Aus dem Englischen von Andreas L. Hofbauer
Im Goldenen Zeitalter ist die Sonne ein Smiley. Eine Schwalbe macht schon einen Sommer. Nicht alles, was hochsteigt, kommt auch wieder runter. Die Menschen sind auf dem Weg zum Mars. Auf Erden hängt der Weizen in satten Ähren.
Es gibt keine kriegerischeren Blumen als Stiefmütterchen. Es scheint, als seien ihre Blütenblätter vorsätzlich mit Färberwaid schwarz befleckt worden. Hat man ein ganzes Beet von ihnen vor sich, kann das eine nervenaufreibende Erfahrung sein. Etwa so, als ob man sich einer Schlachtformation von Kriegern gegenübersieht, die aus voller Kehle brüllen. Diese hinreißenden Blüten variieren in ihren Farbtönen zwischen gelb-gold und orange-violett bis hin zu purpurrot, sie können aber auch milchweiß oder tintenschwarz sein (genauer gesagt ein Purpur, das so dunkel ist, dass es schon beinah schwarz ist).
Popppappp, ein junger Designer mit tadellos gestutztem Bart, radelt, nachdem er seinen Arbeitstag bei der Agentur in Clamber hinter sich gebracht hat, durch die Landschaft Kents nach Hause. Schwalben tollen an den Rändern einer Gewitterwolke und Mauersegler beobachten den Fahrradfahrer aus ihren Nestern unter den schilfgedeckten Traufen.
Popppappp macht sich Sorgen wegen der Berichte aus dem Nahen Osten. Wie jeder andere hat auch er die Hinrichtungsvideos des Faul-Staats auf YouTube gesehen, den sich ausbreitenden schwarzen Fleck auf den animierten Landkarten.
Hinter einer Kurve wird Popppappp einer ganzen Schlachtordnung von Stiefmütterchen gewahr: gelb-rot geflügelte, scharlachrot gekrönte, neonfeurig veilchenblaue, pflaumenfarben samtige. Der Anblick dieses geballten Regimentes ist so überwältigend, dass Popppappp mit Getöse kopfüber in den Grünstreifen stürzt.
Ein großgewachsener, asketisch wirkender Mann steht ganz plötzlich neben dem leerdrehenden Reifen des Fahrrads. Seine Gesichtsfarbe ist von einem Ton, der nicht dieser Welt entstammt, und er trägt einen Trenchcoat, zugeknöpft bis hinauf zum Hals. Popppappp glaubt, in ihm vage jemand zu erkennen, den er schon einmal in der Agentur gesehen hat.
– Guten Habend, mein Name hist Harthur Gland.
– Es tut mir wirklich schrecklich leid, antwortet Popppappp, und ergreift dabei Glands hilfreich ausgestreckte Hand, ich habe offenbar die Kontrolle über mein Gefährt verloren.
– Hübsches Moulton-Klapprad, sagt Gland.
– In der Tat. Das ist ein Jubilee Sportive mit einem Ferrari-roten Rahmen, der nach dem Vorbild japanischer Hochspannungsmasten gestaltet ist.
– Sie scheinen mir hein wenig verwirrt zu sein, mein Herr, erwidert Gland. Konfus. Möglicherweise haben sie heinen kleinen Schlag habbekommen. Kommen sie doch – gleich hum die Hecke gibt hes heine Teestube. Lassen sie mich hein Kännchen Henglisch Breakfast hausgeben und hein bisschen Teegebäck. Mit dicker Sahne hund Marmelade.
– Oh. Fein. Von mir aus gerne. Habe mich wohl ein bisschen mitreißen lassen, als ich Trap Hop auf meinem iPod Classic hörte. Ich denke aber, ich habe keinen Schlag abbekommen.
– Wenn dem haber doch so gewesen wäre, wie könnten sie’s dann wissen? So geht das mit seelischen Blessuren, sie verstehen? Die Schädigung selbst macht gleichzeitig hauch die Fähigkeit zunichte, hetwas hüber sie wissen zu können. Das nennt man den Dunning-Kruger-Heffekt. Der Narr glaubt, her sei hein Weiser.
– Ich verstehe.
Arthur Gland kniet sich hin, um ein fast vollständig schwarzes Stiefmütterchen zu pflücken.
– Begleiterscheinung des Dunning-Kruger-Heffekts hist das Hochstapler-Syndrom. Grundsätzlich begabte hund hochstehende Personen begreifen sich selbst hals Hochstapler hund Betrüger, keinen Deut besser hals halle handeren hauch. Der Weise weiß, dass her hein Narr hist. Sind sie weise, mein Freund?
– Nicht dass ich wüsste, sagt Popppappp, auf der Hut wegen der Fangfrage. Heute Morgen aber widerfuhr mir Ähnliches. Ich konnte meine Brille nicht finden, da ich nichts sehen konnte, weil ich meine Brille nicht aufhatte.
– Das hist hetwas völlig handeres, sagt Gland. Hätte hes sich hum den Dunning-Kruger-Effekt gehandelt, dann hätten sie hangenommen, sie trügen hihre Brille, und sie hätten deshalb hauch jeden Vorschlag habgewiesen, der nahegelegt hätte, dass hihr Haußerstandesein, hihre Brille haufzusetzen mit hierem Haußerstandesein zusammenhinge, hihre Brille haufzusetzen.
– Ja, das leuchtet mir ein, erwidert Popppappp. (Tatsächlich leuchtet ihm nichts ein.) Doch falls ich meine Brille aufgesetzt und überall nachgesehen und meine Brille trotzdem nicht gefunden hätte – wäre ich dann nicht gezwungen gewesen zu schließen, dass ich sie eben nicht aufgesetzt hatte, weil ich ja außerstande war, sie zu finden?
– Hexakt!, sagt Gland. Hin der Tat hätten sie höchstwahrscheinlich geschlossen, dass sie hihre Brille gleichzeitig trügen hund hauch wiederum nicht trügen, was sie wiederum davon hüberzeugt hätte, hein Heuchler zu sein.
Popppappp kann Menschen nicht ausstehen, die ein störendes h vor jedes Wort setzen, das mit einem Vokal beginnt.
In der Teestube teilt Gland Popppappp mit, dass er Geschmacksbuchhalter sei.
– Man sagt, hüber Geschmäcker lässt sich streiten, sagt er, haber selbstverständlich hist dies nicht möglich. Hes geht schlicht darum, den Dingen numerische Werte zuzuordnen.
– Preise?
– Keine Preise. Wäre das heine Sache des Geldes, dann wären die Mitglieder der saudischen Königsfamilie die geschmackvollsten Menschen der Welt. Nein. Man muss den entsprechenden Halgorithmus finden, der demografische Daten mit hihren jeweiligen kulturellen Werten verbindet.
– Seit wann haben sie diesen Laden hier zu Fuckoffee umbenannt?, fragt Popppappp und sieht sich um.
– Keine Hahnung, früher hieß her Greensward Tea Room, sagt Gland.
– Über Geschmack lässt sich also doch streiten, sagt Popppappp.
Die zwei Männer gehen an den Tresen und holen sich zwei Pappbecher, gefüllt mit doppelt gefiltertem Kaffee, ausgewählte Plantagenbohnenröstung aus dem östlichen Vulkanhochland von Papua-Neuguinea. An der Kasse erwirbt Gland auch eine Ebola-Maske, einen Scherzartikel.
– Wofür brauchen sie eine Ebola-Maske?, fragt Popppappp.
Grand sagt, dass er sie einem Freund als Geschenk mitbringen will, sie wäre aber durchaus auch nützlich, wenn irgendwann einmal tatsächlich „Hebola“ ausbräche.
– Viel Wesentliches wird bloß zum Scherz herworben, sagt er.
Sie finden einen freien Tisch bei einem mit Bleiglas verzierten Fenster. Gland eröffnet so etwas wie ein Werbegespräch.
– Popppappp, hetwas bereitet sich vor, hes liegt was in der Luft. Heine Veränderung des Hatmosphärendrucks. Heine Störung des natürlichen Gleichgewichts. Der Hanstand gerät ins Hintertreffen. Hein großer Wandel steht bevor. Heine Demütigung wird vorbereitet hund gefühlvolle Seelen können nicht länger so tun, hals bemerkten sie nichts. Der Faul-Staat steht him Begriff, heinen mächtigen Schlag zu tun. Wir müssen dem zuvorkommen, die Sache him Keim hersticken. Haben sie Hinteresse, han hunserem Trainingslager ham Quivercrop Hill teilzunehmen?
– Trainingslager?
– Ja, streng paramilitärisch. Wir brauchen mehr Kreative. Heine Harmee mit Kultur hist heine behände Macht, hein Schwergewicht. Kreuzritter marschieren hunter dem Banner hihrer Herzen. Zuerst werden sie hals Beobachter teilnehmen. Wir treffen bereits ham Mittwoch zusammen.
– Verstehe, sagt Popppappp.
– Werden sie kommen?
– Ich werde drüber nachdenken.
Die Aussicht vom steinigen Rand des Kraters von Quivercrop Quarry über die Clipstowe Downs ist zu dieser Tageszeit herrlich. Wellblechbaracken, die von einem Kiefernwäldchen abgeschirmt werden, sind zu erkennen, eine Vorhangantenne für Kurzwellenempfang flankiert ein kleines Exerziergelände.
Hier oben scheint es Popppappp wieder so, als ob er frei atmen könne. Seine Tante war selbstverständlich dagegen gewesen, aber sie ist klapprig und taub, sitzt unten in ihrer Kate am offenen Kamin, trinkt PG Tips und sucht ständig ihre Brille, die an einem Bändchen um ihren Hals baumelt. Sie hat keinen klaren Begriff von Geopolitik, denkt er im Stillen, hatte sie noch nie.
Heute trägt Gland einen Lendenschurz, Clogs und eine ärmellose Jacke mit Schulterpolstern. Ein Zeremonienschwert steckt in der Scheide an der Hüfte. Während er kleine Stücke Negativfilm verteilt, fordert er die versammelten Männer – zum Großteil ausgemergelte Spinner – auf, in die sinkende Sonne zu blicken.
– Sieht hirgendjemand Flecken?
Keiner sieht was.
– Mit hetwas Training wird jeder von heuch schon bald schwarze Flecken hauf der großen horangenen Scheibe hausmachen können. Später dann gibt’s Hübungen am Balken, ham Stufenbarren hund ham Bock. Körperliche Hertüchtigung hist hunerlässlich, wenn wir der Demütigung begegnen wollen. Heine Harmee hohne Kultur hist heine hunwissende Harmee, hund heine hunwissende Harmee wird ham Rebstock welken hund verdorren.
Gland verteilt Karten, welche die Aufenthaltsorte von irgendwelchen Eierdieben verzeichnen, deren massiertes Auftreten ihm symptomatisch für den Vertrauensverlust unter den Menschen im ganzen Stumble Valley erscheint. Er enthüllt auch eine Grafik, welche die komplexen Beziehungen zwischen den drei Gruppen deutlich macht, die auf diesem Territorium operieren: Zigeuner, Wilderer und Granatapfelsaftanbieter. Gland weist darauf hin, dass hier im Umland niemals zuvor Granatäpfel verkauft wurden.
– Hund nun hein Rätsel. Heine schwarze Krähe wurde dabei beobachtet, wie sie sich auf den Clipstone Downs mit Möwen gepaart hat. Das hist hein Warnzeichen. Warum?
– Das gehört zur Demütigung, sagt Popppappp.
– Korrekt. Zieht heure Turnschuhe han hund schnürt sie gut.
Gland setzt nun einen alten Diaprojektor von Kodak in Gang und schreibt mit Kreide fünf Worte in Großbuchstaben auf eine Tafel im Farbton Pigment-Grün:
EULEN
AMSTERDAM
WOLLUST
RANG
ENTFÜHRUNG
Er schlägt jedes Mal auf die Tafel, als er anschließend die Worte der Liste der Reihe nach vorliest.
– Heulen, Hamsterdam, Wollust, Rang, Hentführung. Was verbindet diese Worte miteinander?
Keiner antwortet. Popppappp unterdrückt seinen aufsteigenden Drang zu kichern.
Seltsamerweise befinden wir uns plötzlich in Syrien. Popppappp wird von einer Gruppe, die sich selbst Kameraderie nennt, im Keller der Blackpool Polytechnic of Trade-Polytechnic, festgehalten. Dieses Medienzentrum in Al-Bab hat die Aufgabe, Propagandamaterial für den Faul-Staat zusammenzubrauen. Auch seinen alten Kumpel von der Kunsthochschule, den Feigen Minotaurus, hat man entführt. Im Augenblick sitzen sie Rücken an Rücken auf je einem Arne Jacobsen-Stuhl „Ameise“ gefesselt.
– Tolle Stühle, sagt Popppappp, während er an der Zigarette zieht, die ihm wohl der Erzähler zwischen die Lippen gesteckt haben muss.
– Ja, sagt der Feige Minotaurus und stößt Rauch aus zweiter Hand aus, wie es den Lesern gefällt.
Beide Männer tragen von Eley Kishimoto entworfene Fossil-Uhren. Popppappps Uhr hat ein schwarzes Ziffernblatt, eine dunkel-pinke Fassung und ein cremefarbenes Armband. Die des Minotaurus besitzt ein hellblaues Ziffernblatt, eine weiße Fassung und ein pastell-blaues Armband. In der Mitte des Tischs neben ihnen steht eine mit Stroh umflochtene Flasche, in der sich früher vielleicht einmal Chianti befunden hat.
– Siehst du das?, fragt Popppappp den Minotaurus. Popppappp hat seine Brillen auf.
– Was?
– Eine Chianti fiasco. Unverwechselbares Design. Das Sumpfstroh des Korbs wird für gewöhnlich an der Sonne getrocknet und dann mit Schwefel gebleicht.
– Ich entsinne mich, Chianti aus einem solchen Bocksbeutel getrunken zu haben, sinniert der Minotaurus. Ich habe ihn gehalmt.
– Was soll das heißen, „gehalmt“?
– Man steckt einen biegsamen Strohhalm in die Flaschenöffnung und zieht dann so lange und ohne aufzuhören, bis der gesamte Flascheninhalt durch den Flaschenhals und durch deinen Hals hindurch in dir gelandet ist.
– So redet man nur in Hackney.
Gern würde Popppappp jetzt was Feines trinken. Oder wenigstens in Hackney sein.
Ein wohlbekanntes verebbendes Brummen legt nahe, dass eine Drohne die Nachbarschaft durchstreift. Die beiden Designer ignorieren es.
– Großartige Stühle. Kennst du ihre Geschichte?
– Die Geschichte der Ameise?, fragt Popppappp nach. Ja, ein wenig.
– Ursprünglich hat Jacobsen sie für eine Kantine des Pharmazieunternehmens Novo Nordisk in Dänemark geschaffen.
– Ein bisschen Pharmazie könnte ich jetzt auch gebrauchen.
Vogelgesang, man hört Geräusche spielender Kinder.
– Was glaubst du werden sie mit uns machen? Was werden sie uns tun?
– Das frage ich mich auch, erwidert Popppappp. Die Kameraden sind harte Kerle, aber nicht unvernünftig. Sie haben wohl vor, sich unsere gestalterischen Fähigkeiten zunutze zu machen.
– Das ist unsere einzige Hoffnung, ja. Andererseits könnten sie uns auch lediglich als Faustpfand für einen Geiselaustausch benutzen.
– Oder uns für ein Video exekutieren, das dann in den Sozialen Medien für etwas Aufruhr sorgt und ein oder zwei Tage das Hauptthema in den Nachrichten sein wird. Wir müssen ihnen beweisen, wie wertvoll wir für ihre Sache sein könnten. Als Designer, versteht sich.
– Richtig. Wir müssen unsere Fähigkeiten als Designer als etwas präsentieren, das die Medienarbeit ihrer Gruppe insgesamt verbessern kann. Die Kameraderie wird einfach ein weiterer Kunde sein. Und unsere Aufgabe ist es dann, sie gut dastehen zu lassen.
– Und unser Honorar?
– Die Chance, am Leben zu bleiben, schätze ich.
Zeit – die auf den beiden prächtigen Fossil-Uhren gemessen wurde – ist vergangen. Jetzt ist der Feige Minotaurus dran, eine Geschichte zu erzählen. Also erzählt er seinem alten Kumpel aus der Kunsthochschule die Geschichte von Letraset.
– Du musst wissen, dass es ursprünglich ein Feuchtbuchstabensystem war.
– Tatsächlich?
– Ja. Es wurde in den späten 50er-Jahren entwickelt. Man legte ausgeschnittene Buchstaben auf einen Rahmen und montierte den Text darauf. Alles unter Wasser.
– Brauchte man da eine Tauchausrüstung zu?
– Nein, aber das Wasser machte die Sache heikel. 1961 haben sie daher eine trockene Methode entwickelt, um die Buchstaben zu übertragen. Im Künstlerbedarfsladen um die Ecke konnte man diese transparenten Folien mit den Buchstaben drauf kaufen und über die Buchstaben rubbeln. Die blieben dann auf wundersame Weise auf der Unterlage haften, auf der man arbeitete, und man konnte klar erkennbare scharf geschnittene Buchstaben zu Wörtern zusammenfügen. Es gab sogar einen Layoutraster, der Spacematic genannt wurde. Die kleinen Zeilenmarkierungen konnte man nachher abkratzen.
– Mir ist schon klar, wie Letraset funktioniert, sagt Popppappp. Ich benutzte als Kind den Katalog, weil ich mir die echten Folien nicht leisten konnte: die waren unwahrscheinlich teuer. Ich habe die Schrifttypen auf Transparentpapier übertragen oder habe mir beigebracht, wie man sie per Hand kopiert.
Es ist tröstlich, wenn man über Triviales sprechen kann.
– Ja. Ehe es mit dem Mac losging, war dieser Katalog eine kostbare Quelle. Nur dort konnte man den Stil von etwas sehen – Stile von allem – und sogar alphabetisch angeordnet.
– Mal sehen, ob ich mich noch an die Typos erinnern kann, sagt Popppappp. Halt! Nicht helfen, Minotaurus! Ich glaube, es fing mit Aachen an. Die war irgendwie deutsch. Agincourt sah aus wie das Reenactment einer Schlacht, mittelalterlich und gotisch. Airkraft war eine Mischung aus Art déco und Hakenkreuzen. Albertus eine klassische Serifenschrift …
– Du hast die Akzidenz Grotesk vergessen!
Allein die Typos bei ihrem Namen zu nennen, lässt die Designer sich schon besser fühlen.
– Algerian! Hast du sie nicht auch gehasst? Anmaßend unecht-antik, mit diesem schrecklichen Strich im großen A, der wie ein geknickter Zweig aussah.
– Mein Gott ja, das war vielleicht ekelhaft! Sogar heute noch findet man die noch bei manchen Internetmakros. Aber die American Typewriter!
– O ja, die American Typewriter! Hervorragend geeignet für das Mitteilungsblatt des Filmclubs. Alles sah sofort künstlerisch und intelligent aus.
Keiner kennt den Zeitpunkt, an dem er sterben wird. Die Nacht bricht an. Die beiden Designer verspüren ein kühles nächtliches Lüftchen, das durch irgendeine Ritze zieht. Sie reden immer noch über Typos.
– DIN 17.
– Die ging auf Alphabete zurück, die es auf diesen super-wissenschaftlichen Linealdingern gab … Schablonen! Du steckst deinen Rotring-Tuschefüller durch das Plastik und kriegst diese gestochene Schärfe hin für chemische Formeln und solches Zeugs.
– Dynamo.
– Gott, die Dynamo habe ich geliebt! Wie kann man heute irgendjemand klarmachen, dass 1975 die Dynamo das Coolste überhaupt war? Diese aggressiven winzigen Einkerbungen, die frechen Halbserifen, die überall dort abstanden, wo sie nichts zu suchen hatten.
– Diese Letraset-Schriften haben uns Stil beigebracht, sie haben uns gelehrt, was Charakter, Wahl und Kontext heißt. Ein und derselbe Satz konnte so viele verschiedene Nuancen annehmen, je nachdem, wie man ihn setzte!
Ein Engel geht vorbei.
– Hast du schon darüber nachgedacht, wie wir das jetzt mit dem Magazin der Kameraderie angehen werden?, fragt Popppappp. Nur wenn sie uns fragen, ob wir es machen wollen, selbstverständlich.
– Meinst du, wir sollten sie schlecht aussehen lassen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die einen Riecher für sowas haben. Die würden es nicht einmal bemerken.
– Nein. Ich bin der Ansicht, wir sollten absolut aufrichtig sein. Die sind schlauer, als sie scheinen, die Kameraden. Wenn wir die mit irgendeinem miesen Design abspeisen, dann bringen sie uns vielleicht um. Wenn wir es aber fertigbringen, sie in ein gutes Licht zu rücken, dann spielen wir uns auf bestmögliche Weise frei. Wenn wir dann wieder frei sind – falls das jemals passieren wird – dann behaupten wir einfach, wir haben versucht, ironisch zu sein: Hübsche Form, anstoßender Inhalt.
– Das nenn’ ich einen Plan, sagt der Feige Minotaurus. Für Barclays habe ich mal ganz was Ähnliches gemacht.
Die Spalte in der Wand ist breiter, als sie dachten, und ihre Fesseln lockerer. Da sie noch nicht zu schwach dafür sind und ungefähr wissen, wo sich die Grenze befindet, entschließen sich die Designer doch noch zu einem Fluchtversuch. Die Türkei ist gleich um die Ecke. Es fragt sich nur, um welche?
Irgendwie gelingt es Popppappp und dem Feigen Minotaurus, sich ihrer Fesseln zu entledigen. Im Zuge dessen werden die Fossil-Armbanduhren etwas ramponiert.
Die beiden Freunde lassen ihre Körper dünn wie Zigarettenpapier werden und quetschen sich behutsam durch die Spalte in der von Granaten beschädigten Wand. Sie schleppen sich über einen Geröllstreifen und stolpern durch eine Landschaft mit umgestürzten Bäumen, Pfützen und Bombentrichtern, die von Suchscheinwerfern bestrichen wird. Die ganze Stadt ist ein Pulverfass. Über ihren Köpfen ein phosphoreszierendes Flackern, das surrt und in den tiefhängenden Hammerkopfwolken explodiert. Die Luft ist erfüllt von düsterer Glut und dem Gestank von verbranntem Knoblauch.
Die beiden Flüchtlinge finden Zuflucht in einem aus radikal aufeinandergetürmten Betonschachteln zusammengefügten Gebäude, dessen Erdgeschoss sich als Kaufhausetage herausstellt, die auf handgefertigte Kosmetika spezialisiert ist.
– Die Form dieses Gebäudes erinnert mich an das Verwaltungsgebäude des Straßenbauministeriums in Tiflis, stellt der Minotaurus fest, der ein begeisterter Anhänger des Brutalismus der Sowjetära ist.
– Sind wir hier schon auf der türkischen Seite der Grenze?, fragt Popppappp eine Verkäuferin auf Englisch.
– Nein, hier ist immer noch Syrien, antwortet die Verkäuferin, ein freundlicher Rotschopf mit Ringellocken und Sommersprossen.
– Und sie haben trotz allem geöffnet?
– Wir haben auch während der Kampfhandlungen geöffnet, ja. Waren sie schon einmal bei uns?
– Nein, sagt Popppappp.
– Ich glaube, ich habe mir den Laden schon einmal auf Streetview angesehen, sagt der Feige Minotaurus.
– Nun. Alles, was sie hier sehen – Kosmetika, Seifen, Badeperlen – ist handgefertigt und wir verwenden bei der Herstellung ausschließlich biologische Zutaten. Sie können gerne probieren! Öffnen sie einfach irgendeine der Tuben, Töpfchen oder Flakons, die mit „Tester“ beschrieben sind, und schnuppern sie.
Der Feige Minotaurus greift sich eine goldene Tüte mit Badeperlen.
– Zauberhaft, diese Verpackungsgestaltung!
– Von dieser Marke gibt es auch Reinigungstabletten für strahlend weiße Zähne, sagt die Verkäuferin und scheint sich zu freuen.
– Und die Phosphorbomben stören sie gar nicht?, fragt Popppappp.
– Ach, wir versuchen die Tür geschlossen zu halten, erklärt die Verkäuferin. Das hält die Menschen keineswegs davon ab, vorbeizuschauen. Wenn die Bomben überhaupt für irgendetwas gut sind, dann fürs Geschäft. Die Menschen wollen dem Stress entfliehen. Und nichts hilft besser, das Gemüt zärtlich zu umschmeicheln, als ein ausgiebiges Schaumpflegebad.
Das ergibt keinerlei Sinn. In den Häusern in Al-Bab gibt es kein Wasser, ganz zu schweigen von Heißwasser.
Popppappp und der Feige Minotaurus sind am Verhungern. Einige der Sachen hier riechen so gut, dass man sie am liebsten essen möchte.
– Wir sind gerade aus einem Gefangenenlager des Faul-Staats geflohen, sagt der Feige Minotaurus. Popppappp wirft ihm einen warnenden Blick zu.
Diese Information scheint den Ingwergeschmack-Rotschopf in keiner Weise aus der Ruhe zu bringen.
– Das ist aber schön. Gleich da drüben gibt es eine neue Marke Lippenstift mit Kirschgeschmack, den wir jetzt neu im Sortiment führen. Engel auf nackter Haut heißt er. Von dem sollte es auch einen Tester geben. Nur zu, probieren sie ihn ruhig aus.
Während sie die Biokosmetikprodukte auftragen (und verstohlen ein wenig davon verspeisen), erzählt der Feige Minotaurus Popppappp vom Verwaltungsgebäude des Straßenbauministeriums in Tiflis. Es wurde 1974 errichtet und beherbergt heute die Bank of Georgia. Sein Architekt, George Tschachawa, behauptet, von den bäuerlichen Bergdörfern Georgiens beeinflusst worden zu sein. In Wahrheit jedoch ist das Verwaltungsgebäude eine Science-Fiction-Anhäufung von riesigen länglichen Kisten, die sich in ungelenken Winkeln wechselseitig aufeinandertürmen.
Popppappp seinerseits bemerkt, dass die volumetrische Stapelung hier – der Kosmetikladen besteht aus einer Reihe von Containern, die kreisförmig um eine zentrale Achse herum angeordnet sind – sich möglicherweise dem Mörserbeschuss verdankt und nicht einem etwaigen architektonischen Bemühen.
– Nun ja, man sagt schließlich nicht umsonst, dass die Not …
Der Feige Minotaurus bringt diesen Gedanken jedoch nicht ganz zu Ende, er verreibt ein Klümpchen kirschrote Salbe quer über die Lippen. Zwei Guerilleros der Longhorn-Polizeibrigade des Faul-Staats stürzen in den Laden. Popppappp wird in den Arm geschossen, den Minotaurus erwischt es am Bein. Sie ergeben sich augenblicklich und werden, blutend, nach draußen geschleppt.
Dem Feigen Minotaurus gelingt es noch – unverbesserlich wie er ist, kann er das Schäkern nun einmal nicht lassen –, der rothaarigen Fachverkäuferin schwach durch die Tür hindurch zuzuwinken.
Die Longhorns stoßen die Designer zu einem kleinen weißen Lieferwagen, verfrachten sie in diesen und rasen los, indem sie den Motor hochjagen und die Reifen durchdrehen lassen. Die Straße ist trocken und staubig, eine von Schlaglöchern übersäte Piste, die von niedergebrannten und von Bomben beschädigten Gebäuden flankiert wird. Feindliche Scharfschützen observieren die wichtigen Streckenabschnitte, Sprengfallen sind nicht auszuschließen, Kontrollpunkte werden gefürchtet.
Die Longhorns – die über ein gutes Quäntchen an Humor zu verfügen scheinen – erklären, dass ihre Gewehre nur mit Salz geladen sind. Die echte Munition bliebe den Sark-E-heddin vorbehalten, einer Eliteeinheit, deren Mitglieder vom spirituellen Führer des Faul-Staats, Sark E. Myth, höchstpersönlich ausgewählt worden waren. Aber auch Salz kann ganz schön wehtun.
– Wenn du mal ’ne Ladung Salz aus einer AK-47 abgekriegt hast, dann kommst du so schnell nicht wieder auf dumme Gedanken, sagen sie.
– Warum sind wir bloß hier gelandet?, presst der Feige Minotaurus hervor, der auf dem Rücksitz vor sich hin blutet.
Popppappp, ebenfalls blutend, nimmt die Frage seines Freundes wörtlich.
– Wir haben eines Tages auf Airbnb rumgesucht und sind dabei auf ein bemerkenswertes Angebot gestoßen. Ein Haus im nördlichen Syrien wurde billig zur Vermietung angeboten, da die Familie, die es bewohnte, erst kürzlich hingerichtet worden war und es jetzt leer stand. Drei Schlafzimmer, eine Küche, Bad, Keller und ein Flachdach mit Pflanzen, die man nicht zu gießen brauchte – und das alles für nur acht Euro pro Nacht.
– Nun gut. Haben wir also gebucht. Dann sind wir über Paris und Istanbul hierher geflogen.
– Wir kamen in Al-Bab an. Das Haus konnten wir nicht finden, wahrscheinlich war es inzwischen zerstört worden. Die ganze Stadt war unter Kontrolle der Aufständischen vom Faul-Staat, alle mit Kalaschnikows bewaffnet.
– Ich habe immer noch nicht verstanden, warum der Faul-Staat versucht, die Kameraderie hier in Syrien zu installieren. Ich meine, das Ganze basiert doch auf Sark E.s mythischen Visionen über Nordengland, oder?
– Die instabile Lage hier im Nahen Osten macht ihn zu einer bestens geeigneten Petrischale für Radikalismen jeder Couleur, sagt Popppappp. Und wenn man versucht, Salford in Syrien zu errichten, dann ist das kein bisschen seltsamer als der Versuch, Jerusalem in England zu errichten oder Hogwarts in einem japanischen Freizeitpark nachzubauen.
– Wenn es doch nur ein Freizeitpark wäre! Dann wären diese Fleischwunden auch nur kosmetisch, seufzt der Feige Minotaurus. Du hast mir versprochen, dass wir in nichts Gefährliches hineingeraten würden. Politik, Krieg und Religion, solche Sachen haben nichts mit uns zu tun, hast du gesagt. Schließlich sind wir Designer.
– Genau, wir sind die Muji-heddin! Popppappp lächelt bitter über diesen abgestandenen Witz.
Als sich Popppappp und der Feige Minotaurus an einer britischen Kunsthochschule kennenlernten, stellten sie rasch fest, dass sie ein Interesse an kargem Design, japanischer Ästhetik, Postpunk-Mode und Brutalismus teilten. Als Student war der periphere Modernismus in Afrika, Indien und den Zentralasiatischen Republiken während der Sowjetära das Spezialgebiet des Minotaurus. Beide kauften sie für ihr Leben gern bei Muji ein, dem japanischen „Keine Marken, gute Produkte“-Laden.
– Schau, sagt Popppappp, wir sind wieder in Al-Bab. Eigentlich solltest du dich hier wohlfühlen. Die ganze Stadt ist voll von den Ruinen modernistischer Gebäude aus der Mitte des Jahrhunderts. Selbst die Longhorns bemüßigen sich eines klassischen Sark E. Myth Stils, was ihre Bekleidungsgewohnheiten angeht.
– Das ist aber nicht so cool, wenn es gezwungen wirkt.
Vereinzeltes Schüsse hallen durch die Straßen von Al-Bab, als die Sark-E-heddin sich von Haus zu Haus vorarbeiten und jeden umbringen, der nicht in der Lage ist, aus Trouble At The Shun-Fest, dem ersten Album von Faul, ein paar Textzeilen hersagen zu können. Überwachungsdrohnen, die von den großen Labels gelenkt werden, kreisen am Himmel und auf sie folgen bald die Raketen des Aleppo-Regimes. Sie schlagen in öffentliche Gebäude, Schulen, Märkte und Industrieanlagen ein und verwandeln sie in Schutthaufen. Große Lastwagen rasen vorbei, schwer beladen mit den Leichen von Kämpfern und Zivilisten.
– Erinnerst du dich noch, wie sehr uns das Design der Flagge des Faul-Staats gefiel?, fragt Popppappp. Diese gekritzelte Schrift, die aussieht, als hätte man sie mit Kuli gezeichnet, alles ganz krakelig und spinnenhaft, und dann noch dieser unregelmäßige weiße Kreis darunter?
– Wir waren naiv. Der Sinn für Schönheit muss alle anderen Betrachtungsweisen besiegen oder vielmehr aufheben, merkt der Feige Minotaurus verdrießlich an.
– Wer hat das gesagt?
– Keats.
Die Blackpool Polytechnic of Trade-Polytechnic ist eine Anhäufung von stufenförmig geschichteten Betongebäuden, die in ihrem Stil unmissverständlich vom metabolistischen Design der 80er-Jahre beeinflusst ist. Die Silhouette bietet eine angenehm komplexe Formenvielfalt, egal aus welchen Winkel man sie in den Blick nimmt: abgestufte Dächer im Chalet-Stil, ziehharmonikaförmig vorspringend angeordnete äußere Treppenfluchten, ein paar hochtechnologische Gitterkonstruktionen, gekachelte Halbkreise, die von Luken durchbrochen werden, diagonal verlaufende Zickzacks, die auf längst zerstörte Überreste hindeuten, fahlgraue an Kittel erinnernde Fassaden, Anspielungen auf aztekische Begräbnisrituale, ovale Markierungen laden das Auge dazu ein, fehlenden Kreise zu vollenden, klobig gerahmte Balkone, eine Neben-Man-Ray-Skulptur reckt sich neben der Fluchttreppe in die Höhe und was oben wie ein leerer Werbeaufsteller aussieht, ist ein Betriebsschacht mit einem Aufzug, der immer außer Betrieb ist. Das ganze Ensemble weist eine Schraffur aus Elektro- und Fernmeldekabeln auf, die kunterbunt herumhängen.
Popppappp und der Feige Minotaurus sind wieder in ihrem Keller. Die Mauerspalte hat man mit Zement verputzt. Beide fühlen sich ein wenig fiebrig, was vielleicht an ihren Fleischwunden liegt. Sie sind in banger Erwartung, dass man sie für ihren Fluchtversuch bestrafen wird.
Um sich die Zeit zu vertreiben und um ihre Gedanken von der bevorstehenden Folter abzulenken, erzählt Popppappp die Geschichte, die hinter dem Design der legendären Nikon F-Spiegelreflexkamera verborgen ist.
– Der Designer Hirohito Ketchup arbeitete im Eulenhaus des Amsterdamer Zoos, als ihm bewusst wurde, wie unzulänglich die Messsucherkamera Nikon SP war. Ketchup war im selben Maße ein begnadeter Vogelkundler, wie er auch Designer war.
– Und er lebte und arbeitete in Amsterdam? Im Zoo?
– Ja.
– Erzähl weiter.
– Nun ja, kurz gesagt, Ketchup fand heraus, dass sich die Eulen wesentlich leichter fotografieren ließen, wenn, sagen wir, der Fotograf die Brennweiten variabel einstellen kann und das jeweilige Ergebnis sofort im Sucher sieht. Er ging mit seiner Idee also zu Nikon, der berühmten britischen Firma für optische Geräte, die sich in einem geheimen Flügel des Hammersmith Krankenhauses befand.
– Ich dachte immer, Nikon sei eine japanische Firma.
– Genau das wollen sie auch, dass du denkst.
– Verstehe. Erzähl weiter.
– Zu dieser Zeit arbeitete Nikon eng mit dem britischen Geheimdienst zusammen, um Kameras für Spione zu entwickeln, die dann im Kalten Krieg eingesetzt wurden. Zur Tarnung behauptete die Firma, sie sei eine japanische.
– Und sie war ja tatsächlich auch eine japanische.
– Wie dem auch sein mag – indem sie vorgaben, eine japanische zu sein, wurde das zur exzellenten Camouflage.
– Kapiert. Smarte Idee!
– Dem Vorstandsvorsitzenden von Nikon dessen Name noch immer gemäß dem Gesetz zur Geheimhaltung von Informationen im öffentlichen Interesse geheim gehalten wird) gefiel Ketchups Idee und er ließ ihm ein kleines Büro im hinteren Teil des Hammersmith Krankenhauses herrichten, um am Entwurf einer hochqualitativen Spiegelreflexkamera mit Zoomobjektiv zu arbeiten. Er gab auch einem ungewöhnlichen Ansuchen von Ketchup statt: Dieser bat um Erlaubnis, einen Grafikdesigner anstellen zu dürfen, der der Kamera einen einzigartig ansprechenden und unverwechselbaren Look verpassen sollte.
– Welcher Grafikdesigner wurde ins Boot geholt?
– Keine andere als die, deren Namen nicht genannt werden soll. Wir alle mussten sie so nennen, weil sie schon an zahlreichen Geheimprojekten für den britischen Staat beteiligt gewesen war. So hat zum Beispiel die, deren Namen nicht ausgesprochen werden soll, in den Jahren zwischen 1964 und 2000 beinahe alles für das Stationary Office Ihrer Majestät gestaltet. Für gar viele Designpreise, die das HMSO für pfiffige und gleichzeitig konsequent gestaltete Broschüren zur Öffentlichen Sicherheit gewann, wurden die Preisgelder niemals abgeholt, denn man wollte, dass die Identität derer, deren Name nicht genannt werden soll, auch tatsächlich geheim bleibt.
– Diese ganze Chose klingt zwar nach einem Riesenblödsinn, mein Bester, aber fahre getrost fort.
– Ihr, deren Name nicht genannt werden soll, Beitrag für das streng geheime Nikon F-Projekt war größtenteils rein spiritueller Art. Als sie eines Tages beobachtete, wie sich eine schwarze Krähe mit einer weißen Möwe paarte, begann die Designerin eine erotische Erzählung zu schreiben, die von einer Heldin handelte, die man zu Unrecht beschuldigt, Eier gestohlen zu haben. Ohne zu wissen, wohin sie das führen würde, doch im Bewusstsein, dass dies der rechte Ansatz sei, arbeitete die, deren Name nicht genannt werden soll, die Geschichte jeden Dienstag und Donnerstag in einem abgelegenen Zimmer im Dachgeschoss des Hammersmith Krankenhauses weiter aus. Dieser Raum war karg möbliert; es gab bloß einen Tisch, einen Stuhl und eine rote IBM Selectric II-Kugelkopfschreibmaschine.
– Die IBM Selectric II wurde aber erst lange nach der Nikon F-Spiegelreflexkamera erfunden.
– Und auch hier gilt: Genau das ist es, was sie wollen, dass du glaubst.
– Verstehe.
– Der erste Satz des Buches derer, deren Name nicht genannt werden soll, lautet: „Vor der Scheibe des Vollmonds sind selbst weiße Vögel schwarz.“
– Das kommt mir bekannt vor, sagt der Feige Minotaurus, der anscheinend schläfrig geworden ist.
– Das ist auch von großer Bedeutung, sagt Popppappp. Schon mit diesem einen geheimnisvollen Satz werden wir Zeuge, wie die erste der drei essentiellen Formen des so speziellen Nikon F-Designs ans Licht treten. Der Kreis, das Längliche und das Dreieck. Der Kreis (der „Vollmond“) ist selbstverständlich das verstellbare Objektiv. Das Längliche ist das Kameragehäuse, das so gestaltet ist, um den Bildrahmen des 35mm-Films zu beherbergen. Das Dreieck ist das Pentaprisma, das pyramidenförmige Guckloch, hinter welchem sich der Kippspiegel und das Fresnelglas befinden, auf die das mysteriöse Objekt projiziert wird, das vom Objektiv übermittelt wird: die Welt selbst.
Der Feige Minotaurus sagt nichts. Er ist eingeschlafen. Popppappp erzählt weiter. Seine Stimme wird zunehmend undeutlich.
– Während sich ein kleines Spezialteam von Technikern den technischen Problemen widmete, schrieb die, deren Name nicht genannt werden soll, eine erotische Erzählung über eine Frau, die in einem Vogelkäfig gehalten wird, an einem ihrer nackten Knöchel trägt sie einen gelben Markierungsring, auf dem unleserlich ihr Name verzeichnet ist. Alles, was sie von ihrem Käfig aus sehen kann, ist der leere Himmel und die Spitze einer mysteriösen Pyramide, die sich weit entfernt am Horizont abzeichnet und die einmal pro Tag von der Sonne direkt beleuchtet wird. Diese Pyramide könnte ein Bürogebäude beherbergen, eine postmoderne Sportanlage sein oder ein Tempel. Während sie sich selbst befriedigt, fantasiert die Vogel-Frau gerne davon, dass es sich um das Pentaprisma eines Objektivs einer Spiegelreflexkamera handelt, durch das sie von einem weit entfernt sich aufhaltenden Voyeur beobachtet wird, der wiederum selbst masturbiert.
Das Wort „masturbiert“ scheint den Feigen Minotaurus geweckt zu haben.
– Was? Was hast du gesagt?
– Ich habe davon erzählt, wie das Design für die Nikon F entwickelt wurde. Das nahm ganze zwei Jahre in Anspruch. Am Ende des ersten schloss die, deren Name nicht genannt werden soll, ihre Erzählung ab. Inzwischen war das technische Spezialteam zur Auffassung gelangt, dass es angebracht sei, die Metallplatten achtmal zu prägen statt wie gewohnt viermal, wenn man die raffinierten Formen der Kamera umsetzen wollte. Im Zuge umfangreicher Versuchsreihen in einem Lagerhaus für Tiefkühltorten, bei denen man die Kamera unter unterschiedlichen Temperaturbedingungen prüfte, stellte sich heraus, dass sie Kälte bis zu minus 40 Grad Celsius standhalten konnte.
– In der Tat wurde die Nikon F ja die Kamera der Wahl, wenn es darum ging, im Weltraum zu fotografieren oder in Sibirien oder unter Wasser, merkt der Feige Minotaurus schläfrig an. Zumindest immer dann, wenn keine Hasselblad zur Hand war.
– Das zweite Jahr widmete man sich vorrangig Gesängen, dem Verbiegen von Metall und anderen spirituellen Angelegenheiten. Irgendwie musste Hirohito Ketchup die Einsichten, die durch die erotische Erzählung bewirkt wurden, mit den technischen Entdeckungen und Fortschritten des Entwicklungsteams abgleichen. Das war nur möglich, indem man ein paar Geheimzeremonien auf dem Dach des Krankenhauses absolvierte.
– Die Geschichte beginnt mich langsam, aber sicher zu langweilen, sagt der Feige Minotaurus. Stört es dich, wenn wir jetzt schlafen?
– Ich bin fast fertig. Jetzt kommt aber der beste Teil. Das grafische Design auf der Vorderseite der Kamera geriet zum Feinschliff der ganzen Sache. Die Typo, die man auswählte, die Art und Weise, wie das „F“ und das Nikon-Logo platziert wurden. Die, deren Namen nicht genannt werden soll, konnte dabei auf ihre reichhaltigen Erfahrungen im Bereich Corporate Identity für die britische Post und Eisenbahn zurückgreifen. Sie kupferte bei einem Gemälde des Schweizer Malers Hans Arp aus dem Jahr 1917 mit dem Titel Rechtecke, nach dem Gesetz des Zufalls geordnet ab – und der Rest ist Geschichte.
– Es geht doch nichts über ein Happy End.
Am nächsten Tag gibt es gute Nachrichten für die beiden Designer. Die Kameraden wollen, dass Popppappp und der Feige Minotaurus für sie arbeiten. Ein Chefredakteur mit Namen Hernandez Fiendish führt die beiden in den Produktionsanlagen herum.
Popppappp schont seinen Arm mit der Schusswunde; der Minotaurus – der ganz offensichtlich von der Gestaltung der Anlage beeindruckt ist – humpelt mit seinem durchschossenen Bein.
– Das hier erinnert mich an das Yamanashi Presse- und Rundfunkhaus in Kōfu, teilt der Minotaurus Fiendish ganz aufgeregt mit. Keine Ahnung, ob sie das kennen. Eine gewaltige, gedrungene Betonfestung mit Radio- und Fernsehstudios, einer Zeitungsdruckerei, Serviceschächten, die in fetten Säulen verbaut sind, grün bepflanzte Terrassen und Büros mit Glasfassaden unmittelbar nebeneinander.
– Kenne ich, sagt Fiendish. Errichtet von Kenzō Tange. Wir schätzen seine Arbeiten; sie erinnern uns an bestimmte Gebäude im Norden Englands aus der Ära des Myth. Als der Precog „Der Norden wird wieder auferstehen“ sagte, da meinte er damit gewiss nicht das nördliche Syrien. Wir versuchen etwas von unserer mythischen Heimat hier wieder zu errichten. Zumindest so lange, bis wir unsere echte militärisch zurückerobern.
– Der Precog?
– So nennen wir Sark E. Myth. Es bedeutet „Prophet“.
Fiendish reicht den Designern eine geheftete Broschüre, die in Grün- und Brauntönen gehalten ist: Royale’s Turn.
Die erste Ausgabe des monatlich erscheinenden Magazins der Kameraderie sieht aus wie das betriebsinterne Mitteilungsblatt einer mittelgroßen Catering-Firma. Doch anstatt öde Texte über die Generalüberholung von Kantinen zu enthalten, geht es bei Royale’s Turn um religiös-terroristisch motivierte Gräueltaten und die Leser werden dazu angehalten, ihr Leben der Sache des Myth zu weihen.
Der Feige Minotaurus öffnet die Ausgabe und beginnt zu lesen:
„Hipster aus dem Norden benutzen Pressluftbohrer und Vorschlaghämmer, um drei riesige Statuen von geflügelten und bärtigen DJs zu Einsturz zu bringen. Einige dieser Statuen stammen aus den frühen 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Nach Angaben eines Sprechers des Faul-Staats waren diese Kunstwerke nichts anderes als ‚Idole von Menschen aus früheren Epochen, die man anstelle von Sark E. Myth angebetet hatte‘.“
– Habt ihr über diese Aktion gelesen, Kameraden?, fragt Fiendish. Was haltet ihr davon?
– Ich habe die Sache mitverfolgt, erwidert der Minotaurus. Die animierten GIFs konnte man überall auf Facebook sehen. Mir schien, dass die Mehrzahl dieser Statuen nur Nachbauten waren. Es ist eine Schande. Wären es die echten gewesen, dann hätte ihre Zerstörung diesen Figuren eine echte kulturelle Resonanz verschafft und zwar zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren. Ein geflügelter und bärtiger DJ wäre dann mit einem Mal zu einem Symbol des …
– Was mein Freund sagen will, unterbricht Popppappp, ist, dass die glorreiche Zerstörung dieser Idole das Beste ist, was ihnen jemals widerfahren konnte. Das ist so ähnlich wie das Niederbrennen der Goldenen Halle in Mishimas Roman „Der Tempelbrand“.
Fiendish nickt und führt die beiden durch einen Flur, an dessen Ende sich ein Studio mit Greenscreens und diversen Mischpulten befindet. Nachdem sich der Faul-Staat mit den Übertragungen der Enthauptungen von Hippies ein weltweites Publikum erschlossen hat, plant man, in Kürze einen mobilen Nachrichtenkanal einzurichten.
Ein paar Senderjingles laufen über die Bildschirme der Kontrollkonsolen. Sie sind barbarisch.
– Also designtechnisch können wir das besser, merkt der Minotaurus überzeugt an, klopft auf das Glas des Bildschirms und legt mit seinem Pitch los.
Der Schriftzug, auf den er zeigt, ist das unleserliche Gekrakel des Precog.
Fiendish scheint beeinflussbar zu sein. Er hackt ein paar Linien Speed auf einer Tischplatte – Speed ist die bevorzugte Droge der Anhänger des Myth – und bedeutet dem Feigen Minotaurus und Popppappp, sich am zeremoniellen Reinziehen zu beteiligen. Sechs Nasenlöcher sind übers Pulver gebeugt, als eine Explosion das Gebäude erschüttert.
– Scheiß auf die Allianz!, knurrt Findish und wischt sich die Nase ab.
– Scheiß auf die Allianz!, legt der Alumnichor der Kunsthochschule nach und schnüffelt dabei.
– Wer sind die eigentlich?, hakt der Feige Minotaurus nach.
– Wir sind nämlich nicht sonderlich politisch, erklärt Popppappp.
Die Allianz besteht aus Universal, Sony-BMG und Warner, erklärt Fiendish. Es sind die großen Plattenfirmen, und die kontrollieren die Musikindustrie. Sie hassen den Faul-Staat und arbeiten mit den korrupten lokalen Regimen zusammen, um zu zerstören, was im Irak, in Libyen und in Syrien aufgebaut wurde. Universal gehört den Franzosen, Sony-BMG ist ein japanisch-deutscher Zusammenschluss, Warner ist amerikanisch. Früher gab es auch eine britische Abteilung – Thorn-EMI –, doch die verkauften ihre Anteile an Universal und konzentrieren sich jetzt auf das Waffengeschäft. Sie beliefern die anderen mit kriegstechnischem Material.
– Wir sind Riesenfans der Pet Shop Boys, sagt der Feige Minotaurus. Popppappp tritt ihm fest auf den Fuß.
– Selbstverständlich nur vom gestalterischen Gesichtspunkt aus, ergänzt der Minotaurus.
– Er steht bloß auf ihre Unterschneidungen, erklärt Popppappp.
Der Einschlag einer weiteren Rakete erschüttert die Schule.
– Jetzt aber, Jungs!, sagt Fiendish. Wohlan! Pho-Do. Was hat es damit auf sich, Eurer Meinung nach? Erst einmal ist es nötig, die Fragen der Semantik zu klären. Gutes Design hängt davon ab, wie gut man die Symbolik im Griff hat.
Ein Pho-Do ist eine Kreuzung zwischen einem Phönix und einem Dodo, stellt der feige Minotaurus fest.
– Jawohl. Und was heißt das? Was wollte Precog Myth – gelobt sei sein Name – mit diesem Bild sagen?
– Das stammt aus dem Songtext von Brain Wank Mag. Ed., schlägt Popppappp vor, der ganz versessen darauf ist, seine Kenntnisse über The Faul ins Spiel zu bringen. Eine unverstellte Kritik am Herausgeber eines Magazins, der eine totale Flasche und ein Langweiler ist, ein Typ, der jeden Draht zum Zeitgeist verloren hat. Daher rührt die verblüffende Kombination von Phönix (ein Symbol der ewigen Wiedergeburt) und dem Dodo (ein Symbol fürs Ausgestorbensein). Der Precog vergegenwärtigte einen Vogel, der in alle Ewigkeit als sterbender wiedergeboren wird.
– Gut, sagt Fiendish. Aber warum spricht es der Precog „Pho“ aus, wie bei Pho-Suppe, und nicht Phö, wie bei Phönix? Minotaurus?
Der Feige Minotaurus, der gerade sein verletztes Bein pflegt, ist überfragt. Popppappp springt helfend ein.
– Damit gelingt es dem Precog „faux“ und „Photo“ miteinzubeziehen und einen hohen Wiedererkennungswert zu produzieren. Der Herausgeber ist ein überflüssiger Pseudo, passt nicht, Fake, eine Kopie. Man bemerkt das gleich, wenn man sich Ice-Age Extrusion Hour anhört, da spricht der Precog es „Photo“ aus, wenn er es zum ersten Mal wiederholt.
– Sehr gut! Ich bin von deinen Kenntnissen der heiligen Texte beeindruckt, sagt Fiendish zu Popppappp.
Dann wendet er sich dem Minotaurus zu.
– Von deinen weniger.
Nächster Halt ist ein Aufnahmestudio, wo ein A-Capella-Chor bestehend aus einem Dutzend Männern gerade eine feierlich vorgetragene Hymne aufnimmt. Das hört sich an wie Steeleye Span. Fiendish legt einen Finger auf seine Lippen und fordert die Besucher dazu auf, sich das Ganze durch die Studiofenster hindurch anzuhören.
Das Lied ist ein trauriger Grabgesang, eingängig in seiner Schlichtheit und bewegend durch den überzeugten Vortrag.
Über’m Blut der Kameraden,
Wird neu erstehen der Norden
Eine Hauptstadt nach der anderen, ohne Gnade
Packen und erobern wir an der Gonade
Wenn die sanft’re Welt des Südens
Mit ihrem bittr’en Kern
Neigt ihr Haupt vor Papal Royale
Und bezeigt Faul die Ehrfurcht
Dann werden eine Million Köpfe rollen
Auch wenn’s scheint, dass sie’s hingenommen
Apokalypse in Island!
Eschatologie in Prestwich!
Gemeinsam schlagen wir die Saiten
Hundert Trommeln donnern los
Der Tod hält reiche Ernte in Hull und all
Die anderen Fraktionen fallen zu Scherben.
– Das klingt aber gar nicht nach einem Faul-Song, merkt der Feige Minotaurus an.
– Darum geht es nicht, erwidert Chefredakteur Fiendish. Machen wir uns doch nichts vor – wer kann sich schon an die Melodie nur eines einzigen Faul-Songs erinnern? Oder an die Texte? Das schafft man gar nicht, oder? Aber das Ding hier wird sich für immer in den Gehirnen festsetzen! Das ist ein gottverdammter Ohrwurm. Wir haben es im Labor getestet. Man braucht ihn nur einmal zu hören und wird ihn nie wieder los.
Kaum zurück im Gemeinschaftsraum trifft bereits die brandheiße Nachricht ein, dass der Faul-Staat die Masterbänder von Fleetwood Macs Rumours gelöscht hat.
– Ich habe ohnehin nie begriffen, warum man Masterbänder aufhebt, sagt Popppappp. Wer würde jemals Rumours remixen, ohne dass dabei anderes als Haarsträubendes herauskäme? Und wenn ich die neu gemasterten Aufnahmen höre, dann kann ich ebenso wenig einen Unterschied bemerken, was vielleicht daran liegt, weil meine Ohren ihre Empfindlichkeit dafür eingebüßt haben, welches zusätzliche Detail in all seiner überflüssigen Pracht jeweils eingebaut wurde.
Fiendish wirft ein:
– Punk war das Jahr Null der Musik. Wer diesem Geiste treu bleiben will, muss sich dieses Umstands wieder bewusst werden. Rührseliger Kitsch wie Rumours ist abscheuerregend. Der Faul-Staat hat die Pflicht, derlei auszumerzen.
– Unsere Kultur ist viel zu sehr davon besessen, die Vergangenheit zu konservieren, sagt der Feige Minotaurus. Wir müssen lernen loszulassen.
Nachdem die beiden Designer mit dem Chefredakteur Fiendish zu Abend gegessen hatten – es gab gedörrten Hering, Bier und Schweinefleischpastetchen – sind sie wieder zurück in ihrer Zelle im Keller. Besonders nachts, wenn die Leuchtstoffröhren eingeschaltet sind, besitzt der Raum die technoide Klarheit eines Gemäldes von Patrick Caulfield. Eine Stimmung des annähernd allgemeinen Wohlseins breitet sich aus, als die beiden Designer ihr Essen verdauen.
– Also ich glaube, er hat es geschluckt, sagt der Feige Minotaurus.
– Was geschluckt?
– Na die Nummer, die wir abgezogen haben.
– Ich bin mir da nicht so sicher, ob ich eine Nummer abgezogen habe, sagt Popppappp. Ich hasse Fleetwood Mac von ganzem Herzen.
– Tatsache ist, dass wir hier wohl für geraume Zeit festsitzen werden, aber es wird uns dabei nicht allzu übel ergehen. Du hast recht, ich weiß sogar nicht einmal mehr, ob ich jetzt überhaupt noch nach Hause will.
– Du bist also aufgewacht?
– Mir ist klar, dass die Mythisten ein brutaler Haufen sind und die Kameraden sind sicher alles andere als vorbildliche Zeitgenossen. Unsere Gesellschaft aber ist selbst auch grausam. Es ist nur einfach so, dass der Schaden, den wir anrichten, für uns nicht sichtbar ist. Ein Designer unterstützt und verbreitet jede Menge fürchterlichen Mist, wenn er sich der Aufgabe widmet, den alten Okzident gut dastehen zu lassen. Schon seit Jahren habe ich mich in unserer Kultur nicht mehr zuhause gefühlt.
– Ich auch nicht, sagt Popppappp. Ich habe gerade an Autodesigns gedacht, an die Art, wie sie Leitbilder für die Aggressivität, Ungleichheit und Angepasstheit in unserer Kultur abgeben.
– Wie meinst du das?
– Nehmen wir zum Beispiel VW. Was unterscheidet heutzutage einen Golf überhaupt noch von einem Scirocco? Beide sind schiefgelagerte Keile mit bösartig dreinblickenden Scheinwerfern. Beide sehen gemein, schnell und tief aus, nur einer der beiden sieht lediglich noch gemeiner, schneller und tiefer als der andere aus. Das sind Autos, die an Zebrastreifen nicht mehr anhalten. Scheiß auf die Fußgänger! Als sie aber in den 70ern auf den Markt kamen, da waren sie stramme, knackige Autos, mit großen Augen und bürgerlich! Das waren noch Autos mit einem Gewissen und geradezu guten Manieren.
– Ist doch klar, schließlich wurden beide in Turin von Giorgetto Giugiaro entworfen.
– Jawohl. Und sie hatten so etwas wie ein moralisches Rückgrat, eine Aura des Vernünftigen. Sie strahlten eine elegante Freundlichkeit aus. Ich könnte eine Kurzfassung der Geschichte vom Untergang des Abendlandes in sieben Kapitel vorlegen: Der VW-Golf in sieben Anläufen.
– Leg los, sagt der Minotaurus, und lehnt sich zurück, als wolle er sich auf einen gemütlichen Fernsehabend vorbereiten.
– Der Modernismus der ersten Generation zeigte sich im kecken, symmetrischen Seitenprofil.
– In der Schule habe ich dieses Profil unentwegt vor mich hingekritzelt, gibt der Minotaurus zu.
– War das nicht wunderschön? Das wollte idealerweise ein Oktogon sein: Eine Schachtel für Menschen und Güter. Das war ein achteckiger Käfer. Frisch sah das aus, verantwortlich, fast schon sozialistisch.
– In Japan gibt es immer noch eine Unmenge Autos, die so aussehen: kistenförmig, großäugig, ökonomisch, possierlich. Aufrecht stehen sie da oder flitzen auf den winzigen Straßen herum. Man nennt sie Kei-Cars. Die sind sogar steuerlich begünstigt.
– Japan ist dem Egoismus des Westens zum Teil entkommen. Aber warte – ich war erst bei der ersten Generation. 1983 folgt dann die zweite. Zu diesem Zeitpunkt haben die Neoliberalen selbstverständlich schon die Bühne betreten. Ungleichheit wird als erstrebenswerte Strategie etabliert: „Schaffung von Anreizen“ nennt man das. Dem Golf werden dickere Stoßstangen verpasst, er bekommt ein etwas längeres Chassis und eckigere Scheinwerfer. Er versucht größer auszusehen, wie ein Tier, wenn es angegriffen wird.
– In den 80ern war man ja auch die Beute, wenn man nicht gerade ein Raubtier war.
– Ganz genau. Das Auto versucht auszusehen wie ein Raubtier. Unterhalb der Fassade aber – wie ein Hippie mit Vokuhila – ist es immer noch ein 70er-Jahre Modell mit den Werten der 70er-Jahre. 1993 wird der VW Golf III relaunched. Mittlerweile ist der erste Golf-Krieg zu Ende gegangen und die Sowjetunion zusammengebrochen. Der Achsstand ist jetzt noch weiter geworden, die Fenster erhalten diesen schiefgestellten Look, was dem Auto eine keilförmige Aggressivität mit stechendem Blick verleiht. Beim Modell V dann, das nach den Terroranschlägen vom 11. September auf den Markt kommt und Benzinvorräte schluckt, die durch den Zweiten Golfkrieg gesichert wurden, wird diese Schiefstellung extrem: Das Rückfenster für die Mitfahrer ist jetzt bloß noch eine Andeutung. Die Motorhaube ist länger, die Frontscheinwerfer blicken finster.
– Wie die Augen einer Schlange, die im Begriff steht, zuzustoßen.
– Wie die Augen einer Schlange, die im Begriff steht, zuzustoßen – ganz genau. Der VW Golf VII ist dann nur mehr ein kreischender Totenschädel, eine heranrasende Grimasse des Bösen, eine Stahlfaust, die alles niederbügelt, was sich ihr in den Weg stellt. Beim Scirocco ist es genauso, nur da ist die Sache noch wutentbrannter.
– Jetzt hast du mich echt traurig gemacht. Mit diesem Untergang des Abendlandes.
Die beiden Männer drehen sich um und schlafen dann ein.
Beim Frühstück erwähnt der Feige Minotaurus beiläufig, dass er den Precog Myth schon einmal in einem Pub gesehen habe. Die beiden Männer putzen gerade ihre Zähne, weshalb sich die Anekdote durch das Gespritze von Pfefferminzzahnpaste im Raum verteilt.
– Wo?
– In einem Pub am Ende der Broughton Street in Edinburgh. Den Namen habe ich vergessen. Der Falklandkrieg war gerade ausgebrochen und Thatcher hatte ihrer „Eingreiftruppe“ befohlen, sich in den Südatlantik zu begeben. Myth war ganz aufgeregt aufgesprungen, hielt sein Pint fest in der Hand und guckte sich die Nachrichten an, die gerade im Fernsehen liefen.
– Hast du Hallo gesagt?
– Er wirkte so ganz und gar gefesselt und glühend, da wollte ich ihn nicht stören. Außerdem umgab den Mann so eine Art Anti-Empathie-Kraftfeld. Das war ein bisschen wie bei Lou Reed. Was wäre, wenn er mich voller Verachtung angestarrt hätte? Einfach nichts gesagt? Oder geantwortet hätte, ich solle mich verpissen?
– Ein Freund von mir hat ihn auch einmal getroffen; nach einem Gig an der Leicester University, sagt Popppappp. Er stand vor einem Urinal der Studentenkneipe und ganz plötzlich pisste Myth direkt neben ihm. Mein Freund sagte „Sark!“ und Myth schaute rüber und murmelte was Unverständliches. Mein Freund schwört bis heute, dass er „molto elegante“ gesagt hätte.
– Molto elegante?
– Ja.
– Dein Freund hat sich bestimmt verhört, sagt der Minotaurus, Zahnpasta sprühend. Völlig ausgeschlossen, dass Sark E. Myth rumläuft und Fremden Komplimente auf Italienisch macht.
– Also mir kam das auch ein wenig seltsam vor. Vor allem deshalb, weil mein Freund Italiener ist.
Der Minotaurus schnaubt nur.
– Und du hast also die einzige Möglichkeit vergeigt, den Precog persönlich kennenzulernen, als er noch in einer Band seine Phrasen drosch?, sagt Popppappp. Damals hat noch keiner ahnen können, dass er der spirituelle Führer einer giftigen neuen Religion werden würde.
– Ach, ich glaube, das hat man immer schon gespürt. Es gab da was, das an Blake erinnerte, etwas Visionäres, aber auch Autoritäres. Das Wort „prophetisch“ fiel oft im Zusammenhang mit Myth, auch schon ehe er Precog Myth wurde.
– Gleich nachdem du ihn in diesem Pub gesehen hast, muss er den Song Sarky Cha-Cha geschrieben haben. Er handelt vom Falklandkrieg. Der Song beschreibt schon damals genau die Situation, in der wir uns heute befinden: gestrandet im nördlichen Syrien, ohne einen Grund, wieder nach Hause zurückzukehren.
– Da geht es doch auch um die Geschichte von Lord Haw-Haw, oder? Der amerikanisch-irische Verräter, der von Deutschland aus im Zweiten Weltkrieg Propagandasendungen für die Nazis machte. Germany calling, Germany calling!
– Es geht um verhasste Verräter, Opfer gebildeter Planlosigkeit. Wie du weißt, machten gar nicht so wenige Briten Radiosendungen für die Nazis. Sogar P. G. Wodehouse, dessen Ruf das irgendwie berlebt hat. Haw-Haw hingegen hat man gehängt.
Popppappp singt ein Kinderlied.
Dem Haw-Haw war es schnurz
Der Haw-Haw war bescheuert
Der Haw-Haw hing am Strick
Das brach ihm das Genick.
– Sarky Cha-Cha – c’est nous, seufzt der Minotaurus. Wieder mal zwei Briten in einer Bar. Hernandez Fiendish kam rüber und bot uns Jobs im Medienzentrum an. Geht klar für uns. Ich kümmere mich schon um die Feinde des Precog Myth. Und Tschüss Großbritannien, ich schuld’ dir keinen Deut!
Der Feige Minotaurus bellt die Sätze vor sich hin, und während er im Keller herumtanzt, wirkt das auch wie eine leidlich gute Imitation des Precog.
– Ausländer sein / der Schnaps ist billig / und vielleicht noch ’ne Frau / dunkel und willig
– Wohl kaum!
– Ein Wärter hält uns die Knarre an den Kopf / sagt’s uns klar und frei raus / wir kommen nie wieder nach Haus / wir kommen nie wieder nach Haus
– Das ist witzig, weil es wahr ist, sagt Popppappp.
Im Gemeinschaftsraum macht die Neuigkeit die Runde, dass es einem Kommando der Kameraden gelungen ist, die Abbey Road Studios niederzubrennen. Zuerst posierte das Kommando auf dem berühmten Zebrastreifen wie John, Paul, George und Ringo, um danach das Aufnahmestudio zu stürmen und mit Molotowcocktails um sich zu werfen, die sie in ihren Schlaghosen versteckt hatten.
– Aber hat nicht auch The Faul einmal eine Platte bei Abbey Road eingespielt?, fragt der Feige Minotaurus.
– Nicht dass ich wüsste. Die hätten das wohl kaum gemacht, wenn dem so gewesen wäre.
– Denke ich auch. Bist Du traurig, dass das passiert ist?, fragt der Minotaurus.
– Nö. Traurig ist, wenn ein Ort, der für seine echte Schöpferkraft bekannt ist, zu einer Pilgerstätte wird, zu einer sklerotischen Sehenswürdigkeit, zu einem Museum mutiert. Hast du Godards Film 1 + 1 gesehen? Das ist ein Dokumentarfilm über die Rolling Stones, die gerade eine Aufnahme in den Abbey Road Studios machen. Das ist das einzige Kulturdenkmal, das ich von diesem Ort brauche.
– Heißt der Film nicht eigentlich Sympathy for the Devil?
– Godards Titel lautete 1 + 1. Der Produzent brachte dann eine andere Fassung heraus, die den Titel Sympathy for the Devil trug. Godard geriet darüber so in Wut, dass er ihm eine knallte.
– Dann können wir ihn ja jetzt Sympathy for the Brandstifter nennen, sagt der Feige Minotaurus. Um ganz ehrlich zu sein, bin ich froh, dass der Saftladen in Flammen aufgegangen ist.
Die beiden Männer verbringen den Tag damit, eine Patrouille Longhorns zu begleiten, die das Einkaufszentrum von Al-Bab sichern. Ihre Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass das Alltagsleben – soweit dies möglich ist – in vollkommener Übereinstimmung mit den Prinzipien gelebt wird, wie sie in den Songtexten von The Faul zum Ausdruck gebracht werden. Das ist Deutungsarbeit, die durch die Kalaschnikows erleichtert wird, die die Longhorns mit sich führen.
Erster Halt ist die Werkstatt eines Sattlers. Der Mann arbeitet sich gerade durch einen Haufen von Schuhen, die man möglicherweise den Toten ausgezogen hat. Die Longhorns (es sind zwei, beide in passenden grauen Hemden mit Vatermörder-Kragen und zotteligen Überwürfen) zitieren die eine oder andere Liedzeile aus einem Faul-Song:
Auf den Teppichen des Nordens bleibt man hängen mit den Sohlen aus Leder …
– Pass bloß auf, dass das nicht auch mit deinen passiert, sagen sie zu dem Mann, der mit den Schuhen hantiert. Mach Schuhe mit rutschigen Sohlen.
Und dann beginnen sie mit einem psalmodierenden Sprechgesang, der sich mit der frohen Botschaft des Precog beschäftigt.
Für schlüpfrige Füße Schuhe, die nicht hängenbleiben!
Die Longhorns teilen Popppappp und dem Minotaurus mit, dass diese Zeile aus einer Kurzgeschichte von Lewis Padgett herrührt, in welcher ein Hausierer namens Pedott die Fähigkeit besitzt, Menschen genau das anzubieten, was sie brauchen, ehe diese selbst schon wissen, dass sie es brauchen. Als ein Gauner namens Renard versucht, Pedotts Talent für die eigenen krummen Touren in Dienst zu nehmen, zeigt ihm Pedott ein Paar Schuhe mit rutschigen Ledersohlen. Renard nimmt sie ihm weg und wird von seinem Schicksal ereilt, als er ausrutscht und unter ein Auto gerät.
– Also, wenn es um die Gesänge des Precogs geht, macht euch keiner was vor!
– Das ist unser Job. Die Longhorns wenden sich wieder dem Sattler zu.
– Schuhe haben karmisch zu sein, hochgradig moralisch. Sie sollen dazu beitragen, die Ordnung wiederherzustellen in einer Welt, die aus den Angeln geraten ist.
– Sie sollen sein wie ihr, Kameraden!, sagt der Handwerker, dem einige Zähne fehlen, mit listig diplomatischem Geschick. Er hebt seinen Hammer zum Gruß.
– Ich bezweifle, dass der auch nur einen einzigen Stich anders macht als gewohnt, merkt der Feige Minotaurus an, als sie die heiße kleine Bude verlassen. Die Longhorns hören das mit.
– Unsere Arbeit besteht in erster Linie darin, die Moral zu stärken, sagt der Fromme Jack, der größere der beiden. Wir wollen ihnen zeigen, dass die Songs wichtig sind.
Damo, der kleinere der beiden Longhorns, stimmt dem zu.
– Die Lieder des Precog dienen nicht bloß der Unterhaltung, man muss sein ganzes Leben nach ihnen ausrichten.
Als Nächstes machen sie im Hof eines Ziegelmachers Halt. Ein fetter Mann formt gerade Ziegel und legt sie für das anschließende Brennen aus.
– Kamerad!
Der Mann sieht vom Brennofen herüber.
– Kamerad!, ruft der Fromme Jack, vergiss niemals die Zeilen aus Fuckface:
Ich habe meine Klinge am Schleifstein gewetzt
Eine große habe ich gebracht aus dem Garten
Mit mir treibst du nicht länger dein Spiel, Fuckface.
Der Mann lächelt und wendet sich wieder seiner Arbeit an den Ziegelformen zu.
– Aber was bedeuten solche Zeilen nun tatsächlich für einen Ziegelmacher, ich meine, in praktischer Hinsicht?, fragt der Feige Minotaurus.
– Ist das nicht sonnenklar? Das ist keine Metapher, sondern das ist wortwörtlich gemeint, sagt der Longhorn Frommer Jack.
– Ein Ziegelbrenner muss Ziegel machen, die so spröde und trocken sind, dass man unsere Messer daran schleifen kann, fügt Longhorn Damo hinzu.
– Wahrhaftig! Der Precog hat an alles gedacht, sagt Popppappp.
– Gelobt sei sein Name, antworten die Longhorns im Chor.
Am darauffolgenden Tag erhält Popppappp seinen ersten Designauftrag für das Royale’s Turn-Magazin. Geplant ist ein Beitrag darüber, wie man die Häuser von Scum-Eiern – das sind diejenigen, die sich weigern, Foul-Fans zu werden –, oftmals gleich mit den Bewohnern gemeinsam, in Flammen aufgehen lässt.
– Wir brauchen etwas, das stark visuell wirkt, sagt Fiendish, etwas, das den Kids in die Augen springt. Die Mehrzahl derer, die Häuser niederbrennen, sind zwischen 10 und 16.
– In der Schule haben wir uns alle an Brandstiftung versucht, sagt Popppappp, dabei ging es aber gewiss nicht um eine so würdige Sache.
Die beiden Designer bekommen eine Kopie des Textes überreicht und man zeigt ihnen ihren Arbeitsplatz, an dem ein alter iMac aus dem Jahr 2006 steht (das weiße Plastikmodell mit dem geschwungenen Ständer). Auf diesem Rechner befinden sich gecrackte Kopien der Programme Photoshop, Illustrator und InDesign.
– Tut mir leid, die Software ist nicht gerade neu. Das waren die letzten Versionen, ehe dann Adobe mächtig ins Spiel kam.
– Kein Problem, im Grunde stehe ich auf Retrosoftware, sagt Popppappp.
Eine halbe Stunde später tritt Fiendish an den Bildschirm heran, um zu sehen, was Popppappp zustande gebracht hat.
– Was ist das?
– Das ist ein Pandabär, sagt Popppappp. Ich nenne ihn Branda the Panda. Ich habe das Zeichen „Panda“ auf die einfachsten Signifikanten reduziert, aber auch diese so abstrakt gestaltet wie möglich. Und hier, sehen sie – hier ist der Petroleumkanister.
– Streng genommen benutzt der erfahrene Brandstifter lieber Benzin und nicht Petroleum, sagt Fiendish. Petroleum lässt sich so schwer entzünden.
– Es brennt jedoch länger und heißer.
– Stimmt, es hinterlässt aber auch einen unverkennbaren Rückstand, der sich in den Trümmerresten nachweisen lässt.
– Wenn ihr das Gebiet hier unter Kontrolle habt, braucht ihr euch doch nicht um Untersuchungen kümmern. Es gibt ja nicht einmal einen Grund, das Wort „Brandstiftung“ zu benutzen, das auf gewisse kriminelle Vorgänge anspielt. Besser wäre es doch, von „Neugestaltung durch Feuer“ zu sprechen.
– Cordonnier hat in Language and Territory ein interessantes Kapitel darüber verfasst, schaltet sich der Feige Minotaurus ein. Er behauptet, es gäbe eine starke Beziehung zwischen lex und lexis – also zwischen den Bereichen der Rechtmäßigkeit und den Worten, die man dazu benutzt, um Dinge zu beschreiben.
– Das ist uns mehr als bewusst, sagt Fiendish. Ursprünglich hat man die Longhorns Terroristen genannt, jetzt sind sie die Polizei. Sie haben die Seiten gewechselt, ohne dass sich irgendetwas verändert hat. Hey, dieser Panda ist gut!
Danke!
– Ich mag die Verfremdungen. Jugendliche sind visuell begabt genug, um dieses Bild zu lesen, selbst wenn man alle Verzerrungen bedenkt, die du eingebracht hast. Dass du die Halbtöne, Schraffuren und die schiefgestellte Perspektive in den Vordergrund gerückt hast, werden sie auch mögen. Das ist ziemlich Meta, Popppappp. Aber warum Branda der Panda?
– Nun ja, ich dachte an „Brand“. Branding hinterlässt Zeichen, eingebrannt ins Fleisch.
– Da kriegen wir aber ein Problemchen. Der Panda verbrennt keine Leute, sondern er bringt sie um. Jemand zu branden gleicht auf gewisse Weise ja der Aufnahme in eine Stammesgemeinschaft. Es handelt sich um einen Initiationsritus, um ein Zeichen der Zugehörigkeit. Die Scum-Eier wollen wir aber nicht unter uns haben. Wir wollen sie tot, ausradiert, vom Erdboden getilgt.
– Hm. Wie wär’s mit Zerstörer, der … äh … Panda Boy, oder so?
– Niemals. Es gibt überhaupt keinen Grund, am Panda festzuhalten. Wir könnten stattdessen aber den Annihilator Alligator einführen.
Popppappps Herz wird schwach. Er wird alles verändern müssen.
– Annihilator Alligator. Großartige Idee. Ich bau’ das um.
AK-47-Geknatter schallt durch die Ruinen in den Straßen von Al-Bab. Die Sark-E-heddin gehen ihrer Arbeit nach. Für die Scum-Eier den Tod, erzwungene Konvertierung für die Schlamper.
Der Feige Minotaurus ist wach. Popppappp auch. Es ist unmöglich, zu schlafen.
– Das geht sogar nachts immer weiter, sagt Popppappp grimmig.
– Was?
– Das Morden.
Der Minotaurus ist in seltsamer Stimmung. Sein großer zotteliger Kopf sinkt ihm schläfrig auf den weibisch großen Brustkasten. Er scheint verzweifelt zu versuchen, das Beste aus der Lage zu machen.
– Wer sagt, dass Poesie nicht zu töten vermag? Selbstverständlich kann sie das. Und alles, was tötet, ist, wenn man den Gedanken verlängert, auf gewisse Weise Poesie.
Stille. Vereinzelte Schüsse. Ein paar undeutliche Schreie.
– Michail Kalaschnikow wollte Dichter werden, sagt der Minotaurus beinahe schon eingeschlafen. Tatsächlich hat er ja auch sein ganzes Leben lang gedichtet. Er hat sechs Bücher veröffentlicht.
– Das ist ohne Zweifel interessant, sich die AK-47 als eine Art mechanisches Gedicht vorzustellen, stimmt Popppappp zu. Es hat Rhythmus, die Tetrameter knattern; der trochäische Hammer von Strophe gegen Antistrophe. Wie beim gelungenen Vers verwandelt sich auch hier alles, auf das abgezielt wird, in Drama.
– Nach dem Erfolg mit der AK-47 entwickelte Kalaschnikow alle seine Waffen in Ischewsk unweit des Ural. 2013 lebte er noch. Ein paar Monate bevor er starb, publizierte die Iswestija einen Brief, den Kalaschnikow an das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche geschrieben hatte. In diesem Brief gestand der weltberühmte Waffendesigner, dass er von „seelischen Schmerzen“ geplagt werde, da er annahm, er sei für den Tod all derer verantwortlich, die durch seine Erfindung ihr Leben verloren hatten. Weißt du, was der Patriarch geantwortet hat?
– Was?
– „Falls die Waffe benutzt wird, das Mutterland zu verteidigen, unterstützt die Kirche sowohl ihre Entwickler als auch die Soldaten, die sie benutzen.“ Dann zitierte er Jesus: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“
– Ha! Absurd. Doch man sollte auch bedenken: Wer weiß, ob nicht Jesus selbst, wäre er nur etwas später geboren worden, etwas Ähnliches wie „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das AK-47“ gesagt hätte.
Der Minotaurus grunzt.
– Wie du weißt, hat Ossip Mandelstam, den man nach Sibirien verbannt hat und der ein Gedicht verfasste, worin er Stalins Finger mit dicken fetten Würmern vergleicht, gesagt: „Nur in Russland respektiert man die Poesie, Menschen werden ihretwegen getötet.“
– Starb er nicht in einem Konzentrationslager in der Nähe von Wladiwostok?, fragt Popppappp.
– Ich glaube, ja.
Unter Berücksichtigung der Umstände ist das keine fröhliche Vorstellung.
Am nächsten Tag wird den Designern aufgetragen, sich im Studio B der Fernsehanstalt einzufinden, um dort mitzuerleben, wie die Nachrichtensendung Pay All Rites hergestellt wird.
In der Eröffnungssequenz der Sendung sieht man eine spaßige Animation, bei der Scum-Eier enthauptet werden – ihre Eierköpfe werden ihnen mit Butterbrotmessern vom Kopf geschnitten. Im Hintergrund läuft der Song Pay All Rites aus dem Album Gargantua:
Kennst du nicht den Ritus / den Preis zahlen du musst
Der drohende Ton hält sich die ganze Sendung hindurch, die vom Diskursdirektor moderiert wird, einer zwielichtigen Figur mit Parka und einem schwarzen Bischofshut aus Karton auf dem Kopf, den ein Totenschädel mit gekreuzten Knochen aus grünem Flaum ziert.
– Völker Ersatz-Großbritanniens, höhnt der Diskursdirektor, die Kameraderie entbietet euch ihren Gruß! Das ist die Stimme, die ihr zu fürchten gelernt habt! Das ist die Stimme des Terrors! Auch heute wieder bringen wir euch das Unheil – vernichtendes, erniedrigendes Unheil! Reiner Wahnsinn ist’s, sich dem mächtigen Zorn des Precog entgegenstellen zu wollen. Braucht ihr noch mehr Beweise seiner unbezwingbaren Macht, die euch in die Knie zwingt? Die könnt ihr haben. Bist du bereit Agent Nummer 7?
Am linken Rand des Bildschirms öffnet sich ein kleines Fenster. Man erkennt darin einen vermummten Mann, dessen Gesicht im Schatten verborgen ist.
– Die Einrahmung des Kastens, flüstert Popppappp dem Feigen Minotaurus zu.
– Schrecklich, oder? Lindgrün …
Der Diskursdirektor erläutert eine terroristische Gräueltat.
– Das ist die Stimme des Terrors! Eine geheime Flugzeugfabrik, irgendwo im Herrschaftsbereich. Hört gut hin! Die Schreie der Sterbenden sind immer noch zu vernehmen. Das ist die Stimme des Terrors! Seid ihr auch alle da, Menschen des Deer Park? Zittert ihr in euren Gutshäusern? Höre, Agent 41, die Lunte brennt!
Eine weitere vermummte Figur, ein weiteres eingeblendetes Fenster mit einer weiteren grellen Einrahmung – diesmal in Pink. Popppappp und den Minotaurus überläuft der kalte Schauer.
– Öl, mit dem ihr eure Marine betankt, eure Panzer versorgt! Hier geht es in Flammen auf, Millionen von Litern! Das ist die Stimme des Terrors! Glaubt ihr immer noch, dass es Geheimnisse gibt, die dem Precog verborgen bleiben? Hört. Heute Abend, zehn nach sieben, bestieg ein wichtiger Popstar in einer kleinen Bahnstation unweit von Liverpool einen Zug. Jeder Bruchteil einer Sekunde wurde berücksichtigt. Die Schienen laufen auseinander. Der Zug wird durch die Luft geschleudert. Dieser Popstar wird keine Platten mehr in London aufnehmen. Das ist die Stimme des Terrors! Roastbeefs und Scum-Eier! Wartet ihr immer noch auf das Jüngste Gericht in euren verblödeten, kleinen spießigen Clubs? Es wird kommen, das verspreche ich euch. Agent 23 – nun heißt es handeln!
– Bitte nicht!, Popppappp und der Minotaurus erstarren gleichzeitig. Diesmal ist das eingefügte Fenster blau marmoriert und verfügt über einen metallisch aussehenden Schlagschatten. Der Effekt ist horrend.
– Mir stellen sich die Nackenhaare hoch.
– Mir auch.
– Wir schlagen euch zur See und wir schlagen euch zu Lande. Das ist die Stimme des Terrors! Scum-Eier des Südens, die Kameraderie wird euch Lektionen erteilen, wie es ihr beliebt! Die Welle reißt den stärksten Damm mit sich, reißt alles mit, was sich ihr widersetzen will! Auch in diesem Augenblick, wenn unsere unbezwingbaren Armeen sich ihren Einsatzzielen nähern!
– Es folgt nun eine Einstellung die zeigt, wie drei Scum-Eier-Hippies hingerichtet werden. Sie tragen orangefarbene Overalls, auf die mit Schablonen die Worte NUKEY BOERS gemalt wurden. In einer Anspielung auf die zittrige Handschrift des Myth.
– Die Overalls mag ich, merkt der Minotaurus an.
– Yep – die sind verdammt cool. Vielleicht kriegen wir auch welche? Schließlich sind wir hier angestellt.
– Haben die uns überhaupt schon gefragt?
– Noch nicht formal. Das kann aber nur mehr eine Frage der Zeit sein.
Die Musik gehorcht anscheinend einem Muster. Zuerst schält sich eine Reihe von scheinbar zufälligen Pings heraus, was an das Besetztzeichen am Telefon erinnert. Dann folgt ein unheilschwangeres Gerumpel, das anschwillt und sich in Popppapps Kopf vielversprechend rückkoppelt. Dem folgt eine Reihe von Effekten, die an Töne aus dem Weltraum oder unter Wasser erinnern. Dann kommen das Kläffen elektronischer Jagdhunde und das Schnaufen eines elektronischen Zuges, entkörperlicht und verstörend.
Popppappp ist bereits ganz aufgebracht. Die neuesten Nachrichten lauten, dass der Faul-Staat eine Bombe im MoMA in New York explodieren ließ, während dort die Vorbereitungen zur Ausstellung David Bowie Is im Gange waren.
Die Kameraden, die für den Anschlag verantwortlich waren, filmten die Explosion und projizierten die Bilder auf das Empire State Building. Die ganze Stadt wurde so Zeuge des Gemetzels, sprachlos vor Kummer. Kabuki-Kostüme, Requisiten, Manuskripte für Liedtexte, Szenenbücher, Perücken, Tagebuchseiten, Stiefel-High-Heels zischten durch die Luft in absichtlicher Anspielung ans Ende von Antonionis Zabriskie Point. Popppappp, ein begeisterter David Bowie-Fan, versucht, angesichts des Ganzen wenigstens einen Silberstreif am Horizont auszumachen.
Inzwischen verwischen sich unten in der Zelle im Keller Tonhöhen, Federn spannen sich unsicher und Stimmen wehklagen. Plötzlich wird es still, gerade lange genug, um den dramatischen Auftritt einer gewaltigen und verlangsamten Schwarzkehl-Nachtschwalbe vorzubereiten. Der riesige Vogel scheint sich in die Lüfte erheben zu wollen, und stößt dabei sinistre Schreie aus, so als wolle er monoton brummende Insekten jagen. Das geht immer so weiter, auf einem Geräuschpegel, der die Zirbeldrüse so lange quetscht, bis sie Melatonin ausschwitzt.
Solche Sachen spielte Precog Myth früher von Zeit zu Zeit von seinem Kassettenrecorder ab, um seinen Auftritten ein konsistentes Gefüge zu verpassen. Jetzt aber wird es mit gewaltiger Lautstärke in den Keller der Blackpool Polytechnic of Trade-Polytechnic eingeleitet; wahrscheinlich ist es eine Foltermethode.
Um sich vom Krawall abzulenken – und um an etwas anderes zu denken als an die Gräueltat in New York –, schreibt Popppappp mit Kreide eine Reihe scheinbar zufälliger Worte an die Wand:
SKULPTUR
HANDWERKER
VERFINSTERUNG
VEREINIGUNG
CONCORDIA
Das Spiel besteht darin, zwischen diesen Worten eine Verbindung herzustellen, damit sich daraus eine Geschichte ergibt, etwas also, das ihn aus dem sonischen Labyrinth zurück in die Welt des Wohlbekannten zu führen und ihm wieder das Gefühl der Sicherheit zu geben vermag. Popppappp geht die Sache von hinten her an:
Concordia – dieses Wort drängt sich am stärksten in den Vordergrund – ist der derzeitige Name einer Universität in Montreal, an der Popppappps Vater Mitte der 70er-Jahre einen Posten in einer Abteilung innehatte. Das Hauptgebäude auf dem Campus, eine modernistische Schachtel, wurde 1968 berühmt, als die Studenten – die gegen institutionellen Rassismus an der Universität protestierten – den Computerraum besetzten und tausende Lochkarten aus den Fenstern warfen.
Woran sich Popppappp am besten erinnern kann, wenn er an das damalige Büro seines Vaters denkt, ist der Fotokopierer. Der angehende Designer durfte dort Kollagen anfertigen (man könnte das als eine Art Vereinigung von Papieren bezeichnen), bei denen er Streifen von Paul Rands IBM-Logo von 1972 – als Popppappp 14 war, war dies sein liebstes visuelles Einzelelement – dazu benutzte, eine partielle Sonnenfinsternis auf einer sonnenähnlichen Papierscheibe zu arrangieren. Klein-Popppappp wurde auf diese Weise zu einem Appropriation-Handwerker, der für eine elektronische Papier-Skulptur verantwortlich zeichnete.
Rückblickend schämt sich Popppappp, dass seine Einstellung auf so ironische Weise konterrevolutionär geblieben war. In einem Gebäude, das die Spuren eines Traumas in sich trug, das eine gegen Computer (und damit auch gegen Autorität) gerichtete Geste getriggert hatte, war Popppappp fleißig damit beschäftigt, Rands Logo mit seinen acht bereinandergeschichteten Balkenlinien zu seinem Fetisch zu machen. Er war dabei, genau diejenige Autorität zu glorifizieren, welche die Studenten angriffen. Vor der Macht katzbuckelte er immer.
Popppappps Verehrung für das IBM-Logo war wirklich in keiner Weise subversiv. Sie rührte von seiner Obsession mit der knallroten IBM Selectric-Schreibmaschine seines Vaters. Die 1973 auf den Markt gebrachte Correcting Selectric II besaß ein neues quadratisches Design und zwei Bänder, wobei mit dem einen die Schrift aufs Papier gebracht wurde, während das andere dazu bestimmt war, Tippfehler wieder exakt herauspicken zu können. Die Tastatur war in Schwarz gehalten, der Schreibmaschinenkörper selbst in Kirschtomatenrot.
Die Selectric verfügte über ein einzigartiges System von rotierenden silbernen Kugelköpfen. Das Modell, das auf dem Schreibtisch von Popppappps Vater stand, verfügte über Kugelköpfe mit den Schrifttypen Prestige Elite (mit Serifen), Letter Gothic (serifenlos) und Script. Man wechselte sie aus, indem man einen kleinen schwarzen Clip aus Plastik oben am Kugelkopf öffnete. Wenn man eine Taste anschlug, dann wurde elektronisch ein Impuls ausgelöst, der den Golfball veranlasste, mit der Präzision einer Amsel seinen Kopf vorzustoßen, um auf das Farbband – ein Wurm aus glänzendem Karbonband – zu pecken, und zwar genau in dem Winkel, der nötig war, um den entsprechenden Buchstaben aufs Papier zu bringen.
Als Popppappp 1974, er lebte damals in einem Bungalow an einem kanadischen See, ein internes Familienmitteilungsblatt herausgab, das den Titel Popppreview trug und eine limitierte Auflage von fünf Exemplaren erreichte, dann dürfen wir getrost versichert sein, dass er dies nur deshalb tat, um eine Entschuldigung dafür zu haben, die rote IBM Selectric zu benutzen, die auf dem antiken Tisch im Wohnzimmer der Familie stand.
Wenn er Artikel über Autos, Eislaufen und Ahornsirup abtippte, dann gab das Popppappp Vorwand genug, um seinen Blick liebevoll über das von Paul Rand gestaltete Logo gleiten zu lassen, das sich diskret, aber beherrschend oben auf der Selectric befand. Wenn das Werfen von Lochkarten aus dem Fenster des Computerraums eine Unterwanderung der Macht darstellte, dann war das Sitzen vor einer IBM Selectric die Teilhabe an selbiger.
Die rote Schreibmaschine schien von Natur aus liberal zu sein, fortschrittlich und zuverlässig. Sie war dafür gestaltet worden, in einem Büro mit gelben Drehstühlen zu stehen, vielleicht in einer Bibliothek oder in einem Büro der Sozialversicherungsanstalt, an dessen Wänden Bilder von der Mondlandung hingen, in Räumen, welche die verlässlichen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit vermittelten.
– Da, das ist für dich!
Eine riesige spiralgebundene Anleitung wird in die Zelle geworfen. Ein ganz besonderes Handbuch. Es sind Designrichtlinien.
– Gibt es irgendwas zu essen? Ich muss was essen. He du, gibt es Neuigkeiten aus New York? Und wo ist mein Freund, der Feige Minotaurus?
– Deinen Freund hat man enthauptet, sagt der Wärter, während er sich entfernt. Du kannst es dir heute Abend ansehen, in der neuen Folge von Pay All Rites.
Wir kommen nie mehr nach Haus
Der Feige Minotaurus jetzt ganz bestimmt nicht mehr. Popppappp fragt sich, ob der Minotaurus seinem Schicksal am Schluss mutig gegenübergetreten ist, wenn es ihn denn tatsächlich ereilt hatte. Diesen Abend wird er es herausfinden. Sie werden ihn zwingen, sich das Video anzusehen. Es wird keine Alternative geben. Er muss den Tapferen mimen. Das machen Designer so – tapfer die Lage gestalten.
Popppappp hebt halbherzig den riesigen Spiralblock auf. Proposta per un’autoprogettazione, steht auf dem Titelblatt. Der Verfasser ist Enzo Mari. Eine Sammlung von Plänen für einfache Einrichtungsgegenstände. Er lässt den Band wieder auf den Boden zurückfallen. Wozu soll das alles gut sein? Man muss so tun, als ob man sich fügte, tun, was einem befohlen wird. Innerlich aber muss man seinen Hass sammeln. Taktik vs. Strategie. Geist vs. Pfarrer. Wenn du rauskommst, falls du rauskommst, lass ihn raus mit aller Kraft. Richte den größtmöglichen Schaden an.
So zu sterben, da draußen in der Wüste. Ein Kopf samt seinem Inhalt verschwendet.
Im Goldenen Zeitalter trägt die Sonne das Gesicht eines Smiley. Nicht alles, was hochsteigt, kommt auch wieder runter. Die Menschen sind auf dem Weg zum Mars. Auf Erden hängt der Weizen in satten Ähren.
Popppappp bringt sich selbst das Spiel auf der Klarinette bei. Als Popppappp rosafarbene, blaue und schwarze Strahlen sieht, die schräg durch den Raum fallen, greift er nach dem Instrument und spielt die immergleiche Melodie, eine trällernde, entfernt mittelalterliche Weise von unendlicher Traurigkeit. Die Noten überlagern sich, drehen und winden sich in kaskadenförmigen Pirouetten. Bedeutende Arbeit wird gewisslich folgen.
In seinem Geiste beißt Popppappp in einen warmen pinken Apfel, in einen echten Apfel. Die Schale, die in ein sandiges Maulwurfsgrau welkt, fällt lockig auf einen phthalotürkisen Porzellanteller, was einen sehr befriedigenden Kontrast schafft.
Peki D’Oslo, die gerade aus dem Park kommt, führt einen etwas ungeschickten Hofknicks en pointe aus. Sie trägt Boxx Pumps von Grishko, Oberleder himmelblau glasiert und die Sohlen an der Seite pflaumenfarben. Fingal, der Beagle, lässt ein barsches Bellen vernehmen, das seine Zustimmung zum Ausdruck bringt.
– Fingal meint: Daumen hoch!
– Pfoten.
Peki D’Oslo ist mehr als zwei Meter groß. Ihre Haut hat an bestimmten Stellen den Glanz von echtem Vinyl angenommen. Ihr Lippenstift ist im Farbton von Plastikkirschen gehalten, das heißt mit anderen Worten, er ist so rot wie echte Kirschen. In ihren Grishkos sieht sie ebenso appetitlich wie bäuerlich aus. Die Fliesen der Küche sind in einem rauchigen Schwarzton gehalten.
Design erfordert Einsamkeit.
– Hast du gearbeitet?
– Nein, sagt Popppappp.
– Möchtest du, dass ich wieder rausgehe?
– Nein.
Popppappp lächelt. Sein Lächeln ist attraktiv. Er hat ein Gesicht, dem man vertraut. Er skizziert etwas in einem linierten Block, entwirft ein Cover für das Skript eines Experimentalfilms mit dem Titel Dokumentarische Beweise der Lions Cairns Exproprierung. Seine Hüfte ist an einen Kloben solider Kiefer gelehnt und seine Ellenbogen ruhen auf einem, in einem eisernen Gestell bündig eingelassenen, Eschenholzblock.
Genaugenommen braucht ein Filmdrehbuch kein gut designtes Cover, aber schaden tut es auch nicht.
– Warst du dieser Mann in der Werbung für die Sofortbildkamera?
– Nein. Das war Icek Judko, ein nervöser Mesomorpher mit dem zotteligen Kopf eines Löwen. Er ist an den Rollstuhl gefesselt.
– Wo hast du dieses wunderbare Stück Holz her?
In der Rückblende erzählt Popppappp seiner Freundin Peki, dass er den Holzkloben in einem Laden in New York gekauft hat, der den Namen Project No. 8 trägt. Der Laden hat zwei Niederlassungen: Die eine befindet sich an der Ecke Hester und Orchard Street in der Lower East Side, die andere im Ace-Hotelkomplex unweit des Madison Square.
Project No. 8 ist die Erfindung von Elizabeth Beer und Brian Janusiak. In ihrer Niederlassung für Männerbekleidung in der Orchard Street (die sich unmittelbar unter dem Zimmer befindet, das Popppappp früher einmal gemietet hatte) haben sie an der Wand ein Kunstwerk aus Neonbuchstaben. Zu lesen steht:
ALPENSCHNEEHUHN
SAFARI
PLATEAU
BLITZ
ENTSCHLUSS
Es handelt sich um eine Wortskulptur von Olaf Nicolai. Sie misst 29,7 x 21 Zentimeter und wurde 2006 geschaffen. Sie ist die zweite in einer Serie, die den Titel Noms de Guerres trägt.
Diese Skulptur bietet Gelegenheit fürs Tagträumen, was nichts anderes bedeutet als die Flucht vorm Schmerz. Was verbindet Alpenschneehuhn, Safari, Plateau, Blitz und Entschluss? Kann man eine Geschichte bauen, welche die Worte zueinander in Verbindung setzt?
Man kann es zweifellos versuchen.
Ein Alpenschneehuhn landet eines Tages auf einem Rollfeld in Maine. Der Tag war salzig, unterbrochen nur vom Gerassel der Hummerreusen. Dr. Bourou, der berühmte Chirurg für Geschlechtsumwandlungen aus Casablanca, betrat die Szene. Er liebte Safaris, weshalb sein Outfit eher zu Afrika passte als zu Neuengland. Der Strand bildete ein schmales Plateau und war in einem Farbton gefärbt, der Pantone 13-1106 TCX nahekommt. Dieser Farbton ist auch unter dem Namen Sand Dollar bekannt, weil er Beige enthält und – beinahe unmerklich, aber doch – von einem Grün durchzogen wird, was eben an eine Banknote erinnert, die vom Sand halbbedeckt ist. Genau in dem Augenblick dann, als ein Blitz einschlägt, formuliert Dr. Bourou den ernsten Entschluss: Er würde niemals das Geheimnis preisgeben, dass die Geschlechtsumwandlung von Amanda Lear von Salvador Dalí bezahlt worden war.
Aber was soll’s? Die einzige Person, die solche Spielchen vielleicht genossen hätte, ist nicht mehr.
Dann eben zu seinem Andenken. Für den stolzen Feigen Minotaurus.
Man kann die Neonbuchstaben von Olaf Nicolais Noms de Guerres nachts betrachten, dann strahlen sie, oder bei Tageslicht, wenn sie nicht leuchten. Leuchten sie, dann glühen die Buchstaben strahlend weiß und besitzen eine grelle Aura, die an Usambaraveilchen gemahnt und an das schwachen Gebläse eines Heizstrahlers. Betrachtet man sie bei Tageslicht, dann sind sie beinahe schwarz.
Eine andere Wortreihe aus Neonbuchstaben lautet:
SCHALLPLATTE
PARAQUAT
ECHO
BESONNENHEIT
KINETISCH
Das würde sich gleich von selbst für eine etwas manierierte Detektivgeschichte anbieten, wohingegen
OFT
WIND
NIMBUS
STAR
MISTRAL
eher zu einem persiflierten Song von Eno passt oder für eine gefälschte 1963er-Gedichtskulptur von Ian Hamilton Finlay geeignet wäre.
Popppappp taucht weinend wieder aus der Rückblende auf.
Die Zeit läuft aus, tropft vom Gitterrost mit winzigem Ticken. Die wunderschönen Fossil-Uhren sind stehengeblieben. Ob Tag oder Nacht ist, erkennt Popppappp nur, indem er eine Spalte oben an einer Einfassung eines mit Sandsäcken verbarrikadierten und mit geschwärzten Scheiben verdunkelten Fensters in den Blick nimmt. Ameisen marschieren entlang des Fensters wie eine mikroskopisch kleine Armee. Popppappp kann durch den Spalt hindurchsehen, wenn er sich am abbröckelnden Sims abstützt und dabei Ameisen, in einen Hinterhalt gelockt, zerquetscht und sich für eine Sekunde hochstemmt. Er kann nichts weiter erkennen als den Himmel und die Spitze einer Palme.
Die Welt zu betrachten schmerzt in seinen Bauchmuskeln, aber Popppappp hat viel Zeit, nachzudenken, zu planen, zu komponieren und sich zu erinnern.
Popppappp entwirft in seinem Geist einen Tisch, wobei er den Anweisungen aus dem riesigen grauen Handbuch folgt. Glücklicherweise wurde er in seinem Geiste auch mit einem imaginären Metamobile-Baukasten ausgestattet, in welchem sich die benötigten, vorgebohrten Zuschnitte aus Holz befinden. In diesem Baukasten gibt es auch imaginäre Nägel, imaginären Holzleim, imaginäre Eisenklammern, imaginäre Staubbindetücher, imaginäre Handschuhe aus Latex, imaginäre Haltevorrichtungen für die Montage und eine imaginäre Wasserwaage.
Am besten wäre es ja, eine imaginäre fünfhundert Jahre alte Flusskiefer zu benutzen, die zwei Jahrhunderte lang auf dem Grund eines Flusses unter Wasser gelegen hat. Aber dieser imaginäre Holzbastelbaukasten – zusammengestellt aus den Wohnhäusern der Feinde der Mythisten und höchstwahrscheinlich blutbefleckt – kommt gleich danach.
Etwas zu entwerfen bedeutet, sich auf die Zukunft zu konzentrieren und sich dabei vorzustellen, wie durch den sorgfältigen Einsatz von Verbesserungen die Arbeit immer runder läuft, weil man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Das ist selbstverständlich eine Beschreibung des praktischen Designs. Wenn wir nur kosmetische Verbesserungen in Betracht ziehen, dann wird es mehr zu einer Frage der Mode, die sich mit dem Empfindungsvermögen verändert und dazu neigt, sich im Kreis zu drehen. Man kann nicht wirklich sagen, dass der Wandel von lachsrosa zu ziegelrot, oder der Wechsel von einem viereckig gehaltenen Logo zu einem runderen, einen „Fortschritt“ darstellt. Es ist nichts weiter als eine Änderung. Vielleicht wird für gewisse Zeit irgendetwas „frischer“ erscheinen, aber man kann das nicht als einen Schritt in Richtung eines objektiven Ideals betrachten. Bloß kosmetische Veränderungen legen ein zirkuläres Modell der Geschichte nahe; die Tretmühle, die Schleife.
Ein Windhauch ergreift die Palmblätter, Staub macht die Luft weich. Popppappp genießt es, mit seinen imaginären Bohrern, Dremels und Abdeckplanen zu arbeiten. Wenn ein Nagel zu lange ist, muss er ihn wieder heraushämmern und die Sache nochmals angehen. Das gesplitterte Holz wird geleimt und in einer Holzzwinge zusammengepresst, dass man die Stelle nicht mehr sieht.
Wenn man imaginäres polymerisiertes Tungöl für Firnis und Versiegelung kauft, sollte man immer darauf achten, ob es nicht gepanscht ist. Dem imaginären Tisch verabreiche man dann fünf Schichten, es gibt allerdings auch Experten, die zehn bis zwölf anraten.
Popppappp hat sich in die Flagge des Faul-Staats mit ihrem krakeligen Schriftzug regelrecht verliebt, wenngleich er auch keine Sekunde annimmt, dass eine Welt, die nach den Songtexten von Sark E. Myth organisiert wäre, auf irgendeine Weise besser beschaffen wäre als die, in der wir leben. Tatsächlich ist Popppappp davon überzeugt, dass eine solche Welt – die jetzt gerade Wirklichkeit wird – um einiges übler wäre.
Etwas gestalten bedeutet, dem Schwein der Geschichte etwas Lippenstift zu verpassen. Design bedeutet Perlen vor die Säue.
Schematisch gefärbte Streifen, Diamanten, Kreuze, Sterne, Grenzen, Blitze, Stoffmuster – das sollte man alles verbieten. Indem sie die Menschen erregen, wenn sie die giftigen Versprechungen von Werbung und Manifesten, Flaggen und Zigarettenschachteln zusammenbringen, tragen sie dazu bei, den Krebs zu verbreiten.
Die Regierungen müssen sich in das Flaggendesign ebenso einmischen, wie sie es beim Design der Zigarettenpackungen getan haben. Flaggen töten weit mehr Menschen als Zigaretten und verschmutzen außerdem die Luft in höherem Maße. Alle Flaggen sollten weiße Stoffvierecke sein, in deren Mitte der Name des jeweiligen Landes mit Helvetica aufgedruckt ist. Größe und Gewicht sind strikt zu reglementieren.
Willow, eine auffallend schöne junge Norwegerin, ist in Al-Bab eingetroffen. Nach ihrem Abschluss an der Kunsthochschule in London unternahm sie, in der Hoffnung, ihrem Leben etwas Aufregung und ein Ziel zu verleihen, eine gefahrvolle und riskante Reise durch das Kernland der Kameraderie. Sie ist der Überzeugung, dass die umfassende Kulturzerstörung, die derzeit stattfindet, das notwendige – das absolut notwendige – Vorspiel für ein Zeitalter noch nie dagewesener Kreativität ist.
Willow kommt mit ihrer Künstlermappe und einer kleinen Reisetasche mit Kleidung zum Blackpool Polytechnic of Trade-Polytechnic-Gebäude, weil sie gehört hat, dass die Fernsehabteilung vorhat, eine experimentelle Fernsehsendung für Kinder zu entwickeln.
Chefredakteur Fiendish ist entzückt und führt sie ohne Umschweife zu Lab 17. Das ist der Raum, in dem das experimentelle Kinderfernsehprogramm konzipiert wird. Zurzeit aber steht es leer: Es gibt keine Angestellten und Sendungen stehen ebenfalls keine an.
– Auf lange Sicht geht es der Kameraderie darum, jemanden zu finden, der mit weit hergeholten und überzeugenden Ideen bestens zu operieren versteht. Es geht um Zeug, das wir zusammenschneiden können und als soziales Mem verpacken.
Willow tut so, als könne sie Fiendish gut leiden, obwohl er nach Ziege riecht, was nur mäßig durch ein Rasierwasser überdeckt wird, das nach Senf riecht.
– Kinder sind von Natur aus Perverse, Killer, erklärt Fiendish, der an seinem tragbaren Fax-Gerät herumfummelt. Diese psychopathologische Kondition muss man anzapfen und auf rechte Weise zum Einsatz bringen. Wir wollen so bald als möglich mit Kalaschnikows bewaffnete Kinder sehen. Um ehrlich zu sein, brauchen sie dafür ohnehin nicht viel Aufmunterung.
Das Rasierwasser Fiendishs hat die Geruchsnote geändert und riecht jetzt nach kleinen Strauchknospen.
– Ich muss dich prüfen, sagt er. Erzähl mir eine Geschichte über ein Shrimp und eine Kugel Moos.
Willow schließt ihre Augen. Hm.
– Da ist ein Shrimp und eine Kugel Moos, sagt sie. Das Shrimp ist manchmal pink und gesund, manchmal ist es kränklich und erinnert an ein Skelett. Es sitzt auf dem Moos, das unten am Meeresboden hin und her gerollt wird.
– Gut, gut, sagt Fiendish. Wie stellen wir das dar? Als Marionettentheater?
– Knetanimation, sagt Willow und versucht dabei entschlossen zu wirken.
– Okay, sagt Fiendish. Ich weiß allerdings nicht, ob wir das hier professionell realisieren können. Knetmasse gibt es allerdings in Hülle und Fülle. Nun erzähl mir was von zwei Möwen, die am Flughafen leben.
– Zwei Möwen, die am Flughafen leben? In Ordnung. Eine … eine von ihnen ist ein Gimpel und ahmt Menschen nach, die versuchen zu fliegen. Die andere ist begeistert über die Details: Flugzeugscheinwerfer, Reichweite von Flugzeugen, welche Höhen diese erreichen können.
– Was ist ein Gimpel?
– Ein Gimpel ist eine übellaunige Möwe.
– Oh, ich dachte das wäre der etwas herzlose Ausdruck für Menschen mit einer körperlichen Verkrüppelung. Auch hier Knetanimation?
– Nein. Diesmal mache ich das selbst, gemeinsam mit jemand anderen. Wir tragen Origami-Vogelmasken.
– Gut. Ich muss dich Popppappp vorstellen, sagt Fiendish. Das ist unser Art Director.
– Die Kameraderie übermittelt euch ihren Gruß! Hört ihr uns, ihr fettleibigen Kerle dieser Welt? Hört ihr zu, ihr kleine unfähige Truppe von Menschlein, die ihr euch Allianz nennt? Heute! Ein neuer Nervenkitzel, ein neuer Beweis für die Unbezwingbarkeit des Precog! In unserer heutigen Sendung geht es um Design. Schaut euch um in euren Häusern, ihr faden Untermenschen des Südens! Was seht ihr? Zeugs, das ihr bei Ikea gekauft habt! Das Material von bequemer, kompromittierter Kleingeistigkeit. Die fröhliche Flatpack-Welt glänzender MDF-Platten ist dem Precog ein Gräuel, und auch euch sollte es eins sein!
Willow sieht sich die Sendung im Gemeinschaftsraum an. Popppappp, der schon auf sie aufmerksam geworden ist, steht schüchtern im Türrahmen.
– Heute Abend werden wir Zeuge werden, wie ein Designer für dieses memmenhafte Mittelmaß mit seinem Leben bezahlt. Das Blut eines feigen Schurken wird den Sand netzen. Denn – versteht es und versteht es gut – was ihr „Design“ nennt, ist etwas, das es verdient, verhöhnt, verspottet, vernichtet, kritisiert, verboten, verbrannt und des Landes verwiesen zu werden. Der Precog verspricht uns eine großartig groteske Welt voll versiffter Anomalien, Fehlleistungen und Idiosynkrasien. Flammende Fackeln, kavernöse Bingohallen, phosphorizierende Abholgroßhandelsmärkte! Mit der ganzen Macht seines postmodernen Gothic-Idioms zelebriert der Precog den Hass und die Sturheit und die Negativität. Wo soll es da noch Platz für Ikea geben? Für all die langweilig billige Vernünftigkeit?
Popppappp beobachtet aus den Augenwinkeln das Profil von Willow. Sie sieht aus wie die Summe aller Frauen, die er jemals begehrt hat. Deren beste Seiten zu einer einzigen Frau zusammengefügt. Dunkle Augen, schwarzes Haar, das in Ringellocken auf ihren Nacken herabfällt, blasse Haut mit Sommersprossen, ein grazil-feingliedriger Körper, sinnliche Lippen mit einem Schönheitsfleck, eine lange und relativ flache Nase, helle Augenbrauen … so wunderschön, so perfekt, so erotisch. Sie hat etwas an sich, das an einen Vogel erinnert.
Die metallische Stimme aus dem Fernsehgerät fährt fort:
– Bist du bereit Nummer 20? Um Mitternacht wird jede Niederlassung dieser kollaborierenden Handelskette in Schutt und Asche liegen. Schaut aus euren Fenstern, ihr, die ihr in der Nähe einer Ikea-Filiale lebt! Ihr werdet es miterleben, das versprochene Inferno, das sich bereits am Horizont abzeichnet. Schaut, Scum-Eier … und staunt, und verzweifelt! Die Longhorns halten ihre Versprechen. Eine Unmenge an Sofas, Tischen, Bürostühlen, Spiegeln, Betten, Besteck, Mülleimern, Gartenmöbel aus Pressplastik – alles vom Erdboden getilgt und vernichtet! Die Flammen schlagen höher und höher. Das blendende Licht wird überall sichtbar, selbst für die kurzsichtigen Führer eurer fassungslosen Regierungen! Merkt sie euch gut, die turmhohen Feuer, denn sie verzehren –
Fiendish blendet aus. Das Vorschauband beginnt und man nähert sich dem Slot mit den Hinrichtungen.
– Wie können wir das visuell verbessern?, fragt der Chefredakteur.
Popppappp zögert keine Sekunde.
– Man muss die Farben der eingesetzten Kästen verändern, sagt er. Und diese Typo hier muss leserlicher werden. Er zeigt dabei auf den Text, der unten im Ticker mitläuft, während man im Bild den Feigen Minotaurus sieht, der in einem orangefarbenen Overall, auf dem NUKEY BOERS geschrieben steht, im Wüstensand kniet. Ich schlage eine 33 Punkt vor, ohne Schattierung.
Schlagschatten und Schattierungen waren etwas, das dem Feigen Minotaurus – der gerade hingerichtet wird – sehr am Herzen lag.
Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. Das sind die fünf typischen Phasen, wie sie von Elisabeth Kübler-Ross bezüglich des Umgangs mit dem Sterben aufgestellt wurden, die jedoch ganz offensichtlich in ihrem Leben nicht viel Zeit mit Designern verbracht hat. Popppappps Reaktion auf den Tod des Feigen Minotaurus setzt so an:
1. Stelle sicher, dass die typografischen Wünsche deines toten Freundes auf dessen Hinrichtungsvideo respektiert werden.
2. Den Precog anrufen.
3. Unaufhörlich an Willow denken, sie könnte ihn ersetzen.
Nummer zwei ist ein blitzartiger Einfall. Wenn Fiendish in dringenden Angelegenheiten das Aufnahmestudio verlassen muss, dann ist Popppappp schon aufgefallen, dass er eine Schachtel Zigaretten, ein Feuerzeug und ein Mobiltelefon auf dem Tisch liegen lässt. Eine plötzliche Eingebung, gewiss keine gesunde, überkommt da den hinterbliebenen Designer: Warum die Sache nicht ganz nach oben tragen? Den Precog anrufen, ihn dazu bringen, zu verurteilen, was geschehen ist, diejenigen, die dafür verantwortlich sind, werden bestraft, der Erinnerung an den lieben toten Freund wird nachdrücklich zu ihrem Recht verholfen und vielleicht errichtet man dem Minotaurus sogar ein Denkmal auf dem Hauptplatz von Al-Bab?
Das alles geht Popppappp im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. Tatsächlich ist der Gedanke, mit dem Sänger persönlich Kontakt aufzunehmen, beinahe nur ein Nebengedanke. Lässig greift sich Popppappp das Telefon, wählt die Nummer der internationalen Telefonvermittlung und fragt, ob man ihn zu S. E. Myth durchstellen kann, der in Prestwich, Greater Manchester, lebt.
– Myth, Herr Sark E.?, fragt das Telefonfräulein. In 18 Graylure Gardens?
– Das müsste er sein.
Dann tritt Stille ein, es surrt, ein paar Klickgeräusche, ein Klingelton und dann eine pelzige, verzerrt und undeutliche Stimme.
– Vermaledeite Scheisse! Hasteneahnung wie spät es hier is?
Es ist eine Stimme, die klingt, als käme sie aus einem mit Kieselsteinen gefüllten Mund – aber kein Zweifel: Er ist es.
– Sark E. Myth?
– Jaaaaaaha?
Der Precog hat zweifellos was gebechert.
– Sark, du kennst mich nicht. Ich bin Popppappp.
– Popwas?
– Popppappp. Ich bin Designer und rufe aus einer Stadt im nördlichen Syrien an.
– Ich sach dir mawa, Popi. Ruf nochma an, wenn ich nich im Bett bin!
– Eine zweite Chance werde ich nicht kriegen, sagt Popppappp verzweifelt. Hör zu Sark, bitte! Einem Freund von mir haben sie gerade in deinem Namen den Kopf abgeschnitten. Nichts wird ihn von den Toten je wieder zurückholen, das ist klar, aber eine schreckliche Ungerechtigkeit ist von den Funktionären unserer Bewegung, dem Faul-Staat, begangen worden.
– Wassn fürn Faul-Staat?, knurrt Myth. The Faul, kenn ich. Groß, Mann. Voll stolz, das is meine Crew, Mann. Kenn ich. Gibt nix bessas, The Faul.
– Sark, du hast Fans, die eine neue Gesellschaftsordnung auf Grundlage deiner Texte errichten wollen, und ich bin mir nicht sicher, ob dir klar ist, dass die das falsch auslegen, was du sagst, und das Ergebnis ist ein fürchterliches Blutbad.
– Blubbaadisten? Gibtn paar übergeschnappte Faul-Fans, issmirklar, korrekt, sagt Myth. Hat abba nix mit mir zu tun, Popi, korrekt. Meine Hände sin sauber. Faul-Fans sollen machen wasse wollen, scheiss drauf, kapiert? Isn freies Land, kapiert? Mach das bloss nich an mir fest, kann ich nich brauchn.
– Du meinst, der ganze Faul-Staat hat nichts mit dir zu tun und geht dich –
Popppappps Frage wird nicht beantwortet, da Fiendish ihm das Telefon aus der Hand gerissen und die Verbindung weggedrückt hat. Sein Gesicht: knallrotes Magma eines Vulkans.
– Wen hast du angerufen? Von meinem beschissenen Telefon?
Popppappp gibt sich trotzig.
– Ich habe den Precog Myth angerufen.
– Den Precog! Du gottverdammter Lügner!
– Hab’ ich aber. Ich wurde zum Precog Sark E. Myth durchgestellt. Er klang, als ob er ein bisschen betrunken wäre. Seine Stimme war ein wenig lallig. Er hat keine Ahnung vom Faul-Staat. Er unterstützt nichts von dem, was hier vorgeht. Weder die Militäroperationen noch die Hinrichtungen, nichts davon. Er schreibt bloß Songs. Ihr benutzt Sark E. Myth nur, um ein bisschen Credibility zu kriegen.
Fiendish schiebt sein Gesicht, das einem Wasserspeier aus Kaugummi ähnelt, ganz nah an Popppappps heran.
– Meine Eier! Sag das – wenn auch nur zum Scherz – vor einem Longhorn und du bist tot.
Popppappps Flirt mit Willow entspricht den üblichen Abläufen von Internetromanzen. Was seltsam ist, denn keiner von beiden verfügt derzeit über Internetzugang. Unter den gegebenen Umständen aber versuchen sie so nahe an der Normalität zu bleiben wie eben möglich: Beide sind es gewohnt, online zu flirten, und wissen ohnehin nicht genau, wie man anders vorgehen könnte. Es bedarf nur ein wenig Übersetzungsarbeit.
Die Romanze nimmt ihren Anfang auf „Facebook“ – was in diesem Fall der Gemeinschaftsraum ist; der einzige öffentliche Raum, wo man unter kontrollierten und zwanglosen Bedingungen eine Blick auf den anderen werfen kann und sich unterhalten. Weiter geht es mit dem Austausch von Emailadressen. Das wiederum bedeutet, dass Willow Popppappp ihre Schlafzimmernummer mitteilt und er ihr die seine.
Die Schlafzimmernummern sind nicht für nächtliche Besuche gedacht – das wäre bei Weitem zu riskant –, sondern für „Selfies“. Da beide jedoch weder Smartphones noch das Internet nutzen können, sehen sich Willow und Popppappp gezwungen, ein „Meatspace“-Selfie-System einzurichten, wobei die Nachkonstruktion eines Kameraverschlusses in Form einer Tür zum Einsatz kommt, ein Objektiv in Form einer Spalte und einer dunklen Kammer auf der anderen Seite, die als eine Art Kombination von Filmfach und Studio dient.
Das angehende Liebespaar verabredet Zeiten, zu welchen sie ihre Schlafzimmertüren halboffen lassen. Für Willow ist das jeweils 20.48 Uhr, also eine Zeit, wo sie sich unauffällig von den Zusammenkünften entfernen kann, indem sie behauptet, müde zu sein. Popppappp spaziert genau dann ganz ungezwungen den Gang entlang und wirft einen Blick durch den Türspalt. Dabei erblickt er das „Selfie“, das Willow für ihn arrangiert hat; auch eine Art, dem Stillleben zu huldigen.
Unausweichlich entwickeln sich diese „Aufnahmen“ vom ersten Kennenlernen hin zur Erotik. Zu Anfang lehnt Willow nur in der Nähe des Türspalts und lächelt, aber schon in der nächsten Nacht sieht man sie für eine Sekunde mit offener Bluse. So kann man auch ihren schwarzen, durchsichtigen BH und darunter die Andeutung eines rosigen Nippels auf blasser, sommersprossiger Haut erahnen. Ausgestopfte schwarze Krähen sind um sie herum arrangiert, um eine weitere Quelle visuellen Interesses zu eröffnen und zugleich einen Hinweis auf ihr Hobby zu liefern: die Ornithologie.
Die flüchtigen Blickwechsel geraten zu einem wortlosen Dialog, jedes Mal gibt es einen geistreichen Kommentar auf das vorangegangene Bild. Willows erste beiden Posen sind Eingeständnisse der Zerbrechlichkeit, sie flehen um Sanftheit. In der ersten präsentiert sie sich als Heulsuse und hält ihre Identitätskarte hoch, die alle Industriearbeiter in Norwegen haben müssen, und in der zweiten umspielt ein Grinsen ihre Lippen.
Popppappp ist sich nicht ganz sicher, was diese Geste bedeuten soll. Tut sie das, weil sie, anders als Popppappp, freiwillig hierhergekommen ist, um für die Sache des Myth zu kämpfen? Hat sie davon erfahren, dass er im Gegensatz dazu nur gefangengenommen wurde und man ihm bloß deshalb das Leben schenkte, weil seine gestalterischen Fähigkeiten von Nutzen sind? Spürt sie, dass er sich bei ihr nur einklinken will, weil er seinen besten Freund, den hingerichteten Minotaurus, verloren hat?
Dieses anfängliche Misstrauen wird rasch von einer hormonalen Welle der Erregung hinweggeschwemmt. Als Willow am ersten Abend um 22.03 Uhr an Popppappps Tür vorbeischleicht, erblickt sie ihn in einem schummrigen Licht auf einem Stuhl „Ameise“ sitzen; er wirkt, als sei er düsterer Stimmung und nachdenklich. Am nächsten Abend steht er, ein freches Lächeln im Gesicht, aufrecht, seine Kleidung ist auf kunstvolle Weise durcheinandergebracht, und auf seiner entblößten Brust steht mit Kugelschreiber gekritzelt: ICH WILL DICH OHNE WIMPERNTUSCHE SEHEN.
In der nächsten Nacht arrangiert Willow eine Überraschung. Sie hat nicht nur ihre Panda-Wimperntusche, die ihr Markenzeichen ist, nicht aufgetragen (sie sieht wesentlich besser aus ohne), sondern sie hat auch noch eine echte Bühnenillusion für ihren bevorzugten Besucher parat: Popppappp hat den Eindruck, sie säße nackt im Bade. Der erotische Schub, den das auslöst, ist so stark, dass es ihm schwerfällt, nicht länger als die erlaubte Sekunde vor dem Spalt zu verweilen und mit der Blende nicht überzubelichten.
Unter regulären Umständen würde sich die Internetromanze zu einem Moment außerordentlicher Leidenschaft hochschwingen: Popppappp würde Spermaflecken auf eines von Willows Selfies photoshoppen und es ihr so zurücksenden. Aber hier, in Al-Bab ganz ohne Wi-Fi, sind die Liebenden gezwungen, zu improvisieren. Sie treffen sich persönlich und Popppappp spritzt Willow echten Samen ins Gesicht. Ein bisschen davon küsst er weg, den Rest tupft er mit einem Taschentuch ab, das er anstelle eines der üblichen Tools zum Entfernen benutzt.
Auf halber Strecke zwischen Mailand und Turin, an der vielbefahrenen autostrada, steht eine der erstaunlichsten Industrieanlagen Europas: Das Electronic Calculation Center, entworfen von Le Corbusier im Jahre 1963.
Popppappp, den man eingeladen hat, an diesem Ort einen Vortrag über seinen großen Helden, den Designer Ettore Sottsass, zu halten – kommt in einem schwarzen Fiat Panda Vintage 1984 an (ein Auto das er verehrt, weil die Windschutzscheibe völlig plan ist).
Auf dem schmalen bankförmigen Rücksitz des Autos liegt eine eingerollte tragbare Leinwand, so wie man sie für Diaprojektionen von Familienfotos benutzt. Popppappp hat die weiße Oberfläche der Leinwand schwarz angemalt. Auf die eine Seite hat er im Zuge der Vorbereitung seines Vortrags eigenhändig folgende Worte gemalt:
MENHIR
ZIKKURAT
STUPAS
HYDRANTEN
GASPUMPEN
Die andere Seite ist nicht beschriftet, keineswegs jedoch in orakelhafter Absicht.
Während er die Leinwand an ihrem Handgriff trägt, betritt Popppappp (der sich auf vage Weise bewusst ist, all das zu träumen) den gewaltigen Gebäudekomplex von Le Corbusier – der dem UN-Gebäude nachgebildet ist, wie man es auf einer Abbildung von M. Sasek in dessen This is New York sehen kann –, zeigt einem Sicherheitsbeamten – der aussieht, als sei er einem Tati-Film entsprungen – seinen Ausweis und erhält eine ID-Plakette: ein kleines Stück rotes Plastik, auf das mit einer Dymo-Beschriftungsmaschine in weißen Lettern sein Name gestanzt wurde.
– Verzeihen sie, sagt Popppappp, als er die Zeile auf der Plakette an seinem Jackenaufschlag liest, aber hier fehlt ein P. Es müssten eigentlich sieben sein.
Der Sicherheitsbeamte zuckt wortlos mit den Achseln und winkt ihn weiter.
– Wo finde ich die Cafeteria?
Breit lächelnd erscheint eine Führerin. Sie sieht aus wie Willow.
– Das hier ist die Haupteingangshalle, sagt Willow. Hier gibt es Restaurants, eine Bibliothek, Geschäfte in einem Zwischengeschoss und den ersten Flur mit Arbeitsräumen. Über uns liegen die zehn Stockwerke mit Forschungslaboratorien. Die Montagehalle ist ebenerdig, man kann sie allerdings nur vom Dachgeschoss aus betreten. Dort befindet sich ein Garten, der durch eine Sprinkleranlage bewässert wird. Wenn sie die Rampe hochsteigen, werden sie gleich eine Reihe von Verbindungsgängen bemerken, die sie zu den drei Umkleide- und Waschraumblöcken führen. Die gesamte Anlage wird von oben durch Tageslicht erhellt. Corbu war bei solchen Details pingelig.
– Um ordentlich zu funktionieren, lächelt Popppappp, brauche ich erstmal einen Kaffee.
Willow zeigt auf eine doppelte Glastür auf der rechten Seite.
Die Aussicht, die sich ihm bietet, nachdem die Türflügel elektrisch aufgeschwungen sind, ist außergewöhnlich. Viertausend Mitarbeiter liegen in Gruppen verteilt unter kleinen Indoor-Bäumen und unterhalten sich mit munterer Lebhaftigkeit miteinander. Die Cafeteria wird von einem komplizierten Turm bestimmt, der eine Rechenmaschine ist, die von Endgeräten aus gesteuert wird, die auf ganz entzückende Weise mit unzähligen Schaltern in den Farbtönen Kammmuschelrosa, Olivgrün und Aquamarinblau ausgerüstet sind. Neben jedem Endgerät steht eine verzinkte Kaffeestation mit einer zischenden Gaggia-Maschine. Der herb-säuerliche Duft von Kaffee steigt auf und vermischt sich mit dem keck-penetranten Geruch von Benzin.
Der Raum ist so weitläufig, dass die Mitarbeiter von Olivetti ihn mit Piaggio-Rollern durchqueren. Diese sind in Stahlblau sowie einem hellen Zitronenton lackiert. Von Zeit zu Zeit geht einer der Angestellten, der gerade eine verzwickte Frage zu lösen hat, zu dem ihm nächstgelegenen Endgeräte und tippt eine Suchanfrage ein. Die Antwort enthält er beinahe unmittelbar, ausgedruckt auf einem senffarbenen Stück Papier, von einer Rolle, die etwa den Maßen einer Kassenrolle entspricht. Der Angestellte bringt dieses Stück Papier zurück zur Gruppe, die offensichtlich zufriedene Gebärden macht, um dann das Gespräch fortzusetzen.
Popppappp nähert sich dem ersten verzinkten Tresen und bestellt einen Espresso. Während der Barmann mit weißer Kopfbedeckung die Gaggia bedient, beginnt Popppappp eine ungezwungene Konversation:
– Hier fühlt sich ja selbst ein einfacher Mann wie ich klein und nichtig!
Der Barmann lächelt, sagt aber nichts, und Popppappp knallt eine Münze auf den Tresen. Mit dem winzigen Kaffeebecher in der einen Hand und der schwarzen Leinwand unter die andere Achsel geklemmt, geht er auf das nächste Endgerät zu und tippt ein:
WAS IST DAS?
Sofort druckt die Maschine die Antwort auf senffarbenem Papier aus: „An beiden Enden dieses Abenteuers steht unerbittlich die menschliche Präsenz: der, der die Frage stellt, und der, der die Antwort erhält“.
Popppappp faltet das Stück Papier wie das in einem Glückskeks zusammen und steckt es sich in die Brusttasche.
Mit einem Mal steht der Feige Minotaurus an seiner Seite. Der Feige Minotaurus ist jetzt eine Frau. In der Tat hat er sich auf wundersame Weise zum Teil in Willow verwandelt.
– Minotaurus!, ruft Popppappp. Ich bin so froh, dich zu sehen!
– Ich heiße jetzt Willow. Und ich lebe hier, sagt der Feige Minotaurus. Es ist viel besser als da, wo wir vorher waren.
– Das ist keine Kunst!
– Kennst du die Geschichte dieses Gebäudes?
– Nicht wirklich.
– Der vielseitige Adriano Olivetti war ein Visionär, ein Poet unter den Industriebaronen und dieses Gebäude hier ist seine größte Leistung. Für Adriano war ein Unternehmen mehr als eine Einrichtung, aus der man Gewinn schlagen kann. Ein Unternehmen sollte für gesellschaftliche Gerechtigkeit sorgen, die Ästhetik vorantreiben und den gesellschaftlichen Frieden befördern. Das hier ist ein modernistisches Gelände, das mit den großen humanistischen Projekten der Philantropen des 19. Jahrhunderts konkurrieren kann.
Stolz deutet der Minotaurus mit seiner Hand auf den unermesslich sich ausdehnenden Raum.
– Alle Forschungsangestellten Olivettis leben in Schlafsälen, die sich auf dem Gelände befinden. Angebote gib es mehr als genug, aber für unsere Leute ist die Arbeit selbst der wahre Lohn. Es fasziniert sie, sich unter den Indoor-Bäumen zu versammeln, wo sie ruhig und gelassen die großen Ideen erwarten, gerade so wie Menschen auf einem Flughafen auf ihren Flug warten.
– Sehr fein, stimmt Popppappp zu. Aber verrate mir, wie es dir gelungen ist, zu fliehen. Ich dachte, man hätte dich hingerichtet!
– Ich entkam, weil ich ein anderer wurde, sagt Willow.
Als Popppappp aus seinem Traum erwacht, entsinnt er sich, dass das Centro die Calcolo Elettronico niemals gebaut worden war; da Olivetti 1964 ernste finanzielle Probleme bekam, verkauften sie ihre Elektronikabteilung an General Electric. Die amerikanische Firma ließ sofort alle Pläne für Le Corbusiers ehrgeiziges Projekt fallen. Ein Meisterwerk weniger. Der Faul-Staat konnte es sich sparen, es dem Erdboden gleichzumachen.
Der Wind heult im Keller einer karg eingerichteten und reichlich ausgeleuchteten Lagerhalle voller kurdischer Teppiche. Popppappp friert. Er hatte geträumt. Von seinem lieben toten Freund. Es ärgert ihn, aus dem Traum wieder erwacht zu sein, denn das bedeutet auch, dass er den Feigen Minotaurus nicht mehr fragen kann, welche seine Lieblingsplatte von Faul ist, vom gestalterischen Standpunkt her betrachtet selbstverständlich.
Plötzlich fällt ihm ein: Warum nicht das gleiche Gespräch mit Willow führen? Er eilt in den Gemeinschaftsraum.
– Mein liebstes Faul-Plattencover?, hätte der Feige Minotaurus fasziniert gefragt. Auch Willow drückt es in einem ähnlichen Ton aus, nur ist ihre Stimmlage etwas höher. Und ihr Gesicht ist hübscher anzusehen.
– Rein von der Designseite her, setzt Popppappp hinzu. Keine falsche Begeisterung, nur weil man findet, die Musik sei gut.
Ohne lange nachzudenken, wäre der Feige Minotaurus hier gleich angesprungen. In der Tat verhält sich Willow genauso.
– Die ganz frühen Cover sind interessant, aber nicht überzeugend. Trouble at the Shun-Fest zum Beispiel erinnert ja fast an Tolkien, mit dieser umständlich ausgeführten Baumwurzel, der verwüsteten Landschaft als Hintergrund und dieser freiwillig unmodisch gehaltenen Beschriftung, die wie von Hand gezeichnet aussieht. Das beweist, wie sehr The Faul abseitig waren, und es belegt auch einen Sinn für Bedrohlichkeit, etwas Psychedelisches, das im Bezug zu Science-Fiction- und Fantasy-Art steht.
– Die also nicht, welche dann?
– Gestalterisch betrachtet gehen die gar nicht. Die neueren aber auch nicht, wo meistens nur irgendwelche bewusst unprofessionell eingesetzte Typografie neben neoexpressionistischer Malerei gesetzt wird.
Willow spricht mit dem Brustton der Überzeugung einer Kunststudentin mit ausgezeichnetem Abschluss und einem soliden Wissen über The Faul. Im Grunde wie ein typischer Fanatiker.
– Ich kann mir schon denken, welchen du dir aussuchen wirst.
– Tatsächlich? Es ist aber auch allzu offensichtlich, nicht wahr. Die Stil–Menschen nennen es „ultimativ Faul“. Ein Style, den später Pavement geklaut haben. Es ist der Look, den Myth auf Ice-Age Extrusion Hour und Lebensroomic entwickelt hat. Das ist Stil, das Skizzenbuch eines echten Autors“.
– Müssen wir noch Merkmale dieses Stils aufzählen? Seinen Look und wie er sich anfühlt?
– Müssen wir nicht, aber lass uns die Sache ruhig durchgehen. Schmutzig–weißer Hintergrund, vielleicht eine billig wirkende, strukturierte Umgebung von ein paar Bildern von Ziegeln oder irgendwelchen Pressemitteilungen. Zufällig ausgewählte Sätze aus den Notizbüchern des Myth, in der kantigen und nach hinten geneigten Schrift, von ihm selbst mit Kugelschreiber ausgeführt, dazu dann unter Umständen noch ein paar Marotten in deutscher Sprache. Schnappschüsse von der Band auf ihrer Tour durch Island oder die USA. Eine geheimnisvoll wirkende, schematisch ausgeführte Kritzelei, die ein wenig an Heraldik gemahnt. Jede Menge Schreibmaschinentypo. Parodistische Anspielungen an Schilder, die man normalerweise sieht, wenn es um einen Ausverkauf nach Brandschaden geht. Kollagen aus billigen Untergrundmagazinen.
– Und was macht deiner Meinung nach dieses Sammelsurium zu großartigem Design?
– Ich denke, es ist der Umstand, dass, abgesehen davon, dass alle Designstandards hier unterboten werden, Myth etwas visuell Einzigartiges kreiert, was dann auf gewisse Weise auch total authentisch rüberkommt. Wenn man diese zufällig zusammengewürfelten Sätze liest, dann wird man richtiggehend von dem mitgerissen, was ihn antreibt – das ist das Kraftwerk hinter dem ganzen Ding. Zusätzlich würde ich sagen, gibt es da so einen mystischen Aspekt, den er um die Gestalt des Heiligen Narren herum aufbaut; da geht es um das ungebildete Genie, den weisen und begabten Idioten, es geht um die undurchdringliche und mit Dornen bewehrte, zugleich aber auch unheimlich kreative Welt einer bolschewistischen englischen Arbeiterklasse en voie de disparition.
Der Feige Minotaurus hätte diese naseweise, schnieke französische Wendung hier genossen, er hätte sie in ihrer schieren Falschheit noch eine Weile mit deliziöser Ironie im Raum hängen und nachtönen lassen. Genau auf dieselbe Weise, wie es auch Willow tut.
Popppappp zitiert:
– Das Prekariat von Heute wird euren Schweinefraß nicht schlucken! Prolet Kunst Kampfansage! Slang Refrain Konzentration!
– Jawoll! Das ist genauso, als ob The Faul eine Ansage machen wollen wie Public Enemy, als die meinten: „Es braucht einen Staat von Millionen, um uns aufzuhalten.“ Auch hier gilt wie überall: Das beste Design hat mit Design nichts zu tun. Die Kraft kommt von etwas viel Größerem. Hier spürt man den verdammt starken Sog von gerechtfertigtem Klassenressentiment.
– Das bringt uns jetzt in die Nähe von Derridas Argument, dass die Sprache immer auf etwas referieren muss, was außerhalb des sprachlichen Systems liegt; im selben Zug ist das aber paradoxerweise etwas, was niemals geschehen kann. Sprache, als Referenzsystem, ist daher gleichzeitig totalisierend und unabgeschlossen. Kurz gesagt ist sie überhaupt nur möglich, weil sie unmöglich ist.
Popppappp fängt an, sich etwas traurig zu fühlen. Er kann nicht vergessen, dass man dem Feigen Minotaurus den Kopf abgehackt hat, während er einen Overall tragen musste, der mit der Aufschrift NUKEY BOERS versehen war.
Ganz nebenbei, fragt Popppappp, wie lautete eigentlich dein ursprünglicher Name, ehe du hier zur Kämpferin wurdest?
– Man nannte mich den Feigen Minotaurus, sagt Willow.
Die Blackpool Polytechnic of Trade-Polytechnic ist erfüllt von Schluchzen, Geschrei, Zähneknirschen, geballt erhobenen Fäusten und Niedergeschlagenheit. Alle Faul–Flaggen wehen auf Halbmast. Der Kanal der Kameraderie sendet voraufgezeichnete Hommagen, Ansprachen, Dokumentarisches. Wie konnte das geschehen? Womit haben wir das verdient? Und was sollen wir nun tun?
Die Nachricht ist eine ungeheure. Der Precog Myth – gelobt sei sein Name – ist tot. Er starb unter mysteriösen Umständen an einem verregneten Tag in Manchester. Fremdverschulden kann ausgeschlossen werden, wie man sagt. Es hätte etwas mit seinen verrotteten Zähnen zu tun gehabt. Wenn er doch bloß Zahnseide verwendet hätte! Oder sich wenigstens die Zähne regelmäßig geputzt.
Glücklicherweise konnte ein gefährlicher Augenblick politischer Richtungslosigkeit vermieden werden. Myth hinterließ die offenbar eindeutige Anweisung, dass Nikki Danjo sein Nachfolger werden solle. Das teilt uns Danjo persönlich mit, das heißt während einer Ansprache, die zwischen den Gedenksendungen und der Live-Übertragung des Begräbnisses ausgestrahlt wird.
– Völker der Kameraderie, das ist die Stimme des Neuen Zirkusdirektors!
Danjo sieht einer Ratte nicht unähnlich, er hat eine Hakennase, vorspringende Augenwülste und eine Pustel auf seiner Stirn. Er hält eine Schriftrolle in seinen Händen und entrollt sie mit theatraler Würde, um den letzten Wunsch des Myth vorzuzeigen, der in dem für ihn typischen manischen Gekrakel abgefasst ist. Er fordert, dass Danjo als neuer Führer anerkannt werden muss und der gesamte Faul-Staat jeder Anweisung von ihm zu gehorchen habe.
– Das ist nicht der Diskursdirektor!, ruft eine Stimme.
– Pst, ertönt eine andere, das soll auch gar nicht der Diskursdirektor sein; irgendjemand hat gesagt, dass ist der Neue Zirkusdirektor.
Am Ende seiner Ansprache – die stündlich wiederholt wird – packt Danjo die Schriftrolle mit seinen scharfen kleinen Zähnen und eilt durch eine kleine Luke davon, verschwindet in einer Rauchwolke. Nichts bleibt zurück, außer dem gackernden Lachen eines Pterodactylus und ein paar dunkel-unklare Untertitel:
BESCHLEUNIGEN
WIEDERHOLEN
NEUER ZIRKUSDIREKTOR
RITTER, TEUFEL
UND TOD
Um Mitternacht wird eine weitere Sendung ausgestrahlt. Im Medienzentrum versammeln sich alle vor dem Bildschirm, um sie anzusehen. Popppappp ist auch da und erspäht Willow auf der anderen Seite des Raums. Fiendish raucht Kette.
Diesmal schreitet Danjo langsam auf einer Rauchwolke dahin und sieht mehr denn je wie eine Ratte aus. Über seine Schulter hinweg intoniert er die Anweisungen – die er wiederum von der Schriftrolle abliest –, dass der Faul-Staat umgestaltet werden soll. Im Hintergrund ertönt Musik, die verdächtig an die Sleaford Mods erinnert.
– Im Namen des Precog Myth – gelobt sei sein Name – soll unsere Kameraderie von nun an Danjo Nation heißen. Die Würfel sind gefallen! Hier spricht der Neue Zirkusdirektor!
Danjos Stimme ist schrecklich hoch und schrill. Man erkennt nicht genau, ob er sehr groß oder eher klein ist. Alles, was er sagt, klingt wie eine Parodie, sieht aus wie eine Pantomime.
Ein kurzer Dokumentarfilm über den Regenten wird gezeigt. Danjo begann seine Karriere 1984 als Tanzlehrer, Spezialgebiet Moriskentanz. In Manchester betrieb er ein kleines Tanzstudio und hatte nicht mehr als ein Dutzend Schüler, zumeist Hausfrauen. Später entwickelte er um seine Figur einen Personenkult und schrieb ein Buch, in welchem er sich als „Ratten-König“, „Wahrheit des Slang“ und als der „neue Zirkusdirektor“ in Pose setzt. Danjo ist davon überzeugt, dass die Welt von einer geheimen Gesellschaft beherrscht wird, die aus Hippies, Prog-Rockern, holländischen Energieversorgungsunternehmen, der britischen Königsfamilie und Winkel-Buddhisten besteht. Er beginnt Cartoons zu veröffentlichen, eingängige Popsongs zu komponieren und gibt das Magazin Hohepriester und Kameraden heraus.
Danjos Buch Ratten-König endet mit einer Vision, die stark von Blakes Gedicht Urizen beeinflusst ist, in welcher der Endkampf zum Armageddon wird, das im Jahr 2021 stattfinden soll. In diesem von den USA angezettelten Krieg wird die gesamte Erdbevölkerung mit Ausnahme der Anhänger von Sark E. Myth ausgelöscht. Den Kameraden fällt dann die Aufgabe zu, die Zivilisation wieder neu aufzubauen, und zwar diesmal nach Prinzipien, wie sie in den Songs von The Faul niedergelegt wurden.
Danjo wendet sich an seine Zuschauer und belehrt sie, dass sie danach streben sollen, „Mythheit“ zu erlangen, indem sie den zehn Geboten des „Rattenlebens“ Folge leisten.
1. Verhalte dich stets wie eine Ratte, und werde selbst dem Ratten-König gleich.
2. Wenn sich dir etwas in den Weg stellt, nage es durch.
3. Alles kann erreicht werden, wenn wir uns zusammenrotten.
4. Die Renaissance war die Folge der Beulenpest. Mit jeder neuen Pest werden wir auch neue Wunder vollbringen.
5. Wenn sich der Erdball erwärmt, wird der Norden hochsteigen.
6. Das ist das Ende der Zeiten; und wir sind die Ratten auf dem sinkenden Schiff.
7. Die neue Welt wird errichtet auf den getrockneten Kotklümpchen der alten.
8. Wuselt! Wuselt! Wuselt!
9. Die Klauen der Jungen sind schärfer als die Zähne der Alten.
10. Für jede Ratte, die für die Sache der Danjo Nation fällt, werden zehn neue Ratten aufstehen.
Es hat den Anschein, dass es hier weit mehr Ratten als Myth gibt.
Nachdem er seine Botschaft in die Kamera gequiekt hat, schlüpft Danjo übertrieben stolzierend durch den Rauch, er benötigt volle fünf Minuten für den Abgang. Sein Kostüm sieht fabelhaft aus und ist aus mausfarbenem Zobel gefertigt. Manchmal bleibt er stehen und dreht sich um, schneidet eine starrende Grimasse und macht merkwürdige Bewegungen mit dem Kopf, so als ob jemand versuchte, ihn zu enthaupten, dabei aber erfolglos bliebe, da sein Kopf auf einer Titaniumstange steckt, die an einer Stahlfeder angebracht ist.
Etwas mehr zufälliger Text erscheint auf dem Bildschirm.
PROKLAMATION
TRAKTAT
KWIKSAVE
NEGER NARZISSUS
FAUST W. BEARDS
Das Publikum applaudiert dem Ratten-Regenten lautstark und Nikki Danjo verschwindet in seiner Luke. Man hört mehrere Stimmen den Namen des Schauspielers rufen. Die Reaktionen scheinen aufgezeichnet zu sein, eingespeist: das Studio ist leer, man sieht bloß die Techniker.
Popppappp streichelt wie nebenbei Willows Hintern und lässt seine Hand dann tiefer gleiten, streicht über die Unterseite der Pobacken, tiefer, um dann die zwei längsten Finger seiner Hand im engen Raum zwischen ihren geschlossenen Schenkel zu vergraben. In glücklicheren Zeiten hätte er eine solche Szene getippt und dann im Internet gepostet.
Die Machtergreifung durch Nikki Danjo wird von einigen seltsamen Naturereignissen begleitet. Die Nächte werden immer länger, bis schließlich die Dunkelheit alles umfängt. Sind es die brennenden Ölquellen in der Wüste, die einen giftigen Mantel undurchdringlichen schwarzen Rauches über den Himmel gebreitet haben? Wenn dem aber so ist, wie erklärt sich dann, dass man den Spinnenkometen sehen kann?
Es ist ein gewaltiges orange und weißes Verhängnis, das sich mit einem eisigen blauen Auge zu uns herabneigt. Eine elektrisch schimmernde Gas- und Staubhülle in Form einer Mähne und mit dem langen Kometenschweif eines reizbaren Löwen. Mit einem Mal beginnt es in den kappadokischen Schloten rund um die Blackpool Polytechnic of Trade-Polytechnic wieso eigentlich hat die niemand zuvor bemerkt? – zu pochen, sie leuchten unheimlich smaragdgrün und orange auf und werfen spindeldürre Spinnenschatten.
Das Wrack eines Schiffes hängt wie die Arche auf dem Berge Ararat zwischen zwei Steinhaufen eingeklemmt. Dinosaurier beginnen wieder, in Gestalt von Stenographen und Stenotypisten, die Erde zu bevölkern. Sie stoßen heisere Schreie aus, wenn sie dem finsteren Geschäft ihrer Dactylographie nachgehen. Der Erdboden ist so heiß geworden, dass man sich nur mehr auf Stelzen fortbewegen kann; Essstäbchen, die sich die Flüchtlinge an die Füße geschnallt haben, wenn sie vor dem Spinnenkometen taumelnd die Flucht ergreifen, der jetzt wie ein brennender Papierdrachen zwischen den zerklüfteten Schloten in der Landschaft hängt, so nah, als ob man ihn an seiner Leine einholen könnte.
Die ganze Landschaft um die Blackpool Polytechnic of Trade–Polytechnic ist geschmolzen, aufgelöst in Streifen und Rinnsale, so als ob sie von einem Künstler auf LSD gemalt sei.
Das unverantwortliche Garn des Getratsches wird gesponnen. Man erzählt, Danjo hat den Autor einer Seifenoper in seinem Gefolge – einen kleinen Dinosaurierschreiber – der nie von seiner Seite weicht und aus seinen besten Sätzen Episoden entwickelt. Außerdem hätte er einen Schneider, der blöde Phrasen mit dem Dampfbügeleisen auf seine Kleidungsstücke aufbügelt. „Nebenberuflich bin ich Stuntman, hauptberuflich Perverser“, lautet zum Beispiel eine. Das am weitesten hergeholte Gerücht jedoch besagt, dass kein anderer als Nikki Danjo selbst Sark E. Myth ermordet hat, um seine Krone zu stehlen und seine Botschaft zu entstellen.
Es geschah, als der Precog Myth – es ist uns nicht mehr gestattet, an dieser Stelle das „gelobt sei sein Name“ anzufügen in einem Pub in Salford saß, ein frisch Gezapftes trank und einem Lustknaben namens Dan etwas zum Thema Heraldik erklärte, ein Gegenstand, der unvermeidlicherweise – als nämlich der Punkt der unehelichen Herkunft ins Spiel kam – den unverzeihlichen Betrug streifen musste, den sich seine Ex-Frau mit unzähligen, mittlerweile gefeuerten, Bandmitgliedern schuldig gemacht hatte.
– Untermenschen, merkte der Precog an, unwert, in den Straßen des Nordens zu graupeln und zu schlittern. Auf die Abraumhalde gehören die, Hügelgräber unter niemals endendem Nieselregen. Meidet sie, wie der Teufel das Weihwasser! Macht einen Bogen um sie.
Einst hätten seine harschen Worte ausgereicht, um das Schicksal dieser Verräter zu besiegeln, doch nun schallt das Geklapper der Schreibmaschinen unheilvoll in seiner Abwesenheit. Am nächsten Morgen, als man den Pub wieder öffnete, fand man Myth zusammengesackt dort, wo er gesessen hatte. Die offiziell bekanntgegebene Todesursache lautete auf fortgeschrittene Zahnkaries, doch viele zweifeln daran.
Um in den schlimmen und Besorgnis erregenden Zeiten des Spinnenkometen einschlafen zu können, versucht sich Popppappp die Episoden der Dick Van Dyke Show zu vergegenwärtigen, die er auf YouTube gesehen hat. Diese Sitcom beruhigt ihn ungemein. Wenn er sich an seine frühe Kindheit zurückerinnert, kommen ihm keine Bilder seiner eigenen Familie in den Sinn. Stattdessen sieht er Dick Van Dyke, der auf einem Schwarzweißbildschirm versucht, die platonische Idee des Familienlebens der 1960er-Jahre in Szene zu setzen.
Popppappp findet es angebracht, die Show radikal umzubesetzen. Statt Dick Van Dyke spielt John Cage den Vater. Die Rolle der Mutter übernimmt anstelle von Mary Tyler Moore die französische Künstlerin Lili Reynaud-Dewar. Das Kind bleibt unverändert Ritchie Petrie, wobei Ritchie Petrie aber irgendwie Popppappp ist.
Die Episode beginnt wie so oft damit, dass John aus dem Studio nach Hause kommt.
– Hallo Schatz, ich bin wieder zuhause!
Unglücklicherweise verstaut Lili eines von Ritchies Brettspielen oben auf einer Ablage in der Garderobe, als John die Vordertüre öffnet. Das Öffnen der Vordertür schlägt gleichzeitig die Tür zur Garderobe zu. Als John nun die Garderobentür öffnet, um seinen Mantel aufzuhängen, wundert er sich, dass er drinnen Lili vorfindet, die ihn anblitzt. Ihr Körper ist nackt und mit Make-up gleichmäßig dunkel gefärbt.
– Was machst du denn hier drin, Lili?, fragt John. Und noch dazu nackt!
– Ich habe eines von Ritchies Spielen weggeräumt, sagt Lili ausdruckslos.
– Aha. Krieg’ ich keinen Kuss? Liebling, stimmt was nicht?
Lili erklärt ihm, dass sie sich während seiner langen Abwesenheit in Nikki Danjo verliebt hat, den neuen Nachbarn.
– Erzähl weiter. Da ist noch mehr, das spüre ich.
– Liebster, ich habe ihm versprochen, dich sofort umzubringen, wenn du heimkommst. Aber jetzt, wo du hier bist, und … es sieht so aus, als brächte ich es nicht übers Herz.
– Du sentimentales Ding, du, sagt John mit bühnentauglich blitzendem Blick. Das Studiopublikum lacht.
John setzt seine Aktentasche ab, in der sich die gedruckten Notenblätter für 4'33'' und ein paar Pilze befinden, die er auf dem Nachhauseweg im Wald gesammelt hat.
– Mann, bin ich hungrig, sagt John, um das Thema zu wechseln. Ich habe ein paar wunderbare Fliegenpilze im Wald gefunden, fette rot-weiße, Liebling. Für gewöhnlich sind die zwar giftig, aber wenn man sie blanchiert, kann nichts schiefgehen. Leider hören sie dann aber auch auf, psychoaktiv zu wirken.
– Soll ich sie in den Eintopf geben, den ich gerade koche?
Lili ist wieder munter geworden. Vielleicht wird sie einer Chance gewahr, wie sie doch noch Nikkis mordlustiger Forderung nachkommen kann.
– Klar. Tu sie rein! John wühlt in der Tasche und reicht Lili dann eine Handvoll Pilze.
Der kleine Ritchie kommt hereingerannt und gibt seinem Papi einen Kuss. John hebt das Kind hoch in die Luft.
– Wie war’s in der Schule, Weltmeister?
– Nicht so toll. Ich hatte einen Streit mit Kassandra.
– Die kleine Kassandra, das Mädchen, das bei deiner Geburtstagsparty war?
– Genau die. Sie kämpft wie eine Katze.
– Ritchie, hat sie dich im Gesicht gekratzt? Komm her, lass mich das ansehen.
– Ach, das ist nichts, Papa. Wir haben gleich wieder aufgehört mit der Keilerei. Sie hat mir aber diese Nachricht für dich mitgegeben.
John setzt Ritchie ab und streicht das zerknitterte Papier, dessen Farbe sich auf dem Bildschirm eines Schwarzweißfernsehgeräts nur schlecht erkennen lässt, glatt. Lili hält mit dem Kleinhacken der Giftpilze inne.
– Was steht drin, John?
– Nun ja. Das klingt wie eine Warnung. Hier steht: „Jemand will sie töten, Herr Cage.“
– Lili legt pflichtschuldig los, indem sie die Pilze vom Schneidebrett in den Eintopf befördert. Sie vollführt ein paar Tanzschritte eines Satyrs, Messer und Brett jeweils in der linken und rechten Hand.
– Diese Kinder! Was für eine blühende Fantasie! Wenn die kleine Kassandra jetzt hier wäre, würde sie wahrscheinlich vermuten, dass ich in diesem Moment dabei bin, dich zu vergiften.
John lacht und knüllt das Papier mit der Notiz wieder zusammen.
– Wie recht du hast. Ritchie! Du machst dich jetzt an deine Hausaufgaben. Das Abendessen ist in ein paar Minuten fertig. Und merk dir eins: Egal wie rauflustig sie auch werden – Mädchen schlägt man niemals! Das sage ich auch immer deiner Mutter.
Lili setzt ein belustigtes Lächeln auf und wirft John einen gespielt tadelnden Blick zu.
– Schatz, möchtest du den Eintopf kosten?
– Hast du die Pilze blanchiert?
– Nein, habe ich nicht. Du hast doch gesagt, dass sie dann nicht mehr psychoaktiv wären.
– Gut mitgedacht, Schatz. Ein kleines High wird uns heute Abend allen wohl nicht schaden. Sag mal: Weißt du noch, wie sie in der Rigveda von dieser erstaunlichen Droge erzählen, die Soma genannt wird? Da hat Aldous Huxley die Idee mit der „Feriendroge“ in Schöne neue Welt her. Für die alten Hindus war Soma ein Gott in Form eines Pflanzengetränks. Es geht dir ins Blut und inspiriert Tanz und Dichtung und Sex. Soma kann sich in verschiedenen Formen manifestieren: Als Begräbnisstätte, als Vogel, als Stier, als Seeungeheuer, als Embryo.
– Das klingt ja wie unser Urlaub in Mexiko. Zu der Zeit hätten wir uns beinahe voneinander scheiden lassen.
John lacht über dieses Stück gemeinsamer Erinnerung.
– Gin-Tonic?
– Das wäre reizend. Ich lasse den Eintopf einfach köcheln.
Die Türglocke schrillt. Es ist Nikki Danjo, der neue Nachbar, der einer Ratte ähnelt. John verhält sich freundlich, man erkennt aber, dass er von der Nachricht Kassandras immer noch ein wenig verunsichert ist.
– Hey Nikki, wie läuft’s? Schon eingewöhnt? Ich hoffe, Ritchie stört sie nicht, wenn er mit seinem Hula-Hoop-Reifen übt.
– Ihr Sohn ist ein großartiger Junge, John. Ich habe ihn eingeladen, mit meiner antiken Schwertsammlung zu spielen, wenn er Lust dazu hat. Na und ehe man es sich versehen konnte, haben wir schon die großen Schlachten der mittelmeerischen Antike nachgestellt! Wir sind jetzt dicke Freunde.
– Das ist, ja … das ist ausgezeichnet, Nikki! Nichts könnte mich mehr freuen. Kann ich ihnen was anbieten? Wir kochen gerade Abendessen …
– Oh, ich kann nicht bleiben. Ich bin nur gekommen, um ihnen zu sagen, John, dass sie nicht auf Gerüchte hören sollten, falls ihnen welche zu Ohren kommen.
– Gerüchte? Welche Gerüchte?
– Na zum Beispiel, dass ich plane, sie umzubringen, um dann anschließend ihre Witwe zu heiraten. Kommen sie schon, John, gestehen sie mir ein bisschen Klasse zu! Wenn ich eine Affäre mit Lili hätte und die Absicht, sie zu ermorden, dann hätte ich doch wenigstens den Anstand, dies hinter ihrem Rücken zu tun!
– Cage setzt ein schmallippiges Grinsen auf, zwinkert und ruft dann lautstark: „Erwischt!“
– Sind sie sicher, dass sie nicht zum Essen bleiben wollen, Nikki?
– Ja. Seit mein Vater seine ersten beide Söhne zum Essen vorgesetzt bekam, bin ich, wie sie wissen, äußerst heikel, was meine Ernährung betrifft.
Das Studiopublikum lacht leicht nervös.
– Das kann ich verstehen, sagt John. Nacht, Nikki!
Die Tür wird geschlossen.
– Schatz, hast du das gehört?, ruft John. Nikki Danjo behauptet, man hätte seine Brüder seinem Vater als Mahlzeit vorgesetzt!
– Ach John, du weißt doch, dass Nikki eine schwere Kindheit gehabt hat, erwidert Lili Reynaud-Dewar. Ich habe darüber jede Menge gehört. Er wurde von Schäfern aufgezogen und von einer Ziege gesäugt. Deshalb bewegt er sich manchmal auch wie ein Tier.
– Das erklärt einiges, sagt John und schielt in rhetorischer Absicht.
Während Lili die Geschichte des harten Schicksals von Nikki erzählt, springt sie wie eine Mänade durchs Zimmer.
– Diese Brüder, die man kochte und seinem Vater auftischte, waren die Söhne von Nikkis Großmutter. Sein Onkel hat seinem Vater die mykenische Königswürde unrechtmäßig entrissen. Um wieder gleichzuziehen, hat der Vater dann die Frau seines Bruders verführt. Als Rache dafür wiederum wurden seine Söhne gekocht. Dann ließ das Orakel die Sache vollends entgleisen, indem es dem Vater befahl, die eigene Tochter zu vergewaltigen. Das Kind, das dieser Verbindung entsprang, ist Nikki Danjo. Er wurde von seinem Onkel aufgezogen, der keinen blassen Schimmer davon hatte, dass dieses Kind dazu bestimmt war, ihn zu töten.
– Wie hieß der Onkel von Nikki?, fragt John und setzt sich an seinen Platz am Esstisch.
– John Cage der Ältere, antwortet Lili und stellt einen Teller mit vergiftetem Eintopf vor ihm hin.
– John Cage der Ältere? Aber so hieß doch mein Vater!
– Was zu vermuten blieb.
Nachdem Cage unter schrecklichen Schmerzen, vergiftet mit seinen eigenen psychotropen Pilzen, gestorben ist, verbringen Nikki Danjo und Lili sieben glückliche Jahre miteinander. Im achten aber kehrt der unterdessen herangewachsene Ritchie, den man nun unter dem Namen Popppappp kennt, in die Wohnung zurück und erschlägt den Usurpator.
Popppappp hat jetzt sein eigenes Studio-Atelier. Es befindet sich in einem Dachhaus auf der Blackpool Polytechnic of Trade-Polytechnic, ein keramikgefliestes Nebengebäude, das unglücklicherweise auch als Toilette genutzt wird. Der Raum, links und rechts von Urinalen flankiert und mit einem klobigen, aufgebockten Tisch in der Mitte, verströmt den an Sirup erinnernden Mief von Stärkezucker, der wiederum an den Urin derjenigen erinnert, die zu viel Kuchen genascht haben. Das ist gar nicht so übel, wenn man den Geruch mit dem von frisch gemahlenem Kaffee mischt.
Chefredakteur Fiendish kommt vorbei, um zu sehen, wie Popppappp mit der Umgestaltung des Royale’s Turn-Magazins vorankommt. Man hat ihn dazu aufgefordert, vor allem der Bindung besondere Aufmerksamkeit zu schenken: Frühere Ausgaben des Magazins lagen nicht flach auf dem Tisch und mussten daher von den Abonnenten mit beiden Händen aufgehalten werden.
– Und dabei gibt es doch so viele nützliche Dinge, die ein Kamerad mit seinen Händen tun kann, während er einen motivierenden Text liest, sagt Fiendish.
Popppappp zeigt den Chefredakteur ein paar dicke Vorsatzblätter, die er für den Blindband der Ausgabe verwendet hat.
– Indem wir die Coverseiten schwerer machen, sagt er, können wir das Heft so gestalten, dass es im geöffneten Zustand flach am Tisch liegen bleibt. Das Wichtigste ist aber, die Bindung zu verbessern. Wenn nun Geld keine Rolle spielte, könnte man das als Hardcover machen. Der ganze Witz beim Hardcover ist ja, dass man den Buchblock vom Buchrücken separiert. Der Buchblock, der flach ist, wenn das Buch geschlossen ist, wölbt sich aber, wenn man es öffnet. Das ist absolut kein Problem, wenn man einen unbiegsamen Buchrücken verwendet und selbstverständlich die Bögen des Buchblocks fadenheftet. Es geht nichts über ein Hardcover.
– Hardcover ist finanziell nicht drin, sagt Fiendish. Das steht nicht zur Debatte. Wir sind jedoch absolut davon überzeugt, dass eine monatlich erscheinende Publikation flach auf einem Tisch liegen können muss, damit der Leser sie durchsehen kann, während er zum Beispiel eine behagliche Tasse Tee zwischen seinen beiden Händen hält, Knöpfe an eine paramilitärische Uniform annäht oder einen zukünftigen Märtyrer pflegt.
– Das habe ich mir bereits gedacht, sagt Popppappp. In diesem Fall müssen wir sehr genau über den Kleber nachdenken, den wir verwenden wollen. Wenn man zweiflügelige Bogen an drei Kanten beschneidet, dann können sie am Rücken genäht werden; Einzelblätter hingegen, die an allen vier Seiten beschnitten sind, brauchen einen besonders starken Leim, damit sie nicht auseinanderfallen. In den 1960er-Jahren nannte man das Klebebindung und man setzte alles daran, neue und stärkere Kleber zu entwickeln. Doch alle diese Klebstoffe zeigen nach gewisser Zeit unterschiedliche Zerfallserscheinungen.
Einige stämmige Männer haben die Toilette betreten, die zugleich auch das Studio-Atelier ist. Zuerst sieht es so aus, als wollten sie pinkeln, doch dann schieben sie einen Keil unter die Tür und schleppen einen Leichensack zum Tisch rüber.
– Manchmal, fährt Popppappp fort und versucht die Männer zu ignorieren, hält der Kleber sogar noch nach Jahrzehnten. In anderen Fällen aber wird er an verschiedenen Stellen brüchig.
Die Männer ziehen die Leiche des Feigen Minotaurus vorsichtig aus dem Sack und legen sie auf den Tisch, direkt auf Popppappps Blindbände der Magazine, die dort liegen. Sie platzieren auch den abgetrennten Kopf unweit des Halses der Leiche und gehen dann.
Fiendish tut so, als hätte er von der ganzen Angelegenheit nichts bemerkt, weshalb auch Popppappp es seinem Beispiel gleichtut.
– Grundsätzlich gibt es vier Möglichkeiten: Kaltklebung mit erhaltenem Bundsteg, also Falzklebung, Kaltklebung mit teilweiser Bundstegzerstörung, also Flexstabilklebung, Heißklebung mit teilweiser Bundstegzerstörung sowie Heißklebung und totaler Bundstegzerstörung. Falzklebung wird kaum noch genutzt, obwohl es auch heute ein paar Buchbinder geben dürfte, die diese Technik beherrschen.
Das Gesicht des Feigen Minotaurus hat einen entspannten Ausdruck. Popppappp hat gehört, man hätte ihm gesagt, seine Hinrichtung würde nur vorgetäuscht werden, damit er nicht in Panik geriete und so das Video verpfuschte.
– Wenn wir uns für die Fadenheftung entscheiden sollten, dann plädiere ich für Fadenheftung à 16 Seiten anstatt à 32 Seiten, sagt Popppappp mit bebender Stimme. Es liegt auf der Hand, dass je dünner die jeweiligen Einhänger sind, sie sich auch leichter aufblättern lassen, wenn das Buch flach auf einem Tisch liegt.
Popppappp fragt sich, ob er diesen Umstand anhand der Wirbel an der Wirbelsäule des toten Feigen Minotaurus anschaulich machen soll, entscheidet sich aber gegen ein solches Vorgehen.
Durch eine Spalte unterhalb seines Zellenfensters beginnt eine Stimme zu Popppappp zu sprechen. Zu Anfang hört er nur unverständliches Knurren und Gestöhne, aber nach zwei oder drei Nächten beginnt Popppappp sie zu verstehen.
– Bambus ist ein Material, das traditionell in der Korbherstellung verwendet wird, sagt die Stimme.
– Erzähl mir mehr, sagt Popppappp und verwindet seine Enttäuschung darüber, dass es nicht Willow ist, die vorbeigekommen ist, um ein neues Meatspace-Selfie zu betrachten.
– Bambus kann pro Tag bis zu hundert Zentimeter wachsen. Es ist eine biegsame, beanspruchbare und vielseitig verwendbare Binse, die mit modernen Materialien kombiniert werden kann und dennoch den Ansprüchen traditioneller Handwerkskunst entspricht.
– Wer bist du?, fragt Popppappp.
– Ich bin Milker White. Ich bin eine Hexe und Designberichterstatterin.
– Freut mich dich kennenzulernen, Milker. Kannst du mir mit Worten beschreiben, wie du aussiehst? Ich kann es nicht ausstehen, ins Leere zu sprechen.
– Sicher. Im gegenwärtigen Augenblick ist meine gesamte Haut zugekleistert. Es hat den Anschein, als soll das weiße Make-up auf meinem Gesicht die Tatsache verbergen, dass ich darunter tatsächlich weiß bin. Meine Brauen wurden kosmetisch chirurgisch so verändert, dass es aussieht, als hätte ich die Haare meiner Augenbrauen abrasiert. Über meiner Kahlkopfperücke trage ich ein Haarnetz. Ich bin eine Teilzeit-Miko, ein Tempelmädchen der Shintō-Religion. Meine Arbeit besteht darin, die ganze Stadt zu erleichtern. Und mit „erleichtern“ meine ich, dass man mich ficken kann. Adorno hat gesagt, dass die Totalität des Widerspruchs nichts anderes sei als die Unwahrheit der totalen Identifikation.
Es ist am Ende also doch eine Art Selfie. Sex steht auf dem Programm. Popppappp fasst nach seinem Schwanz, erschrickt aber fürchterlich, als er bemerkt, dass dort, wo ehemals seine Hand gewesen war, nun ein Klauenhuf sich befindet.
– Was ist mit mir geschehen?
– Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, sagt Milker White. Geh, schau dich an im Spiegel und dann komm wieder.
Popppappp erhebt sich mühselig und trabt zum Spiegel. Was er sieht, ist erschreckend. Sein Haar ist jetzt rau und zottelig, seine weiche Haut hartes Fell. Popppappps Schädel hat sich verlängert und seine beiden Augen sind zur Seite gerutscht. Er muss sich deshalb entscheiden, ob er sich mit dem rechten oder mit dem linken Auge betrachten will. Vorne befinden sich nun zwei gewaltige Nüstern und idiotisch schwabbelige Lippen. Wo zuvor Finger und Zehen gewesen waren, ersetzen nun Blöcke harter Verknöcherung die Enden seiner Gliedmaßen. Am Ende seines Rückgrats hängt ein Schwanz, der mit reflexartigem Gewedel versucht, Fliegen zu verscheuchen. Oben auf seinem Kopf thronen zwei Monsterohren, jedes so haarig wie ein Kartoffelsack.
Nichts von alldem stellt irgendeine positive Entwicklung dar. Der einzige Trost ist, dass zwischen Popppappps Beinen nun ein Penis hängt, der etwa dreimal so lang ist wie zuvor.
– Ich bin ein Esel, oder?, fragt Popppappp.
Die Hexe und Designberichterstatterin nickt.
– Warum?
– Das könnte eine Metapher für Blödsinnigkeit sein. Schließlich hast du deine gestalterischen Fähigkeiten in den Dienst von Ungeheuern gestellt, die deinen Freund ermordet haben, erwidert Milker White. Es könnte aber auch darin seinen Grund haben, dass der Autor dieser Geschichte an dieser Stelle ein wenig vom Goldenen Esel des Apuleius ins Spiel bringen wollte, weil er sich langsam, aber sicher zu langweilen begann. Aber diese Verwandlung ist gleichzeitig auch deine einzige Chance, aus Syrien rauszukommen.
Der Plan ist simpel: Milker White wird den Esel Popppappp durch das Zentrum der Stadt Al-Bab reiten. Dann werden sie den Weg nach Norden einschlagen und sich als Flüchtlinge ausgeben – oder vielmehr als Flüchtlingsfrau mit ihrem Esel – und werden so versuchen, die türkische Grenze zu erreichen. Wenn sie es schaffen, diese zu überqueren – viele lassen bei solch einem Versuch ihr Leben –, werden sie den Weg nach Istanbul zu Fuß zurücklegen.
– Muss ich dich den ganzen Weg bis Istanbul auf meinem Rücken tragen?
– Ja, antwortet Milker White. Und nicht nur mich, sondern auch diese Olivenölpresse.
– Warum auch noch eine Olivenölpresse?
– Ich brauche ein Alibi, sagt Milker White. Niemand würde eine Hexe und Designberichterstatterin an Kontrollpunkten und Grenzübergängen einfach so durchwinken.
Esel Popppappp ist verdutzt.
– Hättest du dir nicht ein leichteres Alibi zulegen können?
– Ich habe daran gedacht, mich als Schwertschluckerin auszugeben, aber auch Schwerter sind schwer, wie du weißt. Sie werden kein bisschen leichter, nur weil man sie schluckt.
– Das ist mir schon klar.
Die Olivenölpresse besteht aus drei massiven Eichenbalken, die mit einem Seil zusammengeschnürt sind, sowie einem Kolben mit Schraubengewinde, der durch das Loch im mittleren Balken passt.
– Vom gestalterischen Standpunkt aus betrachtet, ist das Stück hier ausgesprochen gut gelungen, sagt Milker White.
– Hör mal, wenn du eine Hexe bist und mich in einen Esel verwandeln kannst, dann kannst du diese Monstrosität doch wohl auch in ein paar dünne Zweige und einen Weinkorken verwandeln, sobald wir die Stadt verlassen haben?
– Wenn das so einfach wäre, warum würde ich dann nicht die gesamte Danjo Nation mit meinem Zauberstab hinwegfegen?, fragt Milker White.
– Keine Ahnung, warum nicht?
– Hexerei funktioniert so nicht. Es gibt einen ganzen bürokratischen Überbau bei uns, von dem die Leute nichts wissen. Um zum Beispiel für diese Mission hier die nötige Erlaubnis zu erhalten, musste ich in ein Dorf in Norwegen reisen, zwei Assistenten anstellen und als Landvermesser auftreten – nur um den Papierkram zu erledigen. Selbst die Genehmigungen, die ich jetzt habe, sind nur vorläufige. Nachdem ich abgereist war, hat man den Wirt, der mir ein Zimmer vermietet hat, dafür auspeitschen lassen.
– Das kommt mir auf deprimierende Weise bekannt vor. Klingt beinahe kafkaesk.
In Al-Bab bemerkt Popppappp, dass von den Spruchbändern die Zitate von Sark E. Myth entfernt worden waren. Milker White erzählt davon, wie sie zum ersten Mal mit Magie in Berührung gekommen ist.
– Damals war es viel einfacher. Man brauchte keinen um Erlaubnis fragen, wenn man etwas machen wollte. Man machte es einfach. Ich hatte zum Beispiel einen Freund, der mich betrogen hat. Ich machte es mir also zur Aufgabe, einen Zauberspruch zu finden, der ihn in einen Biber verwandelte.
– Warum in einen Biber?
– Weil Biber, wenn sie von Jagdhunden verfolgt werden, folgende schlaue Sache machen: Sie beißen sich kleine Stückchen aus ihrem Körper heraus und legen sie als Spur hinter sich aus. Die Hunde werden dadurch etwas verunsichert, wie du dir gewiss vorstellen kannst. Manche geben die Verfolgung ganz auf und schlingen die delikaten Brocken runter. Ein verzweifelter Biber ist sogar in der Lage, seine eigenen Hoden abzubeißen und sie als besondere Leckerbissen auszulegen. Die Hunde können dem nicht widerstehen. Der Körper eines Bibers ist ein raffiniertes Designerstück, verstehst du? Die Eier wachsen von selbst wieder nach.
– Verflucht, du willst mich auf den Arm nehmen!, sagt Popppappp. Aber vor allem verstehe ich die Verbindung zwischen deinem Ex und dem Biber nicht, zu dem du ihn gemacht hast? Gibt es da irgendeinen Zusammenhang?
– Das ist metaphorisch, sagt Milker White. Jedes Mal, wenn ich kurz davor stand herauszufinden, dass er mich betrog, tischte er mir fromme Lügen auf und schlief dann mit mir.
– Er legte also gewissermaßen Leckerbissen aus?
– Genau. Als ich erst mal den Dreh raushatte, verwandelte ich viele Leute in Tiere. Einen Konkurrenten im Olivenölgeschäft habe ich zum Beispiel in einen Frosch verwandelt und in eines seiner Ölfässer geschmissen.
– Ich dachte, das Olivenölding sei bloß ein Alibi?
– Die besten Alibis haben ein Körnchen Wahrheit als Grundlage, sagt Milker White.
– Und was passierte mit dem Frosch?
– Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, das herauszufinden. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, einen Advokaten in einen Hammel zu verwandeln und die Schwangerschaft der Frau eines anderen Liebhabers von mir auf die Dauer von acht Jahren zu verlängern. Nach diesen acht Jahren glaubten die Leute, sie sei eine Hexe, und steinigten sie.
– Du kämpfst mit harten Bandagen, erklärt Popppappp. Aber jetzt erzähl mir doch was über diese Designberichterstatterinnen-Sache. Wie bist du an die geraten?
– Das war nicht schwer. Ich habe alle anderen Designberichterstatter in Ratten verwandelt.
Esel Popppappp und Milker White großgewachsen, geisterhaft, statuenhaft, gleitend wie Groke bei den Mumins) werden an einem Kontrollpunkt angehalten und von offensichtlich Halbwüchsigen überprüft. Doch zumindest die Kalaschnikows, mit denen sie herumfuchteln, flößen Respekt ein.
Die Jungs glauben selbstverständlich, sie hätten es bei den beiden nur mit einem einzigen Menschen zu tun, und damit haben sie ja vielleicht auch gar nicht unrecht. Sie wirken ziemlich aufgekratzt und möglicherweise sind sie auch ein wenig high.
– Wo willst du hin?
– Ich muss nach Doudyan, sagt Milker White. Dort will mir der Mann meiner Kusine die Olivenölpresse abkaufen.
– Doudyan? Das ist doch ganz nah an der türkischen Grenze, oder?
– Ja. Liegt in der Nähe. Da lebt die Familie meiner Kusine.
– Ein ziemlich kleines Dorf.
– Ja.
– Sei vorsichtig. An der Grenze stehen überall türkische Truppen; die schießen immer wieder Raketen ab, um Flüchtlinge und Asylsuchende zu verschrecken.
Nachdem sie ihnen diese Warnung mit auf den Weg gegeben haben, lassen die Jungs die beiden weiterziehen.
– Gute Reise, ruft ihnen einer nach.
– Ja! Kommt gut an, sagt ein anderer.
Popppappp, der vergessen hat, dass er ein Esel ist, fragt:
– Wisst ihr was Glücklichsein bedeutet, Jungs? Ein Mann fragte einst Buddha: „Ich will die Glückseligkeit.“ Da antwortete der Buddha: „Zuerst lass fallen das Ich, das ist das Ego. Dann mach dich frei vom Wunsch, denn er steht für das Verlangen. Alles, was bleibt, ist die Glückseligkeit!“
Die Jungs schenken dem Ratschlag keinerlei Beachtung. Als sie eine kleine Wegstrecke zurückgelegt haben, sagt Milker White:
– Du hättest uns ganz schön in Schwierigkeiten bringen können. Buddhismus gilt in der Gegend hier als „Hippie-Scheiß“. Zum Glück bin ich der einzige Mensch, der dich verstehen kann. Alle anderen hören nur Eselgeschrei und Gewieher.
– Myth, Arsch und Zwirn!, sagt Popppappp, soll das etwa heißen, ich verschwende hier meinen Atem?
– Tja, also: Ja und Nein. Irgendwie dient so etwas ja einer Art Selbstdarstellung. Wo hast du diese Perle der Weisheit über die Glückseligkeit überhaupt her?
– Habe ich auf Facebook gelesen. Auf Portugiesisch. Ich spreche ein bisschen Facebook-Portugiesisch, musst du wissen.
– Nein, das tust du nicht. Ab sofort sprichst du nur noch Eselisch. Und alles, was du zu futtern bekommst, wird Heu sein.
Eine Weile ziehen sie weiter durch den trostlos hellen Staub.
– Erwartest du von mir, dass ich was sage?, fragt Esel Popppappp.
– Nein, Mr. Bond, ich erwarte von ihnen zu sterben, antwortet Milker White.
Wieder Schweigen.
– Wie lange brauchen wir noch bis zur Grenze?
– Ungefähr sechs Stunden.
– Sechs Stunden! Heiliger Myth! Wie bringen wir solange bloß die Zeit rum? Erzähl mir eine Designgeschichte, du behauptest doch, Designberichterstatterin zu sein.
– In Ordnung, sagt Milker White. Wusstest du, dass die Absturzursache des Trans World Airlines-Fluges 8000 – das Flugzeug explodierte 1996 über Long Island mit 230 Menschen an Bord – ein Kurzschluss im Kabelbaum bei den Treibstofftanks war?
– Das nennst du Designberichterstattung? Für wen hast du geschrieben?
– Für das monatlich erscheinende Magazin Flugzeugkatastrophen.
– Das ist doch kein Design-Magazin!
– Ich war bei denen aber Designredakteurin. Alle Katastrophen sind letztendlich Designprobleme.
– Okay, erzähl weiter.
– Die einzigen Elektrokabel im Treibstofftank selbst waren diejenigen, die für die Kraftstoffanzeige verantwortlich waren, und die Ingenieure von Boeing hatten sie nur mit der geringsten Niederspannung belegt. Man folgte der Annahme, dass man Treibstofftanks nur sichern kann, wenn man Kabel verlegt, die ausschließlich unter einer solchen Kleinspannung standen. Das war aber falsch: Sobald man einmal das gesamte elektrische System verkabelt hat, alle Kabel durch dieselben Leitungsröhren laufen, dabei übereinanderliegen und den Kabelbaum bilden, dann sind auch alle Kabel in einem Flugzeug potenziell mit allen anderen verbunden.
– Komm schon. Das ist was für Ingenieure, das hat nichts mit Design zu tun.
– Hier geht es, ob du es glaubst oder nicht, um die Frage des Unterschieds von gutem und schlechtem Design … eine Frage, die über Leben und Tod entscheidet.
– Echtes Design ist niemals eine Frage von Leben und Tod. Deswegen ist es ja eine so feine Sache. Politik, Religion und derlei mehr können das Leben kosten. Wenn man sich aber für diese oder jene Typo entscheidet, für diese oder jene Farbschattierung oder diese oder jene textile Oberfläche, und das dann alles anschließend kombiniert, dann ist das auf köstliche Weise belanglos. Es ist beinahe völlig ausgeschlossen, die Sache irgendwie gefährlich zu gestalten, und so gut wie nie kann es tödlich enden. Design – echtes Design – gewinnt seine Freiheit auf Kosten eines kompletten Mangels an Konsequenz.
– Du meinst also, dass du als Designer niemals tödliche Fehler machst?
– Ganz gewiss nicht, sagt Popppappp, und erzählt Milker White vom Schlagschatten, den er für die Hinrichtungsszene des Feigen Minotaurus verwendet hat.
– Und was beweist das?
– Dass ich in diesem Fall auf die Verben keinen Einfluss hatte. Ich hatte bloß Einfluss auf die Adjektive! Wie sie den Tod meines Freundes präsentierten. Und ich wusste auch, dass ihm das alles bedeuten würde. Er starb wie er lebte – als Designer.
– Hattest du nie das Bedürfnis, Verben neu zu gestalten?, fragt Milker White.
Eine gute Frage.
– Wir? Als Designer? Ändern, was die Menschen auf dieser Welt tun? Das liegt außerhalb unseres Bereichs, sagt Popppappp. Damit haben wir nichts zu tun. Wenn wir uns mit solchen Fragen beschäftigen, würde uns das einschneidend schwächen.
Popppappp hält die schwere Olivenölpresse auf seinem Rücken nicht mehr aus.
– Können wir sie nicht hier irgendwo auf einem Feld zurücklassen? Hat sie nicht schon längst ihren Zweck als Alibi erfüllt?
– Kann sein, sagt Milker White. Stellen wir sie hinter den Schuppen da drüben.
Sie stellen die Presse ab und ziehen weiter. Popppappp trottet voran, den Kopf gesenkt; Milker White geht hinter ihm, in ihren Händen das Seil, das um Popppappps Hals geschlungen ist.
– Erzähl mir mehr davon, wie es ist, Designberichterstatterin zu sein, sagt Esel Popppappp gelangweilt.
Milker White erzählt ihm, dass so gut wie jeder Designberichterstatter ein oder zwei Nutztiere hält, die er den Winter über durchfüttert und dann bei Frühjahrsauktionen an den Mann bringt. Ein Designberichterstatter bietet üblicherweise ein paar fette Tiere zum Verkauf an und verlangt für sie üblicherweise auch fette Preise.
– Das ist das neue Alibi, nicht wahr?
Milker White zieht das Seil mit einem Ruck straff an und Popppappp stürzt in den Staub und auf den Rücken.
– Wohin willst du mit dem Esel?, ertönt fragend eine Stimme.
Milker White sieht sich um. Ein heruntergekommener fetter Mann steht neben seinem dürren Begleiter. Jeder steht im Schatten des jeweils anderen. Ihr Anblick lässt im Unklaren, ob es sich bei ihnen um Freunde oder um Feinde handelt. Sie müssen Kurden sein, die in dieser Gegend allesamt Marxisten-Leninisten sind.
– Ich hoffe, ich bin dieses Biest bald los, sagt Milker White.
– Du willst es loswerden?, fragt der dünne Kurde und schielt dabei auf Popppappps Schenkel und Haxen.
– Er hat sich als ein äußerst lästiges Vieh erwiesen, erklärt Milker. Die meisten Menschen würden eine solche Schindmähre davonjagen, doch die Güte meines Herzens hindert mich daran. Deshalb bringe ich ihn auf den Markt und hoffe, einen guten Preis für ihn zu erzielen.
– Wieviel willst du?
– Ach Kamerad, diesen Fluch will ich nicht auf deine Schultern laden. Die Wahrheit ist nämlich, dass dieses Tier an venezuelanischer Pferdeenzephalitis leidet. Sein Schädel wird ihm auf die fünffache Größe anschwellen und dann einfach explodieren. Ist nur eine Frage der Zeit.
– Armes Ding. Platzen wird er? Sich aufblasen und dann in die Luft gehen? Was kann er denn überhaupt?, fragt der fettere der beiden Kurden, während er Popppappps staubiges Fell tätschelt. Kann er Wasser schleppen? Felder pflügen? Gedichte aufsagen?
Die Kurden lachen.
– Ich fürchte, alles, was er kann, ist designen.
– Er ist also für nichts zu gebrauchen, sagen die Kurden.
– Er kann Keramikfliesen mit seinem Mund auslegen und das Ergebnis sieht dann gar nicht übel aus, sagt Milker White.
– Dafür haben wir keine Verwendung, sagen die Kurden. Am besten wird sein, du verkaufst ihn an einen Türken, der besseres Weideland hat als wir hier. Wenn du ihm nichts von diesem Kopf-Aufpoppen erzählst, dann wird er denken, er kann deinen Esel mästen und auf einem der großen türkischen Märkte mit Gewinn weiterverkaufen. Wenn der Groschen fällt und das Köpfchen springt, dann bist du schon weit, weit weg.
– Das ist eine sehr gute Idee, sagt Milker White. Aber wie sollen wir es über die Grenze schaffen? Habt ihr einen Vorschlag?
– Wir können dir dabei behilflich sein, sagen die Kurden. Aber das hat seinen Preis.
– Wie heißt dein Esel?, fragt der dünnere der beiden marxistisch-leninistischen Kurden, während die vier sich auf den Eingang eines Tunnels, der unter der türkischen Grenze hindurchführt, zubewegen. Milker White hat ihnen für seine Benutzung schon 40.000 syrische Pfund gegeben.
– Er reagiert auf „Popppappp“ oder auf Esel Popppappp“.
– Vielleicht solltest du seinen Namen auf der anderen Seite der Grenze ändern, sagen die Kurden. Da er sich schließlich aufblähen und dann aufpoppen wird, verschreckt so ein Name unter Umständen mögliche Käufer.
– Guter Einwand. Allerdings buchstabiert sich sein Name anders als Pop Up, in seinem Fall sind es sieben P.
– Er scheint ohnehin ein intelligentes Tier zu sein, sagt der fette Kurde freundlich.
– Ich könnte fast schwören, dass er jedes Wort versteht, das wir sprechen, sagt der dünne Kurde.
– Selbstverständlich verstehe ich alles, was ihr sagt, sagt Popppappp mit einem hochmütigen Schnauben. Ich spreche mehrere Sprachen und habe schon überall auf der Welt gelebt. Ich habe einen Bachelorabschluss mit Auszeichnung von der Byam Shaw und ein Aufbaustudium mit Abschluss am Royal College of Art, beide in London, absolviert. Ich habe in Edinburgh, London, Athen, Montreal, Berlin, New York, Paris, Tokio und Osaka gelebt und war zeitweilig Kolumnist bei Wired und der New York Times.
Alles, was die Männer vernehmen können, ist Eselsgeschrei.
– Ich bin hocherfreut, auf Marxisten-Leninisten zu treffen, fährt Popppappp fort, denn ich war selbst einmal einer. Als Student fühlte ich mich stark zum Maoismus hingezogen. Ganz besonders beschäftigten mich Maos Gedanken über die Kultur. Lasst mich etwas aus seinem kleinen Roten Buch zitieren: „Kunstwerke, denen es an künstlerischem Wert mangelt, sind, wie fortschrittlich sie politisch auch sein mögen, kraftlos. Darum sind wir sowohl gegen Kunstwerke, die falsche politische Ansichten enthalten, als auch gegen die Tendenz des sogenannten ,Plakat- und Schlagwortstils‘, der nur richtige politische Ansichten ausdrückt, aber künstlerisch kraftlos ist.“ Mao nannte das „Zweifrontenkrieg“. Die Schlacht muss gegen kraftlosen Inhalt wie auch gegen kraftlosen Stil geführt werden. Als Designer jedoch sind wir für den Inhalt nicht verantwortlich. Das ist meistens Sache der Auftraggeber.
– Nichtsdestotrotz stehe ich den Aussagen Mao Tse-tungs nicht ganz unkritisch gegenüber, ergänzt Popppappp nachdenklich. Um die Sache gründlich darzulegen, wäre es notwendig gewesen, vier klar voneinander unterschiedene Möglichkeiten politischer Kunst zu entwickeln. Das wären dann, seinem eigenen Schema folgend, diese:
1. Kunstwerke, die sowohl stilistisch kraftlos sind wie auch politisch falsche Ansichten enthalten. Man kann sich darunter etwa Plakate vorstellen, die von visuell-unterbelichteten faschistischen Kindern gemalt werden.
2. Kunstwerke, die stilistisch kraftlos sind, jedoch gute politische Ansichten erkennen lassen. Vielleicht ein Musical über herausragende Leistungen junger Kommunisten, das in einer Aula von Schülern, die eher schlecht singen können, aufgeführt wird.
3. Kunstwerke, die stilistisch gesehen großartig sind, jedoch eine üble und rückschrittliche Politik propagieren. Hier darf man an Wagner denken, wenngleich ich persönlich ja Wagner hasse. Man sagt, seine Schwester war noch viel schlimmer als er, politisch betrachtet.
4. Kunstwerke, die stilistisch kraftvoll sind und zugleich auch eine fortschrittliche Politik zum Ausdruck bringen. Hier darf man nun an Cage denken – abgesehen davon, dass dieser bloß Anarchist war – oder an das Grafikdesign von Kazunari Hattori.
– Ist der immer so laut?, fragt der dünne Kurde.
– Nein. Ich denke, er hat Heu gefressen, das ihm nicht bekommen ist, sagt Milker White.
– In Wahrheit jedoch bin ich mir nicht im Klaren darüber, welche Politik Kazunari Hattori tatsächlich propagiert, sagt Popppappp und ignoriert diese geistlosen Kommentare. Aber ich finde seine Arbeit hervorragend. Wunderbar, wie er Gitterflächen, Diagonalen und Halbtonraster einsetzt. Habt ihr seine Katzenserie gesehen, die er zwischen 2008 und 2011 für die Heibonsha Monthly Encyclopaedia entworfen hat? Fantastisch. Eine grafische Meditation, voller Charme und Erfindungsreichtum. Er treibt das grafische Zeichen „Katze“ soweit als möglich an seine Grenze, ohne dass es sich in visueller Zusammenhanglosigkeit auflöst. Und all das unter Verwendung von nur zwei Farben.
– Wir beeilen uns lieber. Mir scheint, der Kopf des Esels fängt schon an dick zu werden, sagt der fette Kurde.
Als sie den Eingang des Tunnels erreichen ein Schlund der in einen schwarzen Felsen hineinragt und sofort Platzangst auslöst –, gibt Popppappp nicht sein Kopf, sondern sein Herz zu denken.
– Ich kann da nicht reingehen, sagt er zu Milker White.
– Hü! Hü!, sagt Milker White für die Ohren der Kurden. Dummes Vieh! Rein mit dir!
– Ich geh’ nicht. Nicht jetzt. Ich weiß, wir haben bezahlt, aber wenn diese beiden Herrn hier ehrenwerte sind, werden sie sich auch als solche erweisen, wenn wir umkehren und später wiederkommen.
– Stures Viech!, brüllt Milker White. Geh rein da! Ist doch nur zu deinem Besten!
– Nein, sagt Popppappp nachdrücklich. Wir müssen nach Al-Bab zurück und Willow holen. Ohne sie gehe ich nicht.
Selbst schon die kurze Zeit, die sie weg waren, hat ausgereicht, um die Landschaft um die Blackpool Polytechnic of Trade-Polytechnic zu verändern. Der Spinnenkomet steht nun so tief, dass er den ganzen Himmel einzunehmen scheint; Tag und Nacht sind ununterscheidbar geworden. Die spindeldürren Schlote sind zu einem gut ausgearbeiteten Korallenriff mutiert und goldschimmernde Schwärme von Vogelfischen – Vogelheringe, Vogelflundern, Vogelguppys, fliegende Wale – bewegen sich munter zwischen ihnen herum und wedeln mit ihren silbernen Schwanzflossen. Manche von ihnen besitzen traurig aufgeblähte Backen, bewegen sich völlig abwesend, nach Art von Gelehrten, und kleine Laternen hängen ihnen von der Schnauze herunter.
– Was ist hier passiert?, fragt Popppappp eine vorbeikommende Passantin. Doch da er nur Eselsprache spricht, antwortet diese ihm nicht.
– Was ist hier passiert?, wiederholt Milker White die Frage an eine zweite Frau.
– Das Ende der Zeiten ist angebrochen, sagt diese. Der Prophet Enzo Mari ist erschienen!
– Aha, das Ende der Zeiten also, wiederholt Milker White.
– Was soll das mit Enzo Mari?
– Es gibt da eine Prophezeiung, an die alle Kameraden glauben, dass dann, wenn ein falscher Regent die Macht an sich reißt, Enzo Mari erscheinen und den Faul-Staat neu begründen wird.
– Enzo Mari, der berühmte, reizbare italienische Designer?
– Ja, kein anderer als er.
– Und was passiert dann?
– Dann kehrt der Prophet zurück. Es gibt ein allgewaltiges Endspiel zwischen den Mächten des Nordens und des Südens. Ein heruntergekommen aussehender Sportreporter wird eine Reihe von Ergebnissen von der Hunderennbahn verlautbaren und dabei auch das Ende der Menschheit, so wie wir sie kennen, verkünden. Ein unehelich geborener Zahnarzt wird nach Morecamb rauffahren und sich dort in der Bucht ertränken. Der Antichrist wird sich in Gestalt einer flammenden Biker-Tätowierung über der irischen See erheben. Vier Container-Lkw, auf denen MAERSK geschrieben steht, werden auftauchen, und zwar von jeder Himmelsrichtung her. Wenn sie dann alle gleichzeitig versuchen zu wenden, wird die Figur einer sinister gekrümmten Sichel erscheinen und allen wird klar, dass der Regent ein illegitimer Bastard ist. Der Liverpudlische Greif wird über ein Fußballfeld watscheln, überall an ihm Werbeaufkleber für ALDI und Milchabfüller. Und ein Esel wird zerquetschen – …
Genau in dem Augenblick, als Milker White dies sagt, fällt ein Schatten über Popppappps Gesichtsfeld und verschwindet unter seinem linken Huf. Unfähig, den Fall dieses Schattens unter Kontrolle zu bringen, versucht Popppappp mit dem Objekt Kontakt aufzunehmen, und fühlt, wie es unter dem Gewicht, mit dem er es belastet, auf dem Kopfsteinpflaster zerquetscht wird.
– Ich glaube, ich habe gerade etwas zerquetscht, sagt er.
Milker White sieht nach.
– Es ist bloß eine Ratte. Wichtig ist einzig und allein, sich bewusst zu werden, dass diese Prophezeiungen begonnen haben, in Erfüllung zu gehen.
Die Mensa der Blackpool Polytechnic of Trade-Polytechnic sieht vollkommen anders aus. Sie ist plötzlich mit einfachen, aber dennoch interessant aussehenden Fichtenmöbeln in verschiedenen Stadien der Fertigstellung vollgestellt. Enzo Mari, der einen olivgrünen Polo-Sweater aus Wolle und Sandalen trägt, geht herum und beaufsichtigt Gruppen von Arbeitern, welche die Reststücke aus Holz zusammenhämmern. Er blickt auf, als Popppappp und Milker White eintreten.
– Ah, ein Esel, sagt Enzo Mari. Ein ehrliches Tier. Kann es auch mit seinen Händen arbeiten?
– Nein, sagt Milker White, aber es hat eben zuvor eine Ratte mit seinem Huf zerquetscht.
Enzo Mari schaut verwirrt drein.
– Eine Ratte zerquetscht, sagten sie?
– Ja, draußen auf der Straße.
– Sie wissen doch – das ist ein Teil der Prophezeiung? Ein Esel wird eine Ratte zerquetschen und diese Ratte ist der Emporkömmling von einem Regenten, Nikki Danjo.
– Sie meinen ich habe gerade den Precog gerächt, indem ich den Emporkömmling von einem Regenten zerquetscht habe?, fragt Popppappp.
Für alle im Raum gleicht die ausdruckvolle Frage nur einer Serie von Ias. Glücklicherweise hatte Enzo Marti zur selben Zeit die gleiche Idee.
– Dieser Esel hat gerade den Precog gerächt, indem er den Emporkömmling von einem Regenten zerquetscht hat, sagt er. Wie heißt er?
– Der Esel wird Popppappp genannt, sagt Milker White. Mit sieben P.
– Popppappp? Erinnert mich irgendwie an Sottsass. Mein alter Freund. Ist jetzt auch schon tot. Gut, mein lieber Popppappp, du hast dir eine Belohnung verdient. Was ist’s, was dein Herz begehrt?
– Ich begehre von ganzem Herzen, Willow zu heiraten, sagt Popppappp. Und ich möchte zum Chef der Designabteilung des Faul-Staats ernannt werden, wenn der Precog zurückkehrt.
Enzo Mari wendet sich an Milker White, die ihm übersetzen soll.
– Der Esel Popppappp will Willow heiraten und zum Chef der Designabteilung des Faul-Staats ernannt werden, wenn der Precog zurückkehrt, klärt sie auf.
– Dann soll es so geschehen, verspricht Enzo Mari. Da ich der einzige Mensch bin, der noch sturer und aufbrausender ist als der Precog selbst, kann ich versprechen, dass es so geschehen wird. Welche von ihnen ist Willow?
Willow wird gefunden und durch den Raum nach vorne geschickt. Sie trägt weiß.
– Willow, nimm Popppappps Huf in deine Hand. Gut so. Und nun sollt ihr vom Precog selbst vermählt werden. Tut es zu Ehren der Kameraderie!
– Ich bin so glücklich darüber, sei’s wie es sei, sagt Willow. Ich kenne Popppappp aus der Zeit, in der er noch ein Mensch war, und er scheint mir als Esel sogar noch hübscher.
Willow scheint diese Worte in Richtung von Popppappps verlängertem Glied zu sprechen.
Trauben von Menschen, die das zukünftige Paar beglückwünschen wollen, drängeln sich um sie. Blumengirlanden werden der Jungfer und auch dem Esel aufs Haupt gedrückt. Es wird für Selfies posiert, Victory-Zeichen blitzen allerorten auf.
Mitten in diesen Tumult hinein wankt die Gestalt eines Elf, mit verhutzeltem, affenartigem Gesicht, in den Saal.
– Wassnn hier los? Simma im Puff oda wass, Kameraden?
Die Menge verstummt augenblicklich. Es ist der Große Priester höchstpersönlich, kein anderer als Sark E. Myth.
Der First des Speisesaals scheint nun noch höher zu liegen, versteinert reckt er sich empor in Gestalt der gekrümmten, sich verkettenden revolutionären Prinzipien, verkabelt und ineinander verschlungen gleich einem Stalaktitengewölbe. Treppenfluchten enden in engen Durchgängen, an deren Seiten sich verkrustete Kuchen von giftigem Dichtungskitt abgelagert haben. Irgendwo gibt es auch einen unterirdischen See, auf dem Gondeln treiben, angefüllt mit maskierten Dämonen, die auf Violinen kein Lied über Golf und Gott spielen (und es zur selben Zeit dennoch tun). Tausende Flüsse, die aus Blutgefäßen entspringen, ergießen sich über die Wände in einem Rausch von Rot.
– Jemand sollte hier mal aufräumen, was, sagt der Precog.
Er blinzelt und wühlt in einer Plastiktüte voller Notizbücher und Mikrokassettenrecordern. Dabei leckt er beständig mit seiner Zunge über seine Zähne, bleckt sie, damit sein Zahnfleisch sichtbar wird.
– Precog Myth, sagt Enzo Mari, wirst du diese Frau und diesen Esel vereinen und in den Stand der Ehe versetzen? Der Esel hat den Emporkömmling und angemaßten Regenten Nikki Danjo zerquetscht und wir haben beschlossen, dass dies belohnt werden soll.
– Kein Blasser wasabgeht hier, abbawarumnich, bin ja kein Spielverderber – kommt her, ihr zwei.
Popppappp und Willow treten zitternd an den Precog heran.
– Wersn dein Drauseuge?
Jemand drängt sich durch die Menge.
– Das bin ich!
Es ist der Feige Minotaurus. Er trägt einen orangefarbenen Overall mit der Aufschrift NUKEY BOERS und die Fossil-Uhr mit der pinken Fassung.
– Ich dachte, du wärst tot!, keucht Popppappp, aber alle im Raum können nur das Iaen eines Esels vernehmen.
– Wir dachten, du wärst tot!, wiederholt Willow.
– Ja, wir dachten du wärst tot!, sagt Milker White.
Enzo Mari starrt nur vor sich hin.
– Computer Generated Imagery, erklärt der Feige Minotaurus.
– Du bissa Drauseuge?, fragt Myth.
– Der bin ich. Dieser Esel hier ist mein ältester Freund.
Die Stimme eines Sportreporters verliest die Fußballergebnisse im Fernsehen, der Myth grinst anzüglich, hustet und verkündet dann:
– Im Namen von St. Swithun, schwächlich am Michaelis Tag, und zum Schlussverkauf, habe ich, der ich verfolge die Gerechten und trenne die Spreu vom Weizen, habe ich, sage ich, ein gewaltiges Hühnchen zu rupfen, mit, brrrr-zzzzt, dieser ehemaligen Ratte, Austin Maxi, stecht auf das Kreuz auf der Kugel, stecht auf das Kreuz auf der Kugel, Feuer!, Feuer!, der Todes-Zahnarzt hat eine Million sich windender Seelen verkauft, gebt mir den Auftrag, chhhht, die Unter-Oberklasse, sorglos, Wasserspeier huschen an den Wänden der Unterführungen, Remix des Kriminellen, loyale Sklaven mit ner Mietkapelle, Piltdown-Menschen im Reisebus, ich sag, Piltdown-Menschen im Vauxhall-Reisebus, schnurgerade raus aus der Plattensammlung des Staates, und ich sag, ein Abgesang für den letzten Überläufer, Siega, Siega, schiebs aufn Drummer, Winter ade, Ruhm, in der tödlichen Garbe der Flamme, Krebstote Echse, dehnda-dehnda, Maxi-Siega, Vorwitwe, hiermit dann erkläre ich euch nun, Kameraden, Erdgebrumm, Kurzschluss, brummmm-bussss Herrschaftsseitenbereich, Island Saga, schwierige die, die immer noch Zappa hören, Maxell C90, ich wiederhole, hiermit erkläre ich euch, Feinde in Bondage, steuerfrei, für den Rest des Lebens zum Wohle der Regierung, zum Wohle der anderen Regierung, euch mein ich, Fans, die ihr eure Pflicht getan, euch, die ihr den Emporkömmling Ex-Ratte erschlagen habt, treue Gefolgsmänner, ich wiederhole, ich erzähle, im Namen des Faul-Staats, erkläre ich euch nun, Esel, zu Esel und Weib-ah. Du darfst nun die Braut küssen.
Konfetti, Geschrei aus voller Kehle, ein hohes Gitarrenriff schneidet in die Ohren.
Popppappp enteselt sich. Arthur Gland tritt auf.
– Gland!, ruft Popppappp, nun wieder Mensch, aus. Was tust du hier? Ich dachte du wärst der Kreuzritter Nummer Eins gegen die Demütigung?
– Nun. Ja hund nein, sagt Gland. Hich sagte dir ja schon, dass hich Geschmacksbuchhalter bin. Das hist nur hein handeres Wort für Marktforscher. Hirnwissenschaftler, wenn du möchtest. Wenn hes darum geht, Verbindungen zwischen Geschmäckern hund Märkten hausfindig zu machen, halso zwischen Produkten und Humsätzen, dann setze hich halle Hebel hin Bewegung.
– Soll das heißen, das alles hier war nur ein gigantisches Marktforschungsexperiment?
– Hauf gewisse Weise ja. Heine Serie psychiatrischer Huntersuchungen hunter Heinbeziehung von Fragen des Marktes. Wie dir klar sein dürfte, verfügten wir nur hüber wenige Daten hinsichtlich der Beziehung von „Hautentizitätswerten“ und „Designwerten“, und das, hobwohl die beiden die wichtigsten hemotiven Faktoren darstellen, die das Kaufverhalten him Großen beeinflussen.
– Ich bin wie vom Donner gerührt, sagt Popppappp. Die ganze Zeit über dachte ich, ich sei ein Esel, während ich in Wahrheit doch ein Versuchskaninchen war.
– Das geschah halles für heine gute Sache, das versichere hich dir. Das verstehst du doch: Die Leute wollen heinen Weinladen, der sowohl stylish, aber auch hautentisch ist. Der stylishe Teil der Sache wird von Kunsthochschulabsolventen wie dir hoder deinen Freunden Willow hund Minotaurus herledigt. Wir können heuch henagieren, den Hort neu zu gestalten, heine Marke wieder neu hauf den Markt zu bringen. Hier habt heuren Preis. Hihr legt keine systemfremden oder halternativen Werte auf den Tisch. Das hat diese hexperimentelle Lehrstunde trefflich bewiesen.
– Stunde? Du meinst, all das hat nur eine Stunde gedauert?
– Hin der Tat. Schau!
Gland zieht einen Vorhang zurück und Licht durchflutet mit einem Schlag den Raum. Popppappp, der sich auf dem eisernen Anstaltsbett aufrichtet, kann Quivercrop Quarry sehen, das ganze Stumble Valley überblicken und wird des azurnen Höhenzug der Clipstowe Downs dahinter gewahr.
Popppappp befindet sich in einer Wellblechhütte. Die Vorhangantenne für Kurzwellenempfang beeinträchtigt die Sicht. Arthur Gland redet sanft tadelnd auf ihn ein.
– Du bist Designer, sagt Gland. Du hast keine Vorstellung vom Leben, du machst heinfach nur, was man dir sagt. Du herneuerst das Produkt, stellst den Klienten zufrieden. Hier. Zieh dir diese Sachen han.
Gland zeigt auf eine Art Uniform, die ordentlich zusammengelegt auf einem Stuhl neben dem schmiedeeisernen Bett liegt. Sie besteht aus einem Tweedsakko in einem Farbton, der an Heidegras gemahnt, einer gestreiften Schülerkrawatte, einem grauen Hemd und einem Paar Hosen in einem etwas dunkleren Grauton, zweckmäßigen Unterhosen sowie Socken. Am Boden davor steht ein Paar glänzend gewienerte Schnürschuhe.
Popppappp zieht seinen gestreiften Pyjama aus und beginnt die Uniform anzulegen. Man hat ihn zurück ins Internat gebracht. Gland hört nicht auf zu reden.
– Die Leute wollen, dass die Dinge smart hund neu sind, haber sie wollen hauch, dass sie so bleiben, wie sie sind, stur hund sonderbar hund traditionell hund mysteriös: Hein bisschen Heraldik hoder Mythologie hauf dem Wirtshausschild. Deshalb haben wir das Hœuvre Sark He. Myths ausgewählt. Jede Menge Sturheit hund Tradition, die sich hauf heine längst verschwundene Kultur der Harbeiterklasse bezieht. Hochgradig hauthentisch, randvoll mit halb hausgesprochenen Werten des Widerstands.
– Dann gibt es den Faul-Staat in Wirklichkeit gar nicht? Alles Teil eines Marketingexperiments?
– Vielleicht gibt hes hihn, vielleicht hauch nicht. Selbst wenn her nicht hexistierte, dann gibt hes Dinge, die Hähnlichkeit mit hihm haben. Das System kann solcherlei himmer gebrauchen. Hin der Marketingpsychologie sprechen wir hier von heiner „hundisziplinierten Ergänzung“. Hein homöopathisches Gegenstück sozusagen.
– Undisziplinierte Ergänzung?
– Wenn man hin das System hein wenig Hinstabilität hinjizieren möchte, dann benötigt man dafür heine Grauzone, heinen marginalen, kaum wahrnehmbaren Hort, heine Zone, hüber die kaum jemand oder niemand berichtet; hes muss hein Hort sein, der verarmt ist, wo die Menschen hungern hund hes Haktivsten gibt, die Gräueltaten begehen, für die sich him Grunde niemand hinteressiert. Hes muss hein Hort sein, den jeder kennt, aber keiner genau. Ein Hort, den man nur hals Hölle begreift.
– Und das fokussiert den Geist des Konsumenten, nicht wahr?
– Wunderbar. Hanstatt sich Gedanken hüber hausgleichende Gerechtigkeit, Humverteilung hoder grundsätzliche Menschenrechte zu machen, beglückwünscht sich das Publikum zuhause dafür, nicht han heinem Hort wie dem Faul-Staat leben zu müssen. Mit hall den sittenstrengen Verboten, den summarischen Hinrichtungen und der Hintoleranz. Gleichzeitig herrscht haber hauch herregte Begeisterung hüber hall die Gewalt, die Hauthentizität, das Drama, die Hüberzeugungen hund die Hereignisse hin dieser Gräuelzone. Die Herausforderung für das Marktsystem besteht darin, sich him Gegensatz dazu hals heine Hart Hutopia zu präsentieren.
Popppappp ist jetzt fertig angekleidet. Gland legt ihm seine väterliche Hand auf die Schulter.
– Du wirst selbstverständlich für die Teilnahme han diesem Hexperiment hentlohnt werden. Komm, lass huns rüber zu Fuckoffee gehen; wir können dort die Nachbesprechung zu Hende bringen hund du bekommst heinen Scheck hin hangemessener Höhe.
Popppappp schafft es nicht bis zum Kaffee. Auf halbem Wege nach Quivercrop Hill deutet Popppappp auf ein kleines weißes Schild.
ABSTIEG ZUM DORF, 800 Meter Fußweg.
– Wäre es nicht besser, wenn wir das Stiegl nähmen?
– Die Worte des Designers verwirren Arthur Gland für einen Augenblick.
– Welcher Stil? Was?
– Dieser Pfad, hier, der führt zum Dorf, das da unten unter den Buchen liegt. Es wäre eine Abkürzung.
– Hokay.
Der Zauntritt führt über eine Steinmauer hinweg. Gland steigt als erster auf die andere Seite hinüber. Als Popppappp hinüberklettert, zieht er flink einen losen, mit Flechten überzogenen Stein, etwa in der Größe eines Schädels, oben aus der Mauer heraus und versteckt ihn hinter seinem Rücken.
Sie folgen einem Viehzaun hinunter zur Schraffur eines Lärchenwäldchens, an einem dunklen Gehölz von Ginster vorbei. Das Blätterdach der Buchen regt sich im leichten Wind Englands und raschelt sanft, aus der Ferne hört man etwas tönen, das ein Waldhorn sein könnte. Am Horizont lässt sich eine Andentanne ausmachen.
Als er sich sicher ist, dass sie weder vom Dorf noch von der Straße her gesehen werden können, schlägt Popppappp zu. Glands Kopf ist dem schweren Stein in keiner Hinsicht gewachsen.
– Haaaaaaargh!, sagt Arthur Gland, aber Popppappp und der Tod bringen ihn gemeinsam zum Schweigen.
Glands Schädel ist nun ein beklagenswert anzusehender Matsch rosaroter Masse, ein Haufen Etwas, das aussieht, als sei es von einem Auto überfahren worden, und von dem man nicht mehr sagen kann, was es einmal gewesen war. So liegt er da, zwischen zwei Kuhfladen. Als Popppappp auf diesen Schädel hinunterblickt, sieht er Farben und Formen, etwas, das auf sehr anziehende Weise, beinahe schon malerisch, strukturiert ist.
– Die Demütigung, murmelt er. Und:
– Das habe ich gemacht. Ein Designerstück. Vielleicht mein erstes.
Popppappp greift zu seinem iPhone. Er wird die Szenerie fotografieren, alles so gut und genau wie möglich arrangieren und das Bild Sark E. Myth zuschicken. Der Precog wird mit einem knappen „gut gemacht kamerad“ in Kleinbuchstaben antworten und den Mörder auf ein rötlich braunes Pint Bitter vom Fass einladen.
Durch den Dunst des feinen Regens wirft die Sonne einen Strahl. Eine Schwalbe schnellt vorbei und stößt wieder in den Himmel hinauf. Eine Art Regenbogen beginnt sich abzuzeichnen. Nicht alles, was hochsteigt, kommt auch wieder runter. Der Weizen hängt in satten Ähren.
Erstveröffentlichung
Fiktion, Berlin 2015
www.fiktion.cc
ISBN 978 3 95988 009 1
Projektleitung
Mathias Gatza, Ingo Niermann (Programm)
Henriette Gallus (Kommunikation)
Julia Stoff (Organisation)
Titel der Originalausgabe
Popppappp
Übersetzung aus dem Englischen
Andreas L. Hofbauer
Lektorat
Mathias Gatza
Korrektorat
Rainer Wieland
Lektorat der Originalausgabe
Alexander Scrimgeour
Design Identity
Vela Arbutina
Programmierung
Maxwell Simmer (Version House)
Das Copyright für den Text liegt beim Autor.
Fiktion wird getragen von Fiktion e.V., entwickelt in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.
Fiktion e.V., c/o Mathias Gatza, Sredzkistrasse 57, D-10405 Berlin
Vorstand
Mathias Gatza, Ingo Niermann
Vereinsregisternr. VR 32615 B beim Amtsgericht Charlottenburg (Berlin)