihrem Vater. Dem Geschäftsmann. Der sie »seine Sekretärin« nennt.

Plötzlich bleibt sie stehen. Ein Geräusch ist zu hören, ein hell klingendes »Bing«, und Debbie bekommt ganz große Augen. Es sieht aus, als habe sie etwas von oben rechts getroffen. Zumindest wandern ihre Augen in diese Richtung, derweil der Mund offen stehen bleibt.

Debbie dreht sich um, geht zurück zum Kopierer, legt ihre Puppe mit dem Gesicht nach unten aufs Glas. Dann drückt sie auf »Print«.

Schnitt. Das Gesicht der Puppe erscheint auf dem Papier.

Debbie ist glücklich. So glücklich.

Sie tänzelt aus dem Raum, aus der aufgemalten Tür, an dem Wasserspender und den Stühlen vorbei.

Debbie geht zu ihrem Vater, bringt ihm das gewünschte Papier.

Sie ist eine Tochter, die eine Sekretärin spielt.

Schnitt auf das Papier. Zwei dicht beschriebene Blätter. Was drin steht, ist nicht zu erkennen. Aber es ist auch nicht wichtig, denn der Vater, der Geschäftsmann, fragt nur: »Welches von beiden ist das Original?«

Debbie schaut ihn an – und sagt: »Das habe ich vergessen.«

Und es ist auch wirklich nicht zu entscheiden.

Also Schnitt.

Die Kamera geht ohne Debbie zurück zum Kopierer.

Der Kopierer, der in einem großen weißen Raum steht.

Er macht seine Arbeit ganz von allein.

Schiebt Blatt um Blatt aus seinem Innern heraus.

Es sieht aus, als wolle er nie mehr aufhören damit.

Dann gleitet die Kamera zurück. Sie hat alles gesehen. Es ist alles gezeigt.

Ein letzter Schnitt: Das Firmenlogo wird eingeblendet. Und dazu eine Stimme, die sagt: »Den Namen und die Telefonnummer ihres nächsten Xerox-Händlers finden sie im Telefonbuch.«

Und aus.

Und aus auch der Fernseher. Amanda Hollis will schlafen, träumen, den Realitäten entfliehen. Aber draußen, im Flur, das Telefon, klingelt. Jemand hat die 914 am Ende gewählt.

LVIII

Am nächsten Morgen trat Amanda Hollis, schneeüberkrustet und mir wirrem Haar, in ihr Zimmer, drehte eine kommissarische Runde durch den Raum, steckte der Remington im Vorbeigehen zehn Cent zu, blieb irgendwann stehen und legte ihren Kopf zwischen zwei Aktenordner ins Regal.

»Was soll ich sagen«, sagte die Schreibmaschine, »sieht aus, als hättest du einen netten Abend gehabt – und eine noch nettere Nacht.«

Aber Amanda Hollis ging gar nicht erst darauf ein.

»Ich habe alles falsch gemacht«, sagte sie und schlug die Aktenordner über ihrem Kopf zu einem Spitzdach zusammen. »Ich habe geglaubt, Trimteed Vandal sei ein großer, breitschultriger Mann in meinem Alter, aber als er gestern Abend anrief, hat er sich als kleiner, mickriger Pensionär entpuppt, der gerade in Rente gegangen ist und jetzt Zeit hat, seine Gewerkschaftspostille zu lesen, weshalb er mich aufgefordert hat, ihm sämtliche Ausgaben von The Postal Record, die ich noch habe, zuzusenden. Und glaub mir, ich bin froh, dass es nur 94 und nicht 914 Stück sind, und zwar nicht nur, weil dadurch das Paket leichter wird, wenn du verstehst, was ich meine.«

Aber die Remington verstand nichts von dem, was Amanda Hollis ihr da erzählte, was freilich auch daran lag, dass Amanda Hollis ihr den Rücken zugedreht hatte und ihre Worte ins Dachgeschoss eines Papierhauses reinsprach.

Und so schwieg die Maschine, und Amanda Hollis fuhr fort.

»Ich habe aber nicht nur Trimteed Vandal falsch eingeschätzt, ich habe auch einen Mann angehimmelt, der nur Augen für Gott hat. Und dann« – ein kurzes Schluchzen – »dann habe ich mich auch noch von einem Studenten wie eine Weihnachtsgans ausnehmen lassen, dabei bin ich schon seit Jahren nicht mehr gestopft worden.«

Woraufhin das Dach über ihrem Kopf zusammenbrach.

»Also, was das Stopfen betrifft«, sagte die Remington, »glaub mir, das ist kein gutes Gefühl.«

Aber das war natürlich gelogen. Und beide wussten es.

Also zog Amanda Hollis ihren Kopf unter den Aktenordnern hervor, drehte sich um und schleifte sich rüber zu der Maschine.

»Lass uns ein paar Schlagworte schreiben«, sagte sie und wollte auch schon beginnen. Aber die Remington ließ sämtliche Typenhebel fallen.

»Was ist los?«, fragte Amanda Hollis.

»Ich bin voll«, sagte die Maschine.

»Was?«

»Passt kein Dime mehr rein.«

»Aber …«

»Ich muss mal rasten im Kasten.«

»Ich werde dir helfen«, sagte Amanda Hollis und feuchtfingerte auch schon an dem Kasten herum.

»Hey, du hast keinen Schlüssel!«, ereiferte sich die Remington.

»Aber es ist mein Geld!«, gab Amanda Hollis zurück.

»Du konnt'st es entbehren!«

»Ich werd' dich entleeren!«

»Du wirst mich entehren!«

»Und zwar ohne Begehren!«

Und so weiter.

Und so fort.

Bis schließlich Dick Walrus kam. Er öffnete den Kasten, nahm das Geld heraus und legte es in Amanda Hollis' schwitzende Hände. Dann ging er, um den Schnee aus dem Treppenloch des Betonbunkers zu schippen.

Als Amanda Hollis die Münzen erblickte, sah sie, dass sie in einem Brunnen aus Schweißperlen lagen.

»Wünsch dir was«, sagte die Remington und klapphebelte wild drauflos.

»Ruhe!«, rief William Croswell und drehte sich um.

Am nächsten Morgen war er verschwunden.

LIX

»Was ist passiert?«, fragte Amanda Hollis, kaum dass sie zur Tür rein war und den leergeräumten Tisch vor sich sah, »wo ist William Croswell?«

»Jemand hat ihn abgeholt«, sagte die Remington.

»Wer?«

»Ich weiß es nicht«, gab die Schreib-wie eine Maschine zurück, »ich konnte nichts sehen. Ich wollte meine Typenhebel aufrichten, um nachzuschauen, wer da ist, aber ich hatte keine Kraft. Es war kein Geld mehr in mir.«

»Aber William Croswell braucht seine Schlagworte«, rief Amanda Hollis und klang ernsthaft besorgt.

»Vielleicht ist er einfach nur umgezogen«, sagte die Remington.

»Vielleicht«, sagte Amanda Hollis und setzte sich vor die Maschine. Und dann, als müsse sie sich mit ihren eigenen Worten beweisen, wie gut sie ihn kannte: »William Croswell ist in seinem Leben oft umgezogen. Am Anfang hat er bei der alten Witwe Dana gewohnt, aber dann ist er zum schrecklichen Mister Hancock gezogen, anschließend die Straße runter zum schwerhörigen Mister Bates, danach rüber auf die andere Seite der Stadt zu Mister Saunders, von da aus weiter zu Mister Hayden auf die West Cambridge Road, dann zu Mister Ford auf derselben Straße, anschließend zu Pfarrer Munroe, kurz darauf runter zum Hafen, schließlich zu einem gewissen Mister Frost und zu guter Letzt wieder zu Mister Ford zurück.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte die Maschine.

»Keine Ahnung«, sagte Amanda Hollis, »ich habe es mir einfach gemerkt.«

»Und du hast es nicht aufgeschrieben?«

»Nein«, sagte Amanda Hollis, »es ist nicht das Entscheidende.«

»Was ist das Entscheidende?«, fragte die Maschine.

»Das hier«, sagte Amanda Hollis, nahm ihre beschriebenen Katalogkarten und spannte sie, als sei die Schreib-eine Kopiermaschine, verkehrt herum in die Walze, eine nach der anderen, bis sie voll war und Amanda Hollis am Walzendrehknopf drehen musste, so lange, bis sie die zweite Reihe füllen konnte. Dann die dritte. Die vierte … Und dann kamen die Karten vorn wieder raus. Quollen einfach über, fielen runter auf die Tastatur und rutschten über diese hinweg, Amanda Hollis direkt in den Schoß.

Dort blieben sie liegen.

Als Amanda Hollis sie sah, musste sie an Soldaten auf einem Schlachtfeld denken.

Dann sammelte sie sie ein und stieg hinab ins Archiv des Archivs.

LX

Als Amanda Hollis ankam, waren alle Schränke geöffnet und leer, und auch das Rohr hatte sich verändert und war auf einen Bruchteil seines einstigen Umfanges zusammengeschrumpft, und ohne die Glaswolle und Folie passte in das, was sich da armdick und nackt durch den Raum zog, nicht einmal mehr die Vorstellung einer Stimme hinein.

LXI

Was um alles in der Welt war geschehen? Und: Was konnte sie tun? Sie brauchte einen Hinweis, ein Schlagwort, irgendeins. Aber es war keins gegeben.

Also eilte Amanda Hollis zurück in ihr Zimmer, schnappte sich einen Sloppy Joe, wickelte ihn aus und biss zu.

Sloppy Joe gab ein paar jämmerliche Laute von sich, aber es war nichts, das sich verschlagworten ließ.

Also nahm sie den zweiten, wickelte ihn aus, biss zu.

Er schrie. Es war zum Gotterbarmen, aber es war kein Schlagwort zu hören.

Als Amanda Hollis den nackten Sloppy Joe Nummer drei in ihren Händen hielt, überlegte sie kurz, ihn in die Schreibmaschine zu spannen und durch die Walze zu drehen, aber dann wurde ihr klar, dass das nichts brachte, dass sie nichts anderes tun könnte, als »Sloppy Joe« ins Sandwich zu hämmern, und da ließ sie es sein, schloss die Augen, biss zu und sah, wie sich auf der Innenseite ihre Lider ein Schlagwort aus der Dunkelheit streckte.

»Katalogkarten«, flüsterte Amanda Hollis, als könne sie es nicht glauben, »William Croswell hat das große Buch der Bibliothek zerschnitten und aus dem Bandkatalog eine Sammlung von Katalogkarten gemacht!«

Dann öffnete sie die Augen wieder, schnappte sich eine Katalogkarte und schrieb Katalogkarte drauf.

»Fertig«, dachte Amanda Hollis und griff nach dem angebissenen Sloppy Joe Nummer drei, um ihn von seinem Leid zu erlösen.

Aber da klopfte es auch schon an der Tür.

»Es ist offen«, rief Amanda Hollis, und als sie sich umdrehte, sah sie Dick Walrus im Türrahmen stehen.

»Sie haben Kennedy erschossen«, sagte er, »er ist jetzt Teil des Archivs.«

Impressum

Erstveröffentlichung

Fiktion, Berlin 2016

www.fiktion.cc

ISBN 978 3 95988 031 2

 

Projektleitung

Mathias Gatza, Ingo Niermann (Programm)

Henriette Gallus (Kommunikation)

Julia Stoff (Organisation)

 

Lektorat

Mathias Gatza

 

Korrektorat

Rainer Wieland

 

Design Identity

Vela Arbutina

 

Programmierung

Maxwell Simmer (Version House)

 

Das Copyright für den Text liegt beim Autor.

 

Dieses Buch steht unter eine Creative Commons Zero Lizenz. Sie dürfen das Werk kopieren, verändern, verbreiten und aufführen, auch zu kommerziellen Zwecken, ohne um weitere Erlaubnis bitten zu müssen.

 

Fiktion wird getragen von Fiktion e.V., entwickelt in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

 

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Vorstand

Mathias Gatza, Ingo Niermann

 

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Charlottenburg (Berlin)